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Monolog eines Irren

Ascanio Celestini ist in Italien ein Star. Schauspieler, Theater- und Filmautor, wird er oft mit Dario Fo verglichen. Sicherlich wandelt das junge Multitalent auf den Fußstapfen des großen Komikers, der oft auch auf Historisches Bezug nimmt. Nun also: der Monolog eines Irren.

Von Aureliana Sorrento | 26.04.2012
    "Du bist der faule Apfel, dich kann man auf den Müll schmeißen. Du bist das schwarze Schaf, dir ist nicht zu helfen."

    So sagte die Lehrerin Nicola, und der Beschimpfung ist der Titel von Ascanio Celestinis Roman "Schwarzes Schaf. Nachruf auf die elektrische Irrenanstalt" entliehen: der Monolog eines Irren, der sich zum Toten erklärt, um dem Leser sein früheres Leben zu erzählen – aus der Ferne, die den Toten eigen ist, und freilich auch den Verrückten gebührt.

    "Ich bin dieses Jahr gestorben.
    Alle wollten dieses Jahr sterben.
    Wer bis heute gelebt hat, hat alles gesehen, was man sehen konnte.
    Er hat Hunde im Weltall gesehen, Menschen auf dem Mond und einen Roboter mit Rädern auf dem Mars. Er hat New York, London und Madrid in die Luft fliegen sehen, und nicht mehr nur Kabul und Bagdad. Er hat das Kinderüberraschungsei gesehen, das aus jedem Tag des Jahres ein ewiges Ostern macht. Er hat Milch in Pulverform gesehen, Wein im Tetrapack und Erdbeeren mit Essig.
    Alle wollten dieses Jahr sterben, denn vom nächsten an wird es nichts Neues mehr zu sehen geben."


    Nicola, der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans, ist 35, als er zu Erzählen anhebt, und hat den Großteil seines Lebens in einer Irrenanstalt verbracht. Die Welt draußen hat als Sammelsurium von Film- und Fernsehbildern, Schlager-Zitaten, Werbesprüchen und Markennamen in sein Bewusstsein Einlass gefunden; wie Blütenstaub im Gestrüpp haben sich die Zeitgeist-Schnipsel in seinem Hirn verfangen. Denn Nicola ist in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren, in den "fabelhaften Sechzigern", wie er sie nennt. Das heißt in jenem Jahrzehnt, in dem sich Italien von einem agrarisch geprägten in ein industrialisiertes Land verwandelte – und in dem seine ursprünglich ländlich-archaische Kultur vom Konsumismus überrollt und ersetzt wurde.

    In den "Freibeuterschriften" hat Pier Paolo Pasolini diesen Kulturwandel unter die Lupe genommen und die kulturelle Degeneration vorausgesagt, die daraus hervorgehen würde – und die man im heutigen Italien besichtigen kann. Ascanio Celestini, 1972 geboren, bekannte sich bereits in seinem Frühwerk "Milleuno" als Pasolini-Jünger: Da erzählte er von den Abgehängten, die an der römischen Peripherie ein klägliches Dasein fristeten. Auch seinem 2006 erschienenen, nun ins Deutsche übersetzten Roman "Schwarzes Schaf" ist der Einfluss des Meisters anzumerken. Doch Celestini weicht dem Realismus aus, verkneift sich die direkte Denunziation. Die Wahl des literarisch bewährten Tricks, aus der Innenperspektive eines Irren zu erzählen, erlaubt ihm, die Wirklichkeit so grell auszuleuchten, dass sie in ihrer ganzen Absurdität erscheint. Was man da sieht, bedarf keiner Erklärung, keines Kommentars. Zumal Celestini der Schachzug gelungen ist, bis zuletzt in der Schwebe zu halten, ob sein Protagonist wirklich verrückt oder das Opfer einer verrückten Welt ist.

    Jedenfalls kennt Nicola das Irrenhaus von früh an. Dort besuchte er als Kind seine Mutter, die in der Anstalt eingesperrt worden war, weil sie an "Traurigkeit" litt. Sie wurde mit Elektroschocks behandelt und schließlich einer Gehirnoperation unterzogen, nach der sie reglos wie eine Pflanze im Bett lag. Der Sohn traute sich nicht, der Mutter einen Kuss zu geben, aus Angst, sie könne ihm ins Gesicht beißen. Bis sie starb.

    "Und wirklich, als meine Mutter gestorben war, habe ich ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben.
    Ihr Kopf war so hart wie ein Ziegelstein. Es fühlte sich an, wie wenn man einen Stein küsst."


