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Monströse Mischung aus Banalität und Bestialität

Am 20. November 1945 begann in Nürnberg der Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher. Rundfunkübertragungen führten den Hörern die absurde Realitätsverdrängung der einstigen hohen Nazi-Chargen in ihrer ganzen Erbärmlichkeit vor. Noch decouvrierender als die Prozessprotokolle lesen sich die Abschriften von Interviews, die der Gerichtspsychiater Leon Goldensohn mit Angeklagten und Zeugen führte.

Von Margarete Limberg |
    Als "nicht schuldig" bekannten sich die Hauptangeklagten im Nürnberger Prozess. Und als Unschuldige, Verführte, nicht Verantwortliche für die NS - Verbrechen präsentierten sie sich auch dem damals 34-jährigen amerikanischen Arzt und Psychiater Leon Goldensohn. Dieser hatte die Aufgabe, den psychischen Zustand der in Nürnberg angeklagten Kriegsverbrecher zu überwachen.

    Er führte mit ihnen fast täglich ausführliche Interviews. Die Situation war einzigartig: die ranghöchsten noch lebenden Protagonisten des dritten Reiches, in Nürnberg angeklagt wegen unvorstellbarer Verbrechen, standen sieben Monate lang psychologischer Erkundung zur Verfügung.

    Die Führungsriege des Dritten Reiches von Göring bis Ribbentrop, gestern Hitler noch treu ergeben, zeigte sich nun ängstlich besorgt, einen guten Eindruck zu machen, sich in das milde Licht der Ahnungslosigkeit zu rücken und jegliche Verantwortung auf Hitler und seine Clique,vorzugsweise Himmler und Goebbels, zu schieben.

    Mit Informationen zeigten sie sich großzügig, wenn es darum ging, andere zu belasten. Sie selbst wussten nichts von den Verbrechen, und wenn sie etwas wussten, waren sie nicht beteiligt, und wenn sie beteiligt waren, dann nur auf Befehl. Der Historiker Wolfgang Benz:

    "Sie fühlten sich nicht von den Verbrechen, die ihnen zur Last gelegt wurden, beschwert. Sie plädierten auf gute Absichten und bestes Wollen, auf Verführung und Befehl."

    Goldensohn erwies sich als guter Zuhörer und genauer Beobachter, bemüht um äußerste Professionalität. Er trat nicht als Ankläger auf und brachte so die Angeklagten und Zeugen zum Reden. Er wollte die Häftlinge nicht vorführen und ließ sie doch nie im Zweifel,

    "dass er auf der Gegenseite steht, dass er nicht als Beichtvater fungiert oder in irgendwie anwaltschaftlicher oder seelsorgerischer Funktion, sondern hat ihnen klar gemacht … er hielt sie für Monster und wollte herauskriegen, warum sie das getan hatten, welche seelischen und psychologischen Strukturen notwendig sind."

    Die Häftlinge hatten die Möglichkeit zu reden und sie taten es gerne und ausführlich, über ihre Familie und die berufliche Laufbahn, über Krankheiten und sonstige Befindlichkeiten. Sie präsentierten sich oft sanft lächelnd, freundlich und beflissen, vielfach wehleidig, manchmal bizarr.

    "Dass sie dabei die Banalität des Bösen, in geradezu monströser Dimension verkörperten, enthüllen die Protokollnotizen des amerikanischen Psychiaters auf das Eindrucksvollste."

    Goldensohn machte seine Notizen zum Teil noch während der Gespräche, zum Teil unmittelbar danach. Das gibt dem von ihm gesammelten Material seine besondere Bedeutung. Deutlich wird die Gefühlskälte von Männern, die der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt werden.

    Ein Beispiel für die monströse Mischung aus Banalität und Bestialität ist der Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höss. Der fünffache Vater zeigt keinerlei Gemütsbewegung, als er die Vergasung von Frauen, Männern und Kindern schildert.

    Höss, der in Nürnberg als Zeuge gehört und erst 1947 in Polen hingerichtet wird, antwortet Goldensohn auf die Frage, ob ihn der Massenmord nicht manchmal aus dem Gleichgewicht bringe, ob er Entsetzen verspüre angesichts der getöteten Kinder, die so alt waren wie seine eigenen:

    "Ich dachte, ich handele richtig, ich gehorchte Befehlen, und jetzt sehe ich natürlich, dass es unnötig und falsch war. Aber ich weiß nicht, was Sie damit meinen, ob mich das aus dem Gleichgewicht bringt, weil ich persönlich niemanden ermordet habe. Ich war lediglich der Leiter des Vernichtungsprogramms in Auschwitz."

    Der Historiker Wolfgang Benz : "Keine schrecklichen Fantasien quälen ihn, er hat keine bösen Träume."

    Die Angeklagten tun alles, um ihre Rolle im Dritten Reich als möglichst unbedeutend darzustellen. Julius Streicher, Herausgeber des "Stürmer", die Inkarnation des Judenhasses, hat natürlich nichts mit Auschwitz zu tun.

