Dienstag, 21. Mai 2024

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Montaigne – Die Imagination und die Kunst des Essays

"Dass ein solcher Mensch geschrieben hat," bemerkt Friedrich Nietzsche über den ihm seelenverwandten Michel de Montaigne, "dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden. (. .) Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen" Dabei war Montaigne konservativ und katholisch; er lehnte den Umsturz der politischen Verhältnisse genauso ab, wie er den traditionellen Institutionen von Krone, Kirche, Ehe und Familie treu blieb.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 08.09.2003
    Was veranlasst Nietzsche dann zu einer solchen Äußerung? Natürlich vor allem Montaignes Hauptwerk, die Essais, die dieser als Unterhaltungen mit dem toten Freund, dem Dichter Étienne de la Boétie bezeichnet, dessen früher Tod 1563 ihn tief getroffen hat. In einer Zeit von Krieg, Plünderung und Pest – fünf seiner Kinder starben in jungen Jahren – sucht Montaigne nach einem gelassenen Todesbewusstsein, das individuelle, dem Leben zugewandte Autonomie ermöglicht.

    Doch nicht allein diese Lebensbejahung inspiriert Nietzsches Urteil. In den Essais, setzt sich Montaigne mit der eigenen Orientierungslosigkeit und mit der Bruchstückhaftigkeit der Existenz auseinander. Er schreibt: "Ich habe von mir selbst nichts Ganzes aus einem Stück, nichts Einheitliches und nichts Festes, nichts ohne Verwirrung und nichts Unvermischtes zu sagen und nichts, was man in einem Wort fassen könnte. (. .) Wir sind alle aus Flicken zusammengesetzt und das so ungestalt und kunterbunt, dass jedes Stück jeden Augenblick ein eigenes Spiel treibt." Die Renaissance entdeckte das Individuum, den autonomen Menschen, der sich umfassend bildet und jenseits der Gemeinschaft verwirklicht. Montaigne begreift gegen Ende der Renaissance dessen Zerbrechlichkeit.

    Etwa 50 Jahre später formt René Descartes aus dem denkenden Ich das Subjekt und festigt damit den aufgeklärten handlungsmächtigen Menschentyp. Montaignes Zweifel verblassen demgegenüber. Jedoch mit Nietzsches Urteil gewinnt Montaigne schließlich im heutigen postmoderne Denken von Patchworkexistenzen und Bastelbiographien nachhaltige Bedeutung, während sich doch kaum noch jemand auf das seiner selbst bewußte Subjekt Descartes’ verlassen mag.

    Daher glänzen die Essais Montaignes nicht durch eine große Theorie, sondern durch ihren Stil, der die Gelassenheit und Lebenslust dieses zerklüfteten Selbst ausdrückt. Karin Westerwelle hat diesen Stil in den Mittelpunkt ihrer vielleicht etwas zu umfänglich und weitschweifig geratenen, aber trotzdem sehr erhellenden Montaigne-Monographie gestellt. Montaigne entwickelt seine Gedanken über Themen des Alltags, Schwierigkeiten mit dem eigenen Selbst, oder Probleme seiner Zeit eher beiläufig, unsystematisch und sprunghaft. Seine Sprache ist so elegant wie vielfältig und abwechslungsreich, bar jeder methodischen Monotonie. Mit einer derart aphoristischen Prosa, die sich jeder geschlossenen Form verweigert, brachte er die offene literarische Form des Essays auf den Weg, der heute hoch aktuell ist.

    Woher aber nimmt Montaigne die Kraft zu einer derartigen kühnen Schreibweise? Wie lässt sie sich aufschlüsseln? Diesen Fragen geht Westerwelle nach. Ihr programmatischer Schlüsselbegriff heißt dabei Imagination, die Montaigne selbst der wissenschaftlichen Vernunft und dem philosophischen Diskurs entgegensetzt. Angesichts des flüchtigen Selbst und einer chaotischen Welt gibt es für Montaigne keine letzten rationalen Gewissheiten. Das führt indes weder in einen resignativen weltablehnenden Zweifel noch in den methodischen Zweifel, den Descartes zur Voraussetzung eines stabilen Subjekts erheben wird, wenn Imagination und Phantasie dergleichen Verengungen des Denkens wie des Schreibens aufbrechen. Montaigne geht es, so Westerwelle, weniger um allgemeine Einsichten als vielmehr um Blicke in die Welt, wie sie sich gerade ereignet. Um der Vielfalt der Welt gerecht zu werden, damit es eine Lust zu Leben ist, braucht es Imagination, Phantasie und die offene Prosa des Essays, auf die auch Nietzsche wie die postmoderne Philosophie zurückgreifen werden. Doch vielleicht sollte man empfehlen, anstatt einer umfänglichen Monographie zunächst Montaignes Essais zu lesen, von denen es auch preisgünstige deutsche Ausgaben gibt.