Kurzum: Hösle argumentiert herrlich unzeitgemäß, nämlich neohegelianisch, also objektiv-idealistisch. Er tut dies allerdings so selbstverständlich, daß er das zentrale Argument für eine solche heute eher Kopfschütteln auslösende Argumentation nicht einmal in seiner eigentlichen Stärke entfaltet. Welches Argument? Das Hegels gegen Kant. Konnte Kant doch nie befriedigend zeigen und entscheiden, ob die Unterscheidung des "Empirischen" und des "Transzendentalen" selbst eine empirische oder eine transzendentale Unterscheidung ist. Heute würde man mit Luhmann und anderen Funktionalisten (aber Luhmanns diabolische Theorie mag Hösle überhaupt nicht) sagen, daß solche Unterscheidungen unabweisbar in einen re-entry-Prozeß führen. Doch eben dies ist mit Hegel und Hösle gerade nicht das Problem, sondern die Lösung. Um zu pointieren: die Unterscheidung von empirisch und transzendental ist ein Faktum der Vernunft. Und Faktum der Vernunft heißt nicht weniger als: Vernunft ist wirklich, und das Wirkliche ist vernünftig. Und natürlich ist auch die Vernunft immer die Vernunft des Guten.
Hösle hält selbst angesichts der traumatischen Massenmord-Erfahrungen unseres endenden Jahrhunderts an dieser objektiv-idealistischen Einstellung fest. Ihm zufolge "läßt sich ein Fortschritt in der bisherigen Weltgeschichte nicht übersehen" (682). Freilich ist er bedroht. Wodurch? Durch funktionale Ausdifferenzierung, d.h. Abkoppelung von gesellschaftlichen Subsystemen wie Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft von den katgeorischen Imperativen der Ethik und vor allem, so legt seine Polemik nahe, durch zynische Theoretiker der Postmoderne, die diese Perversion auch noch affirmieren. Damit fallen sie hinter das zurück, was Hegel so schön "das geistige Tierreich" nannte. Schon das Tierreich, so Hösles idealrealistische These, prämiert nämlich "moralisches" Verhalten. Tiere etwa, die sich von Ihresgleichen Parasiten entfernen lassen, aber ihren Artverwandten nicht in ebensolcher Weise helfen, haben zwar kurzfristig evolutionäre Vorteile. In dem Maße aber, wie sie ihre eogoistischen Gene erfolgreich und also überproportional weitergeben, schaden sie ihrer eigenen Moral bzw. Amoral. Hilft doch alsbald keiner mehr seinem Nächsten - zur Freude der siegenden Parasiten. Vulgärdarwinisten, nihilistische Nietzscheaner und spätmoderne Zyniker verkennen diese Dialektik des Guten. Für das Reich menschlichen Sollens gilt erst recht: Wirkliche Menschen können und sollen an der Sphäre der Idee des Rechten teilhaben und sie Wirklichkeit werden lassen. Tun sie aber bekanntlich nicht immer. Wie sie das tun können und was sie dann tun müssen - eben dies zeigt Hösle in den drei Teilen seines gewaltigen Buches auf.
Er zieht dabei beeindruckend viele Register. Auch wer (wie der Rezensent) bei der Lektüre dieses Buches von einem Kopfschütteln ins nächste fällt, kann nur Respekt haben vor der Fülle an Theorie-Kenntnissen, vor den klaren Referaten auch komplexer Theoreme, vor der Souveränität des historischen Hintergrundwissens, das Hösle in seinem mit verläßlichen Registern versehenen, gut gegliederten und in klassizistischem Deutsch geschriebenen Buch ausbreitet. Und nicht zuletzt vor der geschickten Ausbreitung literarischer Moral- und Ethikszenen aus klassischen Dramen und Romanen. Endlich einmal findet man bei einem neueren Philosophen nicht die unendlich dämlichen Dialoge von Sam und Sally über Abtreibung oder von Peter und Paul über die Nachrüstung, wie die analytische Philosophie sie liebt, sondern große Sophokles-, Shakespeare- und Schiller-Szenen! Sein Vertrauen in die phänomenal erhellende Kraft großer Literatur verhilft Hösle zu seinen besten Einsichten. Argumentativ am stärksten ist er nämlich genau dort, wo er mit Sophokles, Livius und Shakespeare die meisten Konzessionen an Kritiker starker universalistischer Moralkonzepte macht. Denn auch Hösle weiß, daß just die von ihm, dem Freund der Antike, des christlichen Hochmittelalters und des Humanismus, so kritisch begutachtete Neuzeit mit ihrer Dynamik von sich ethikfern verselbständigenden Subsystemen nicht nur an einem Ethikmangel, sondern häufig auch an einem Ethiküberangebot leidet. Wurde doch gerade die Neuzeit von einer "Sucht nach dem Normieren erfaßt, die für die etwaigen Nebenwirkungen der eigenen Tätigkeit blind macht" (117). Hösle hat Hegels Analyse der Dialektik von Tugendhaftigkeit und Weltlauf sowie Odo Marquards Kritik an der Übertribunalisierung zur Kenntnis genommen und folgert daraus "die Notwendigkeit einer ethisch begründeten Selbstbegrenzung der Ethik, eben einer Ethik der Ethik".
