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Monument der kollektiven Lethargie

Die Neue Soziale Frage und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen sind das aktuelle Theater-Thema. Kaum eine Bühne gibt es in der Republik, an der man sich nicht mit der andauernden Massenarbeitslosigkeit befasst, kaum ein Theater, in dem nicht auf der einen Seite die Dynamik der Globalisierung und auf der anderen Seite die Lähmung von weiten Teilen der Gesellschaft behandelt wird. "Und morgen steh ich auf" heißt der neue Text von Gesine Danckwart, den sie m Berliner Maxim Gorki-Theater inszeniert hat.

Von Michael Laages |
    Reden so vielleicht Leute, denen blanke Angst im Nacken sitzt: ohne Pause, ohne Atem; manisch und ohne wirklich viel Hoffnung darauf, dass das Gegenüber noch versteht, wovon die Rede ist? Jedenfalls reden die Personen in den Stücken der Dramatikerin Gesine Danckwart mal mit-, mal eher nebeneinander her.

    So zirpten und zeterten sich die jungen Frauen in "Girlsnightout" von einer Exaltation in die nächste; so delirierte auch das Personal in Danckwarts bislang sicher stärkstem Stück, "Täglich Brot", uraufgeführt vor fünf Jahren als Koproduktion der Theater in Jena und Dresden sowie der Berliner Sophiensäle und des Hamburger Thalia Theaters, durch die Auf- und Abschwünge dessen, was damals noch "die Arbeitsgesellschaft" genannt wurde; und schon den Keim dessen in sich trug, was heute die tiefe, nicht mehr abzuschüttelnde Angst des atemlos plappernden Quartetts im jüngsten Stück ausmacht: der Verlust all der Sicherheiten, die "Arbeit" als Wert an sich und als alltägliche Sinnstiftung ausgemacht hat; früher, in der anderen Zeit. Denn selbst wer noch welche hat, ahnt ja womöglich, dass auch dieser Zustand ein Überbleibsel sein könnte.

    Dies sind die Mitmischer im Plapper-Pool: der Erfolgsmensch, der hinter allem, was er kann und was der Alltag von ihm will, ganz aus dem Blick verlor, was denn wohl er vom Alltag will; die junge Frau in der Warteschleife, die weiß, dass sie besser sein müsste als je jemand zuvor, um wirklich erfolgreich zu sein mit irgendeiner Verkaufsidee; dann der noch jüngere Anfänger, der beinahe alles tun und noch die erniedrigendsten Einstellungsbedingungen akzeptieren würde, um überhaupt noch ins Spiel zu kommen, der aber auch schon ahnt, das all das auch nichts nützen könnte. Und nur der Veteran, der noch irgendeine Arbeit ausführt in irgendeiner wenig beobachteten Nische, vielleicht, vielleicht aber auch nicht, der aber in jedem Fall weiß, dass ihn und sein wie auch immer geartetes Talent hier eigentlich niemand mehr wirklich benötigt, lässt sich mit einiger Routine treiben durch die Zeit, die seine nicht mehr ist. Für alle reicht es nicht, das weiß er schon länger. Die anderen lernen es gerade.

    Keine Perspektive also, nirgends – umso erstaunlicher allerdings wirkt der theatralische Charme, diese schwer erklärbare Leichtigkeit des Seins auch ohne alle Zuversicht in Gesine Danckwarts Dauermonolog der vielen Stimmen. Ihre Figuren schwanken an mancherlei Abgrund – aber sie tänzeln dabei. Und nichts "passiert" ja wirklich in diesem Raum, der voller Matratzen ist – aber in diesem Nichts dreht das Quartett Pirouette um Pirouette. Ohne doppelten Boden und Netz hangelt sich das Personal von Pointe zu Pointe. Und die sind reich gesät; die Autorin verfügt die Virtuosität des Nebenbei, der wie nur so dahin gesagten, aber fein zugespitzten Satz-Fragmente, denen meist das letzte Wort oder irgendeines mittendrin fehlt. Fertig ist Sprache und sind Menschen hier nie; und dennoch geht es immer heiter immer weiter, irgendwie. Wo schon keiner sonst mehr Sinn sieht und Erfüllung finden kann in der "Arbeit", rattert immerhin Gesine Danckwarts Textmaschine munter vor sich hin.

    Womöglich werden künftige Regisseure, anders als die Autorin, auch noch ein wenig unter der Oberfläche der Figuren schürfen; womöglich aber ist da auch nicht viel – wirklich Profil etwa entwickelt; kein Wunder, wo im Grunde nichts und niemand sich vorwärts und voranbewegt. Hier ist ein Monument der kollektiven Lethargie zu bestaunen – nur eben nicht im fast schon ganz verstummten Leerlauf der Einschlaf- und Gute-Nacht-Geschichten, die die Eltern den Kindern erzählen in den besten Arbeiten von Christoph Marthaler, sondern umgekehrt im Quasselstrippengestus der Kinder, die noch lange nicht zu Bett gehen wollen und wieder und wieder von neuem irgendein abgelegenes Teil ihres Tages Revue passieren lassen. Mehr als jene durchschnittlich 80 Fernsehspielminuten, die Danckwarts Stücke meistens dauern (dieses bleibt knapp drunter), wäre davon auch nicht unbedingt zu ertragen. An einem Abend – mit frechem Augenzwinkern allerdings teilt der Veteran des Sich-nicht-von-der-Matratze-Bewegens im letzten Augenblick allerdings mit, dass er morgen wieder da sein wird: in seiner Gruft. Wie dieses ganze, zur Lethargie entschlossene Land.

    In der Reihe jener vielen Texte, die in diesem Jahr auf verschiedenste Weise vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" künden, ist dieses mit Sicherheit – und ganz konträr zum Thema - das munterste, die schönste Stärke liegt im Gebrauchswert: als kleiner, schneller Rausch des Verzweifelns. Beinahe ließe sich hoffen, es wird alles wieder gut.