    Streicher, auch in der Haft noch manisch besessen vom Antisemitismus, bedauert gegenüber Goldensohn nur, dass der Mord an den Juden den Antisemitismus in vielen Ländern zurückgeworfen habe. Dass er propagandistisch Auschwitz den Weg bereitet hat, bestreitet er natürlich, die Vernichtung habe er nie gewollt:
    "Mein Gewissen ist so rein wie das eines Säuglings. Wenn Sie die Ausgaben des Stürmer oder jeder anderen Publikation des Stürmer-Verlages lesen, dessen Leiter ich war, werden Sie kein einziges Wort hinsichtlich der Judenvernichtung finden. Ich werde das alles beweisen. Sie werden sehen."

    Goldensohn beschreibt seine Gesprächspartner gelegentlich mit drastischen Worten. Über Streicher lesen wir:

    "Er lächelt unaufhörlich, sein Gesicht wirkt teils grimassenhaft, teils lüstern, wobei er seinen großen dünnlippigen Mund verzieht und seine froschartigen Augen verdreht, die Karikatur eines Wüstlings, der sich als kluger Mann ausgeben möchte."

    Die Eitelkeit, Aufgeblasenheit und der Zynismus, die Goldensohn begegnen, sind atemberaubend. Alfred Rosenberg mahnt den Psychologen, nur ja sorgfältig zu notieren, damit man seine komplexen Theorien nicht verdrehe. NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop erscheint als Schmierenkomödiant, der den Staatsmann spielt und natürlich auch nichts gewusst und von Auschwitz erst während des Nürnberger Prozesses erfahren hat.

    Herrmann Göring spielt sich auf. "Warum lässt man mich nicht die Verantwortung übernehmen und lässt die unbedeutenden Funke, Fritsche, Kaltenbrunner laufen?", fragt er. Der zweite Mann nach Hitler - auch er ein Ahnungsloser.

    Für die Massenmorde an den Juden sind nach Görings Ansicht Himmler und Göbbels, nicht Hitler verantwortlich. Seine Äußerungen zur Ermordung der Juden sind der reinste Zynismus:

    "#Ich habe ein Gewissen, und ich bin der Ansicht, dass die Ermordung von Frauen und Kindern, die zufällig die Opfer von Göbbels' hysterischer Propaganda waren, nicht gerade die feine Art ist. Ich glaube nicht, dass ich nach meinem Tod in die Hölle oder den Himmel komme. Ich glaube nicht an die Bibel oder an all das, woran religiöse Menschen glauben. Aber ich verehre die Frauen, und ich halte es für unfair, Kinder zu töten."

    Göring und andere versuchen, sich in ein möglichst gutes Licht zu rücken. Kaum einer, der nicht betont, Juden als Freunde gehabt und Juden geholfen haben. Die Rechtfertigung des Antisemitismus folgt allerdings meistens auf dem Fuße. Hitler erscheint dem einen als Genie, dem anderen als Dämon, dessen Bann man sich nicht habe entziehen können.

    Genauso wenig wie die NS-Schergen sind die anderen Funktionsträger, die Karrieristen, ohne die das Dritte Reich nicht hätte funktionieren können, bereit, Verantwortung zu übernehmen. Der ehemalige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht posiert als entrüstete Unschuld, spielt sich als Gegner Hitlers, ja als Mann des 20. Juli auf. Franz von Papen, der Steigbügelhalter Hitlers, ist ganz auf Schuldabwehr bedacht. Er sieht sich als eigentliches Opfer. Überhaupt bekommt Goldensohn oft zu hören: die eigentliche Tragödie sei die des Angeklagten.

    Alle versuchen, als Ohnmächtige, als Verführte davonzukommen. Ihre Aussagen sind indessen mehr als der Versuch, den eigenen Hals zu retten. Der Zeithistoriker Wolfgang Benz:

    "Damit nehmen sie die deutsche Lebenslüge vorweg. Niemand hat etwas gewusst, keiner war dabei. Alle haben eigentlich irgendwie und irgendwo Widerstand geleistet, zumindest die Faust in der Tasche geballt."

    Jahrzehnte lang blieben die Notizen Goldensohns, der 1961 gestorben ist, unbeachtet. Er selbst hat sie nicht mehr ausgewertet, man weiß nicht warum. Vor zehn Jahren gelangten sie durch seine Familie an den amerikanischen Historiker und Täterforscher Robert Gellately, der sie der Öffentlichkeit zugänglich machte.

    Sie geben Einblick in die Mentalitäten der Täter, sind ein Lehrstück für den Umgang mit Schuld und Verantwortung. Sie gehören, so Benz, zum Besten und Wichtigsten, was über das Dritte Reich und seine Führungsriege erschienen ist:

    " Das ist das Gegenmittel der Aufklärung, nämlich hier können wir jetzt, vermittelt durch Goldensohn, tatsächlich den Blick in das Innere des Täters tun. Das ist wichtiger und besser als alle Memoiren, die von Akteuren des Dritten Reiches erschienen sind, besser als manch eine Biographie und sicherlich heilsamer als manches, was noch über die Protagonisten des Dritten Reiches erscheinen wird."

    Robert Gellately (Herausgeber). Leon Goldensohn: Die Nürnberger Interviews - Psychogramme der Nazis. Gespräche mit Angeklagten und Zeugen.
    Winkler Verlag Düsseldorf 2005, 457 Seiten, 29,90 Euro.