Dienstag, 19. März 2024

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Moralkritik
"Die politische Einmischung der Kirche halte ich für verfehlt"

"Im Moralapostolat" heißt das Buch von Horst G. Herrmann. Darin kritisiert er eine "Zivilreligion der Schuld- und Willkommenskultur". Diese habe mit der Reformation begonnen. "Angela Merkel ist genau so ein Sturkopf wie Luther", sagte er im Dlf.

Christiane Florin im Gespräch mit Horst G. Herrmann | 11.07.2018
    Ein riesiger Geschäftsmann ermahnt einen Miniatur-Geschäftsmann mit ausgestrecktem Zeigefinger, über dem kleinen Mann schweben Pfeile.
    Ein riesiger Geschäftsmann ermahnt einen Miniatur-Geschäftsmann mit ausgestrecktem Zeigefinger, über dem kleinen Mann schweben Pfeile. (imago/Ikon Images)
    Christiane Florin: In "Tag für Tag" beschäftigen wir uns in lockerer Folge mit dem Verhältnis von Moral und Glauben. Es ist gerade in Mode, Moral gleichzusetzen mit Moralismus und Hypermoral, mit Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, Moral ist zum Schimpfwort geworden. Vor kurzem landete ein Buch auf meinem Schreibtisch mit dem Titel "Im Moralapostolat". Darin legt der Autor Horst Herrmann eine heiße Spur von der Reformation bis zur, Ökumene der Moralisten, wie er es nennt, von Luther bis Heinrich Bedford-Strohm und Angela Merkel. Der wortwitzige Stil des Buches hat meine Neugier geweckt, der Inhalt meinen Widerspruchsgeist. Gestern war Horst Herrmann bei uns im Studio zum Interview. Er nennt sich selbst einen freien Beobachter und Philosophen. Ich wollte zunächst von ihm wissen, was ist ein Moralapostel ist.
    Horst G. Herrmann: Ich könnte jetzt antworten, ein Moralapostel ist jemand, der Moral verabsolutiert. Also jemand, der Moral verabsolutiert, wird in meiner Einschätzung mit dem Begriff der Tugend nicht viel anfangen können, weil man Tugenden nicht so gut verabsolutieren kann. Klugheit, Besonnenheit, Tapferkeit, die sperren sich so ein bisschen gegen das Verabsolutieren. Die klassische tugendethische Frage: Was soll ich tun?, stellt sich eigentlich für einen Moralapostel nicht so. Ich denke einmal, ein Moralapostel würde sich, wenn er sich überhaupt eine Frage stellt, die Frage stellen, was muss ich tun. Moralapostel, finde ich, lieben auch so einen Satz wie: "Es kann nicht sein, dass… ". Ich finde, er ist unnachsichtig, ungnädig, er ist auch ressentimentbeladen.
    Florin: Und inwiefern können Sie diese Linie vom Moralapostel zu Luther ziehen?
    "Dieser Satz könnte auch vom IS stammen"
    Herrmann: Das Spannende ist, dass bei Luther diese Ausschließlichkeit in Theologie übergegangen ist. Die lutherischen Soli liefern schon die Zuspitzung.
    Florin: Also das "allein".
    Herrmann: Allein die Gnade, allein der Glaube, allein die Schrift, allein Christus, dahinter steckt ein Glauben-Müssen, ein Lesen-Müssen, ein Begnadet-sein-Müssen, Auf-Christus-schauen-Müssen. Taten spielen für Heil oder Unheil überhaupt gar keine Rolle. Das war eigentlich genau die Lehre der Reformatoren. Es gibt da einen Satz, den ich gerne zitiere und der auch deutlich macht, worauf das dann hinausläuft. Luther sagt: "Könnte ich doch etwas ganz Ungeheures an Sünde anstellen, bloß um den Teufel zum Besten zu haben, damit er einsähe, dass ich keine Sünde anerkenne und mir keiner Sünde bewusst bin." Luther fährt sogar fort: "Diese Versuchung ist ja notwendiger als Essen und Trinken." Ich finde, das ist zwar ein Satz von 1500 so und so, aber dieser Satz könnte vielleicht, wenn man vom Trinken absieht, auch vom IS stammen.
    Florin: Ihr Buch ist kein rein historisches Buch über die Reformation oder über die Gedankenwelt Martin Luthers, sondern voller Kritik an der heutigen Zeit und an der heutigen evangelischen Kirche. Was werfen Sie der vor?
    Herrmann: Es ist sehr viel, was man ihr vorwerfen kann. Sie produziert eingebettete Hirten, würde ich schon einmal sagen.
    Florin: Das heißt? Embedded…?
    Herrmann: Embedded ... Priester sind es ja nicht, aber Bischöfe zum Beispiel.