Was nichts anderes heißt als: gerade wer ethisch handeln will, muß zur Kenntnis nehmen, daß der Mensch aus krummem Holz geschnitzt ist. Ethisch rigorose Politiker von jakobinischem Zuschnitt haben gerade in moralischer Hinsicht mehr Unheil angerichtet als viele der so häufig geschmähten Realpolitiker. Aus seiner Bewunderung für "Menschen, die einen bewundernswerten Instinkt für die annähernd optimalen Alternativen haben" (198), macht Hösle denn auch kein Hehl. Deshalb entwirft er nicht "nur" eine reine und eine politisch unreine Ethik, sondern kenntnisreich (woher hat er diese Kenntnis? Etwa aus Fakultätssitzungen?) auch eine "politische Topik" (199) und eine "Kratologie" - also eine Logik der Herrschaftstricks, eine Liste der Listen in Machtkämpfen, die gerade auch "gute" (im doppelten Sinne: gute) Politiker beherrschen müssen. In Hösles Worten - ein Zitat übrigens, das für die anachronistische Diktion des Buches durchaus repräsentativ ist: "Der große Politiker muß gleichzeitig zum Himmel der reinen Ideale und auf die Erde mit ihren realen Bewohnern blicken" (176). Hösles Buch hat seine Helden. Keinem anderen als Gorbatschow ist das große Werk gewidmet, und Churchill ist die Figur, die Hösle am häufigsten positiv erwähnt. Hösle hat keinen Zweifel daran, daß die Weltgeschichte als Geschichte gut oder böse handelnder Männer zu schreiben ist. Gottfried Benns so schöne wie berüchtigte Verse über den soziologischen Nenner von Jahrtausenden zitiert er zwar nicht. Aber er variiert ihr zentrales Motiv: "Der soziologische Nenner, / Der hinter Jahrtausenden schlief, / Heißt ein paar große Männer, / Und die litten tief."