    Lakonischer lässt sich ein Tod nicht beschreiben. Überhaupt waltet Lakonik über sämtliche Schilderungen der Qualen, derer Nicola Zeuge wird. Die Irrenanstalt ist seine immerwährende Wirklichkeit, etwas, das schon immer so gewesen ist und immer so sein wird. Was innerhalb ihrer Mauern geschieht, nimmt er als selbstverständlich wahr.
    "Und ich sah all diese armen Irren, die kackten und an die Wand spuckten. Und die Wände waren voll mit Schleim, der langsam wie eine Schnecke unter Drogen den Putz hinabkroch. Er kroch solange, bis die trockene Luft ihn an der Mauer festklebte. Die ausgetrocknete Spucke blieb als Stickmuster an der Wand haften, bis der Pfleger mit einem Schaber vorbeikam und sie ablöste wie Miesmuscheln. Und da gab es die Irren, die sich in die Hose machten. Sie pissten sich in die Hose, die war immer entweder zu eng oder zu weit, weil die Pfleger sie morgens nackig aus dem Bett holten. Dann zogen sie aus einem Plastiksack die Kleider hervor und verteilten sie auf gut Glück."

    "In der Irrenanstalt gilt die Würde des Menschen nichts. Den Nonnen, die sie verwalten, ist es schnuppe, ob den Kranken die Hosen herunterrutschen, weil sie welche in der falschen Größe bekommen haben. Wichtig ist für sie nur, dass der Zeitplan von "aufwachen, waschen, kacken, pissen, anziehen, essen, schlafen" eingehalten wird. Dass die Betten in einer Reihe aufgestellt sind, die Kleider dieselben Farben haben und alle dasselbe essen. Das nennen sie "Pflege der Moral"."

    So grässlich es uns Lesern auch anmuten mag, war all dies in den italienischen Irrenhäusern bis Ende der 1970er-Jahre Alltag. Psychisch Kranke wurden darin wie Gefängnisinsassen festgehalten, mit Elektroschocks traktiert, ans Bett gefesselt, vollständig entmündigt. Erst 1978 führte die Kritik des Psychiaters Franco Basaglia, der über ein Jahrzehnt hinweg die Verhältnisse in den Irrenanstalten anprangerte, zu einer Reform der Pflege geistig Kranker. Danach wurden die Irrenhäuser geschlossen und die Patienten in allgemeinen Krankenhäusern behandelt.
    Von diesem historischen Hintergrund erfährt der Leser von "Schwarzes Schaf" aber erst am Schluss des Romans, durch eine Randnotiz im Anhang. Bis dahin wird er auf einer halluzinatorischen Achterbahnfahrt zwischen Heiterkeit und Entsetzen geführt, die einen unheimlichen Sog entwickelt. Man lacht, aber man lacht bitter.

    Über Nicolas Großmutter etwa, die ihn großgezogen hat. Eine skurrile Gestalt, die immer Omakittel und dicke Strümpfe trug, wenn sie nicht barfuß lief, einen Stinke-Atem hatte und alle mit Eiern aus ihrem Hühnerstall beschenkte mit dem Spruch:

    "Das ist frisch das Ei. Es riecht noch nach Hühnerarsch."

    Offensichtlich entstammt diese Oma jenem ländlichen, archaischen Italien, das es in den Sechziger Jahren trotz Mini-Röcke und Film-Stars immer noch gab. Anders als Pasolini ist Ascanio Celestini aber weit davon entfernt, diese entschwindende archaische Welt zu verklären. Nicolas Vater zeichnet er als einen grobschlächtigen Hirten, der den Kleinen in die Berge bringt, damit er mit seinen Brüdern die Schafe hütet. Und eines Tages steinigen die Brüder eine Prostituierte, die sich ihnen nicht beugen will. Der Vorfall besiegelt Nicolas Schicksal. Denn von einem Polizisten über den Mord ausgefragt, dessen er Zeuge geworden ist, antwortet der Junge, er hätte Marsmenschen gesehen. Um der Rohheit seiner Umgebung zu entfliehen, hatte er ja früh die Fähigkeit entwickelt, sich ein Wolkenkuckucksheim zurechtzulegen. Deshalb wird er ins Irrenhaus eingeliefert.

    Diesen letzten Teil seiner Lebenserinnerungen, die ein Psychologe "das Verdrängte" nennen würde, lässt die Hauptfigur aber ihr Alter Ego erzählen. Weil sie anscheinend an einer Persönlichkeitsspaltung leidet, hat ihr der Autor einen zweiten Ich-Erzähler beigesellt. Nicola weiß nicht, dass er Nicola ist. Er glaubt, Nicola sei der Name seines Freundes. Schließlich finden sich der Held und sein fiktives Double in einem Supermarkt wieder, wo ihr Wahnsinn im Konsum- und Markenwahn des gegenwärtigen Italiens aufgeht. In einer surrealen Klimax lässt der Autor seinen Protagonisten alles in sich hineinfressen, was die Lebensmittelindustrie an Markenprodukten hergibt, Verpackungen inklusive. Mit der verqueren Welt kann nur die Groteske Schritt halten. Und das Genre beherrscht Ascanio Celestini perfekt. Zur Freude der Leser.

    Ascanio Celestini, "Schwarzes Schaf". 124 Seiten. Wagenbach 2011, 16,40 Euro