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Momente der Verdüsterung

Irgendwann kommt für fast alle der Moment, in dem sie ein paar Tränen vergießen. Dabei sind sie bestimmt keine Heulsusen, die Hauptfiguren in den Erzählungen von Anja Jardine. Ganz im Gegenteil: Sie sind selbständig, mutig, energiegeladen, kompetent und eigentlich mit allem ausgerüstet, um das Leben glänzend zu meistern. Katrin Weiß zum Beispiel.

Entdeckt von Eberhard Falcke |
    Sie ist eine renommierte Journalistin, preisgekrönt für ihre Reportagen, unterwegs in aller Welt und derzeit von einem Star der Theaterregie heftig umworben. Seine Ruhmestaten sollen in einem Buch festgehalten werden, und sie ist es, die er sich als Autorin wünscht.

    "Sie sind die Richtige", sagte er, "das spür ich. So durch fremde Leben spazieren und die Essenz abgreifen, das will gelernt sein, davor habe ich großen Respekt."
    Um seine Worte zu unterstreichen, schob er die Unterlippe vor und nickte. Doch Katrin hatte die feine Spur Verachtung, die wie eine Goldader seine Worte durchzog, nicht überhört und sich auf ihrem Stuhl unmerklich aufgerichtet.
    "Tun Sie etwas anderes?", fragte sie.


    Karin hat es zu etwas gebracht und dennoch überfällt sie eine seltsame Traurigkeit, wenn sie ein kleines Mädchen am Kaugummiautomaten beobachtet oder beim Bäcker der alten Dame begegnet, die mit ihrem Plüschhund spricht. Als sie in New York über eine Initiative erfolgreicher Frauen recherchiert, die sich einreden, dass ein paar Ampullen mit Spendersamen im Kühlschrank zur Familiengründung völlig ausreichend seien, zieht sie sich eine seelische Erkältung zu. Widerwillig gibt sie dann doch der Versuchung nach, ihrem Privatleben ein wenig einzuheizen. Sie intensiviert die Beziehung zu dem Regisseur auf den Gebieten, wo es vermeintlich immer am intensivsten abgeht: bei der künstlerischen Arbeit und im Bett. Der jedoch nimmt die Zuwendung mit der Lässigkeit des Alpha-Tiers entgegen, überzeugt, dass es bei alldem nur um ihn geht.

    "Als der Mond vom Himmel fiel" ist diese lange Titelstory von Anja Jardines erstem Erzählband überschrieben. Was nichts anderes heißt, als dass da über den romantischen, den kühnen, lebenshungrigen, hoffnungsfrohen, übermütigen Erwartungen zumindest zeitweilig das Licht ausgeht.

    Der Schatten, der mir das Gemüt verfinsterte, ließ sich nicht mehr vertreiben. Ich verabschiedete mich und fuhr mit dem Rad nach Hause. Ich nahm den Weg hintenrum, durch die Wiesen. Ich trat fest in die Pedalen, um von dem Gefühl in meiner Brust abzulenken, doch irgendwann gab ich auf. In der Kassbeerentwiete stieg ich vom Rad und heulte.

    Momente der Verdüsterung haben alle hier auftretenden Figuren auszuhalten. Claudia bereitet sich in einem Ferienappartement an einem großen See auf ihre Uni-Prüfungen vor. Am Radio hört sie eines Abends von der Weltraumsonde Pioneer 10, die nach Jahrzehnten aus unserem Sonnensystem entschwunden ist. "Sie ist nun auf sich gestellt", erklärt ein NASA-Mitarbeiter nach dem Abbrechen der letzten Funkkontakte. Am selben Abend reißt auch die Kommunikation zwischen Claudia und ihrem Freund plötzlich ab, und sie fühlt sich im Weltall verdammt allein.

    Gewiss: So zusammengefasst klingt das, als hörte man hier die Nachtigall allzu laut trapsen. Doch Anja Jardine versteht es sehr gut, ihre Erzählungen thematisch und motivisch vielschichtig anzulegen. Auch sie hat, wie die Heldin der Titelerzählung, als Journalistin Erfahrungen und Meriten gesammelt. Ihr Interesse am Innenleben der Figuren hält sich mit einem ungemein genauen Blick für sachliche Gegebenheiten stets die Waage.

    Wunderbar kommt das in "Golden Delicious" zur Geltung, einer Story, die auf eine Apfelplantage in Neuseeland spielt. Unter der Aufsicht des bejahrten Verwalters Jerry treffen dort zur Erntezeit jedes Jahr eine Gruppe ganz verschiedener Menschen zusammen. Unversehens fallen Schlaglichter auf Charaktere, Lebensläufe, Schicksalsmomente.

    Am nächsten Morgen erschienen Finlay und Lea nicht zur Arbeit. Jerry gab ihre Reihen nicht frei, so sehr Long John auch darauf drängte, aber nach der Frühstückspause hielt Jerry es nicht länger aus und fuhr zur Lichtung. Finlays Box lag dunkel und verschlossen, im Vorzelt stand eine Wanne mit dreckigem Geschirr. Sie waren fort oder tot. Da war er sich sicher.

    Tatkräftige Leute sind sie allesamt, die Figuren von Anja Jardine, sie trauen sich und riskieren etwas auf der Suche nach dem Leben. Was sie jedoch manchmal ins Wanken bringt, ist ein abgrundtiefes Gefühl der Einsamkeit, Verlorenheit. "Kreidehände" heißt die Erzählung über einen begnadeten Physiklehrer, der in seinen Kursen Lust verbreiten konnte, Wissenslust und damit Lebenslust. Trotzdem war er nicht sicher vor den kreidebleichen Schrecken der Verzweiflung, ebenso wenig wie seine ehemalige Schülerin, die sich zwanzig Jahre später an ihn erinnert. Den Schwerkräften des Daseins entgeht niemand.

    Nele will sogar schon wieder raus aus dem Leben, bevor sie überhaupt richtig drin ist. Per E-Mail verabredet sie sich mit einem anderen Selbstmordkandidaten in den nordischen Weiten. Zuletzt wird sie dann aber doch von den Schönheiten der Welt gefangengenommen und ihr Todestrip verwandelt sich zur Überlebenstour.

    Nein, diese elf Kurzgeschichten sind keineswegs pessimistisch. Sie sind nur wahrhaftig. Anja Jardine trifft den Punkt, vielsagend, erfahrungsreich. Sie fasst Momente ins Auge, die keines von den zwanghaft munteren Unterhaltungsprogrammen, mit denen wir ständig umsorgt werden, zum Verschwinden bringen kann.