Daß Menschen ihre Möglichkeit zu ethischem Handeln häufig verfehlen, ist auch Hösle nicht entgangen. Seine Reaktion darauf ist nun allerdings von einer gewissen Hilflosigkeit. Denn er schließt messerscharf, daß eigentlich nicht sein kann, was nicht sein darf. "Wer sich zur Sphäre reiner Geltung nicht zu erheben vermag, verfehlt das Wesen der Ethik." (109) Eben das aber ist das Problem der Moderne (und für Hösle offenbar nur der Moderne): mit zunehmender Modernisierung und Monetarisierung - plakativ gesprochen: seitdem unreines Geld und grenzenloses Konsumverlangen endgültig reine Geltungsansprüche deklassiert haben - wird Moral zum Subsystem neben Subsystemen. Das zoon politicon aber ist mehr als auf alles andere (mehr als auf Konsum, Institutionen, Medien) auf Moral angewiesen. Ein "Wesen (wie der Mensch), das nichts mehr muß, aber sehr viel kann, bedarf dringend der Moral, wenn es nicht das unterbieten soll, was an objektiv Richtigem die vormenschliche Evolution schon erreicht hat." (288) - siehe die oben erwähnte Parasitengeschichte. Menschen sind, nach Arnold Gehlens nicht sehr charmantem Wort, instinktentbundene Mängelwesen und eben deshalb auf starke Institutionen (so Gehlen) oder mehr noch auf Moral (so Hösle) verpflichtet. Das Problem solcher Argumentate ist schnell ersichtlich. "Die Krone der Schöpfung, der Mensch, das Schwein", um nochmals den Pfarrerssohn Gottfried Benn zu zitieren, ist, was Hösle wohl weiß, aber als "Wesensverfehlung" abtun will, eben auch das Un/Tier, das Seinesgleichen töten, Orgien feiern, überschreiten, Gott verfluchen, kurzum: pervers und böse sein kann. Hösles rührend hilfloser Kommentar zu diesem so banalen wie weitreichenden Kern schwarzer Anthropologie: "Die erste Aufgabe des Menschen ist, sich selbst in Ordnung, Selbst und Ich in Übereinstimmung zu bringen." (362)
Diese Aufgabe hat die Neuzeit und Moderne zunehmend aus dem Blick verloren. Hösles Schimpfreden auf Moderne und Spätmoderne sind von einer Schlichtheit, die frappierend hinter das Niveau seiner sachlichen Grundlegungsversuche zurückfällt. Einige Kostproben: "Der Größenwahnsinn der sich mit immer neuen Moden ständig selbst entwertenden Spätmoderne, die sich ausschließlich über Komposita mit ‘Post’ und ‘Jenseits’ zu definieren weiß und eine Tradition dekonstruiert, die unvergleichlich größer war als sie selbst, ist nur noch bemitleidenswert." (685) Seltsame Worte: denn im Verdacht, von Größenwahn nicht ganz frei zu sein, steht doch wohl der, der auf 1200 Seiten Grundlagen für nichts Geringeres als eine weltweit gültige Politische Ethik für das 21. Jahrhundert ausbreitet. Und nicht der, der essayistisch Fragen an die Tradition und ihre so abgründige Liebe fürs System und für die Grundlegungen stellt. Über den Typus des antisystematischen Intellektuellen schreibt Hösle, als wolle er Harald Schmidts Kabarettkünste seinerseits karikieren: "In manchen westlichen Gesellschaften etwa ist man kaum salonfähig, wenn man nicht zeigt, daß man ‘kritisch’ zu denken, also die Regierung zu beschimpfen und die traditionelle Religion durch den Staub zu ziehen vermag." (343) "Der unzufriedene Dünkel der meisten Intellektuellen in den Massendemokratien unseres Jahrhunderts" (535) ist für Hösle in hohem Maße am Elend der Moderne schuldig. "Arme Spätmoderne", seufzt der Autor denn auch mehrmals.
Und leistet sich Wendungen, die so eklatant hinter dem Niveau anderer Passagen zurückbleiben, daß man daran zweifelt, ob es dem Autor selbst gelungen ist, "Selbst und Ich in Übereinstimmung zu bringen". Eine ganz kleine Blütenlese: Hösle behauptet en passant z.B., "daß die Zahl der Besonnenen in reichen Gesellschaften gering ist" (379), daß "dort, wo Nahrung knapp ist, ... gelegentlich sogar die Verspeisung (der arbeitsunfähigen Alten) Sitte war" (565), daß sich "komplementär zum Marketingspezialisten ... als weitere Grundfigur der späten Moderne der Psychoanalytiker" entwickelt hat (723) und daß "der moderne Mensch (schwerlich) glücklicher ist als der traditionelle" (724). Der moderne Mensch, der traditionelle Mensch!
