Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Momentaufnahmen aus dem Berliner Alltag

Mit ihrer Großstadt-Lyrik verzauberte Mascha Kaléko in den 20er und Anfang der 30er Jahre die Berliner. Sie schrieb anfangs ihre Gedichte sogar im Berliner Dialekt, obwohl sie gar keine Berlinerin war, sondern eine Zugewanderte aus dem fernen osteuropäischen Galizien. Später teilte sie dann das Los vieler Schriftsteller und floh vor den Nationalsozialisten.

Von Renate Hellwig-Unruh | 07.06.2007
    "Ich bin als Emigrantenkind geboren
    In einer kleinen, klatschbeflissenen Stadt,
    Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
    Und eine große Irrenanstalt hat.
    Mein meist gesprochenes Wort als Kind war 'nein'.
    Ich war kein einwandfreies Mutterglück:
    Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein."

    Mascha Kaléko mit Versen aus ihrem ersten Gedichtband "Das lyrische Stenogrammheft", erschienen 1933. Mit diesem Band wurde die Poetin über Nacht berühmt. Es sind Gedichte zwischen heiterer Melancholie, leisem Humor und Alltagsweisheiten, mit denen sie ihre Leser verzaubert, Momentaufnahmen aus dem Alltag einer Großstadt. Der Philosoph Martin Heidegger, der ein großer Verehrer der Lyrikerin war:

    "Ihr 'Stenogrammheft' zeigt, dass Sie alles wissen, was Sterblichen zu wissen gegeben ist."

    Geboren am 7. Juni 1907 als Tochter deutschstämmiger russisch-jüdischer Eltern wächst Mascha Kaléko in Schidlow, Galizien auf, damals Österreich-Ungarn, heute Polen. 1914, der Erste Weltkrieg hat gerade begonnen, zieht die Familie nach Deutschland, zuerst nach Frankfurt am Main, später nach Marburg und schließlich nach Berlin. Hier fasst Mascha Kaléko Fuß. Sie macht eine Bürolehre, besucht Abendkurse in Psychologie und Philosophie und heiratet mit 21 den Philologen Saul Aaron Kaléko. Sie beginnt zu schreiben und bald gehört sie zum Kreis einer literarisch-künstlerischen Bohème, die sich im Romanischen Cafe trifft. Unter den Gästen befinden sich Tucholsky, Ringelnatz, Klabund, Kästner und Else Lasker-Schüler. Rudolf Lenk über die temperamentvolle Dichterin:

    "Wenn die junge rassige Dame im Romanischen Cafe, dem Treffpunkt der Literaten der 20er Jahre, auftauchte und kess berlinernd sich in die Diskussionen einschaltete, konnte keiner ihr widerstehen. Mein Freund Klabund soll, wie ich später hörte, immer versucht haben, den Redefluss zu dämmen, aber kein geringerer als Tucholsky soll ihn beruhigt haben."

    Erste Gedichte von Mascha Kaléko erscheinen in der "Vossischen Zeitung", im "Berliner Tageblatt" und in der "Welt am Montag". Die Leser sind begeistert. Mit frechem Witz, heiterer Melancholie und gebrochener Ironie erzählt die Lyrikerin von den Freuden und Nöten des kleinen Mannes. Die Themen liefert ihr der Alltag. Vor allem ihr eigener Alltag.

    "Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
    der Jugend und vom ethischen Niveau -
    Es hieß wir sollten jetzt ins Leben treten.
    Ich aber leider trat nur ins Büro."

    Nach dem "Lyrischen Stenogrammheft" erscheint das "Kleine Lesebuch für Große" ebenfalls mit großem Erfolg. Doch kaum bekannt geworden, werden Kalékos Bücher von den Nationalsozialisten verboten. Sie flieht mit ihrem zweiten Mann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn nach New York. Doch ihre Flucht bedeutet gleichzeitig das Ende eines vielversprechenden Anfangs. Die Entwurzelung verkraftet die Dichterin nicht. In New York arbeitet sie in der Werbebranche, zum Schreiben kommt sie kaum. Zwar erscheint in Amerika noch ein Lyrikband von ihr in deutscher Sprache, "Verse für Zeitgenossen ", doch er bleibt unbeachtet von Kritik und Öffentlichkeit. Nicht viel besser ergeht es Mascha Kaléko nach dem Krieg. Sie unternimmt Lesereisen durch Deutschland, versucht, an den frühen Erfolg anzuknüpfen, doch es gelingt ihr nicht. Die Erfahrungen im Exil prägen ihre Lyrik, die Leichtigkeit, die ironische Distanz geht verloren. Eine Heimat findet Mascha Kaléko auch in Jerusalem nicht, wo sie seit 1960 lebt. Einmal Emigrantenkind, immer Emigrantenkind.

    "Ich weiß, mir ging am 4. Januar ein ziemlich gut erhaltenes Herz verloren, und dennoch würd' ich noch einmal geboren, es käme alles wieder wie es war."

    Die Diseuse Hanne Wieder mit einem Text von Mascha Kaléko. Von Kaleko stammt auch der Vers "Bedenkt: den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben." Auch Mascha Kaléko muss mit dem Tod leben; mit dem Tod ihres einzigen Sohnes 1968 und dem ihres Mannes fünf Jahre später. Doch sie tut sich schwer damit. Einsam und nahezu vergessen stirbt die Lyrikerin am 21. Januar 1975 in Zürich.