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Mondschein, Lotusblüte und Grausamkeit

In Japan ist Banana Yoshimoto eine Kultautorin und wird von jungen Frauen verehrt. In ihrem neuen Buch erzählt sie vor allem Geschichten über Abschiede und über den Gang von Frauen in die Natur als heilsame Selbstfindung.

Von Katrin Hillgruber | 06.09.2010
    Laut Friedrich Nietzsche halten wir uns deshalb so gerne in der freien Natur auf, weil diese keine Meinung über uns hat. Die Japanerinnen, von denen Banana Yoshimoto in ihren dreizehn neuen Geschichten erzählen, wissen das instinktiv. Der Gang in die Natur hilft den zumeist jungen Frauen, zu sich selbst zurückzufinden. Einigen verschafft er auch Zugang zu lang verschütteten Erinnerungen. Da ist etwa eine Frau, die den Anblick von Ruderbooten auf einem See kaum ertragen kann. Aber nicht, weil er ihr Schmerz verursacht, sondern ein starkes Glücksempfinden. Als sie eine Freundin zur Hypnosetherapie begleitet, bittet sie die Therapeutin, sich Ruderboote vorzustellen – und siehe da, vor ihrem inneren Auge taucht der Abschied von der leiblichen Mutter auf. Fast hatte die junge Frau vergessen, dass sie von der zweiten Frau ihres Vaters adoptiert worden war.

    Nur am Seeufer, mit dem Blick auf die schaukelnden Lotosblüten im Mondschein, fühlt sie sich ihrer eigentlichen Mutter nah. Denn in einem Ruderboot hatte sich die Alkoholabhängige von ihrer nichtsahnenden Tochter für immer verabschiedet.

    Nanu, was war denn das?, habe ich mich schon oft gefragt, wenn ich draußen in der Natur war, denn auf einmal fühlte ich mich irgendwie so zart umhüllt. Es war, als habe mich jemand in den Arm genommen – ganz sanft, als wäre ich ein rohes Ei. Nun kannte ich endlich den Grund dafür. Jetzt, da ich mich erinnert hatte, würde ich wohl mehr noch als zuvor die Nähe und Lebendigkeit der Welt zu spüren bekommen.

    Auch Banana Yoshimotos Heldinnen sind allmählich erwachsen geworden. Die Autorin, die eigentlich Mahoko Yoshimoto heißt, wurde mit dem Roman "Kitchen" 1988 zum Jugendidol, zum "Phänomen", wie der Japanologe Giorgio Amitrano schrieb. Ihre Romane, deren Auflage in Japan in die Millionen geht, werden immer wieder auf die Tradition des shôjo manga festgelegt. Diese spezielle Form des Comics für weibliche Teenager enthält neben Herz und Schmerz auch Elemente des Horrorfilms.
    In der Erzählung "Mumie" über das erotische Abenteuer einer Pharmazie-Studentin mit einem gefährlich besitzergreifenden Sonderling kommt diese düstere Seite der Autorin ungefiltert zum Vorschein. Die wüste Liebesnacht mit dem Hobby-Präparator wird mit der Direktheit eines Comics dargestellt, plötzliche Grausamkeiten inbegriffen.

    Ich stelle mir vor: Was, wenn er mich wie seine Katze in eine Mumie, in ein Wesen anderer Daseinsform verwandelt hätte? Oder wenn meine leidenschaftliche, erstickende Liebe ihn erschlagen hätte, wenn sein Kopf wie eine Melone zerplatzt wäre? Nun, ich muss gestehen, so schlimm wäre das auch nicht gewesen.

    Solche Passagen wiegen das zeitweise Zuviel an Mondschein und Lotosblüten wieder auf. Banana Yoshimoto hat sich stets auch zu diesem düsteren, ja trashigen Einfluss bekannt und ihn zu ihrem eigenen Stil sublimiert, der das Übersinnliche streift. Dabei komponiert sie die Ingredienzien ihrer Romane so stimmig wie in guten Fernseh-Seifenopern. Wie bereits in "Tsugumi" erzählt Banana Yoshimoto in "Mein Körper weiß alles" vor allem Geschichten von Abschieden: der Abschied von der Großmutter, die ihrer Enkelin den grünen Daumen hinterließ, Abschiede von Elternteilen, von Lebensgefährten, aber auch von einem Muttermal in der Form eines kleinen Fisches. Als sich eine Oberschülerin diese harmlose Hautveränderung an der Brust entfernen lässt, geraten sie und ihr Umfeld unversehens aus dem seelischen Gleichgewicht. Das Gedächtnis ihres Körpers meldet sich mit einer Verlustanzeige zu Wort:

    Mir war, als ginge es um einen Menschen. Wenn ich den Mullverband auf meiner Brust abnähme, wäre dieses Gebilde nicht mehr da. Ich hatte mich verändert. Ich kam mir wirklich anders vor, ohne Übertreibung. Ein Gefühl, wie wenn man sich notgedrungen von jemandem trennen muss, der einem etwas bedeutet hat.

    Banana Yoshimotos Geschichten leben alle vom buddhistischen Empfinden einer Einheit aller Lebewesen. So wird auch das nichts tuende Faktotum Herr Takadoro nicht aus einem höchst effizienten Betrieb entfernt, da er die Angestellten an das traditionelle Japan mit seiner Achtung des Alters erinnert. Die scheinbare Naivität der Protagonistinnen in "Mein Körper weiß alles" ist trügerisch, denn sie dient der Autorin als Türöffner zu den tieferen Bewusstseinsschichten ihrer Leserschaft. Dass ihr das seit so vielen Jahren weltumspannend gelingt, spricht für die Schriftstellerin mit dem selbstgewählten fruchtigen Vornamen.

    Wie wichtig ist es doch zu wissen, welche Gefühle man tief in seinem Herzen erstickt und begraben hat, sinnierte ich, während eine Gabel voll Tortenfrüchten auf meiner Zunge zerging. Sauer waren sie, so intensiv im Geschmack, wie nur etwas schmecken konnte, was noch lebte.

    Banana Yoshimoto: "Mein Körper weiß alles. Dreizehn Geschichten.", Aus dem Japanischen von Annelie Ortmanns und Thomas Eggenberg, 204 Seiten, 18,90 Euro, Diogenes Verlag, Zürich 2010