Doch noch solche Stilblüten belegen die beeindruckende Ernsthaftigkeit dieses Buches. Es erscheint in einer intellektuellen Konstellation, die lange Zeit geprägt war durch feine ironische und paradoxiebewußte Köpfe. So unterschiedliche Theoretiker wie Odo Marquardt, Niklas Luhmann, Peter Sloterdijk, Norbert Bolz, Richard Rorty oder Jacques Derrida hatten und haben bei aller Unterschiedlichkeit doch diese Gemeinsamkeit: sich von ernsthaften Letztbegründungsbehauptungen ironisch verabschiedet zu haben. Mit dem Bocksgesang von Botho Strauß kam ein unerwartet dumpf-dummer Affektton in die zeitdiagnostische Debatte. Ein ehemals glänzender Stilist und feiner Ironiker gab in schlechtem Deutsch brutal zu erkennen, daß es ihm blutig ernst geworden war. Auf - weiß Gott! - höherem Niveau haben sich Theoretiker wie George Steiner diesem Ton der neuen Ernsthaftigkeit angeschlossen. Vittorio Hösle hat diesen ernsten Ton nun nobilitiert und mit deutscher Gründlichkeit seine Partitur neu ediert. Der Preis für das Umschalten von Paradoxiebewußtsein auf Tilgung performativer Widersprüche und von Ironie auf Ernst ist hoch. Hösle nämlich verliert auf den 1200 Seiten seines Buches kein Wort über die funktionale Alternative zu allen Versuchen einer Ethikbegründung. Und die lautet seit der klassischen Antike: auf Stil zu setzen statt auf Moral. Warum? Weil die moralische Leit-Unterscheidung von gut und böse eine leidvolle Unterscheidung sein kann. Sie sorgt nämlich für schnelle Eskalationen.
Aus dem Blick gerät damit die stilbewußte Dialektik, die den größten klassischen Texten eigen ist. Nun ist natürlich ein Goethe-Zitat fällig (auch deshalb, weil Hösle zwar gerne die ganz Großen zitiert, Goethes Texte aber nur ungern streift). Läßt Goethe Mephisto doch von sich sagen, er sei ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Ein Bonmot, weil es ironisch danach verlangt, auch seine Umkehrung zu versuchen. Wer stets das Gute will, kann dabei stets auch das Böse schaffen. Wer immer redlich Argumente von universalistischem Anspruch aneinanderreiht, ist stillos. Denn Argumente sind unfein. Warum? Schon einfach deshalb, weil sie - anders als Bonmots, Sottisen, Fragmente, Aphorismen, Allusionen, essayistische Geistesblitze und Ironien - vom anderen Zustimmung, wenn nicht Unterwerfung fordern. Und schon geht jener Kampf los, den man sich erspart, wenn man jenseits von Gut und Böse darauf achtet, daß man Mindestansprüchen an Stil standhält. Um konkreter zu werden: Wenn hohe Gewerkschaftsmanager einen Genossenschaftsbetrieb ausnehmen, als wollten sie Räuberkapitalisten karikieren; wenn ein Politiker sein großes Ehrenwort bricht oder der Vorsitzende einer Großbank seinen systematisch steuerkriminellen Vorstandsmitgliedern eine Ehrenerklärung gibt; wenn eine bürgerliche Partei einen vorbestraften Steuerkiminellen zu ihrem Ehrenvorsitzenden macht, wenn ein konservativer Politiker die Adressenkartei seiner Anwaltskanzlei langfristig und für bemerkenswert viel Geld "verpachtet" - so ist das noch vor aller moralischen Erregung schlicht stillos. Stilbewußtsein aber ist ein Vorwarnsystem zur Verhinderung von Moraldiskursen. Um eine Alternative zu Hösles nicht sehr origineller Jetztzeitdiagnostik anzubieten - wir Postmodernen leiden nicht so sehr an einem Mangel an Moral als viemehr an einem Mangel an Stil.
Hösles Buch ist stilistisch so grundlegend argumentativ, so ernsthaft und also ironiefern, wie es seinem schwarzen Fleck entspricht. Und dieser schwarze Fleck ist schnell erkannt und benannt. Hösle ist, wie viele, aber nicht alle Moralisten (das wunderbarste Beispiel ist Montaigne), unsensibel für die moralischen Dimensionen des Stilbewußtseins. Sein Wälzer ist ein weiteres Indiz dafür, daß ein intellektuelles Feld sich auf neue Töne einschwingt. Es sind im besten Fall die sehr alten Töne vom Schönen, Wahren und Guten, die, wenn man sie recycelt, klassizistisch werden. Hösles Buch hat das Zeug nicht zum Klassiker, wohl aber zum Klassiker des Theorieklassizismus. Hösle hat - contre coeur, versteht sich - ein postmodernes Buch geschrieben.