    Florin: Eingebettet in was?
    Herrmann: Also, sie suchen die Nähe zur Macht.
    Florin: "Zur Macht" heißt in dem Fall zum Staat, zur Politik?
    Herrmann: Sie gehen beim Kanzleramt ein und aus.
    Florin: Was ist daran so verwerflich? Das tun ja andere auch.
    "Man betet, was Frau Merkel plakatiert, eins zu ein nach"
    Herrmann: Ja, ich würde aber mit der Geschichte, die ja gerade die evangelische Kirche in Deutschland hat, sehr vorsichtig sein.
    Florin: Warum? Wegen der "Deutschen Christen"?
    Herrmann: Wegen der "Deutschen Christen".
    Florin: Ganz bestimmt ist doch die Bundesrepublik nicht dasselbe wie die NS-Diktatur. Die "Deutschen Christen" waren ja nun Hitlers Lieblinge.
    Herrmann: Ja, aber selbst dieser innerevangelische Counterpart "Bekennende Kirche", das waren jetzt auch nicht gerade Demokratiefreunde. Ich würde mit so einer Geschichte eben vorsichtig sein. Distanz aufgrund dieser Geschichte, die halte ich für angezeigt und die Nähe ist mir zu groß, weil man im Grunde das, was Frau Merkel plakatiert, eins zu eins nachbetet. Also, ich sehe da auch fast kaum einen Unterschied.
    Florin: Wenn evangelische Bischöfe etwas anderes sagen würden, zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik, wenn sie für Obergrenzen plädieren würden oder für die Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen, fänden Sie das dann auch unangemessen oder ist es einfach nur eine Moral, die Ihnen nicht passt, die Sie da kritisieren?
    Herrmann: Nein, also ich würde das genauso zurückweisen wollen. Ob jetzt mit dem Begriff der Heimat, der Obergrenze, das ist für mich auch Wortmagie, halt nur sozusagen mit umgekehrten Vorzeichen.
    "Der Begriff der Erlösung gerät aus dem Blick"
    Florin: Sie wünschen sich also eine Kirche, die sich politisch nicht einmischt?
    Herrmann: Genau, ich würde sagen, die Einmischung der Kirche halte ich für verfehlt.
    Florin: Aber was folgt aus so einem Satz, wie er im Evangelium steht: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan? Daraus folgt doch nicht Stillschweigen, wenn dem Geringsten Unrecht geschieht?
    Herrmann: Stillschweigen ist auch vielleicht nicht der Punkt. Diese Frage "Stillschweigen oder Reden?" ist ja so eine Sache, bedient dieses Narrativ der Redlichkeit, also dass man irgendwie die Stimme erhebt. Ich würde das Konkrete lieber stark machen als so ein Engagement, was sich oft nur verbal äußert. Diese Bedford-Strohm-Agenda, die er verbreitet, es ist ja auch billig zu haben.
    Florin: Die öffentliche Theologie, meinen Sie?
    Herrmann: Die öffentliche Theologie, die Gefahr der öffentlichen Theologie, die besteht für mich immer darin, dass man den Begriff der Gerechtigkeit unheimlich stark macht. Die machen natürlich auch andere Akteure in politischen Systemen stark. Sie konkurrieren ja auch im Grunde mit anderen Akteuren. Also, die evangelische Kirche konkurriert mit Amnesty International, mit Avaaz, mit allen möglichen Akteuren.
    Florin: Aber sie begründet ja ihre Position anders als Amnesty International.
    Herrmann: Unwesentlich anders, meistens kann sie sogar froh sein bei diesem Agenda Setting, von diesen Akteuren nicht noch abgehängt und überholt zu werden. Was mir dabei fehlt, ist der Hinweis auf den eschatologischen Vorbehalt. Das ist so eine Denkfigur von Erik Peterson. Das ist ein evangelischer Theologe, der dann zur katholischen Kirche konvertiert ist und dass der Begriff der Erlösung dann nicht mehr in den Blick gerät. Der eschatologische Vorbehalt, ihn zu formulieren, das wäre eigentlich das, was ich von der Kirche erwarte, denn dieser Vorbehalt besagt, dass die Wiederkehr Christi noch aussteht und deshalb hier auf Erden immer vieles schmerzhaft aussteht und offen bleiben muss. So verstehe ich diesen eschatologischen Vorbehalt.
    "Man bearbeitet ein historisches, konfessionelles schlechtes Gewissen"
    Florin: Inwiefern haben Bischöfe diese eschatologischen Vorbehalt nicht?
    Herrmann: Sie formulieren ihn nicht mehr, denn der Gottesbezug, der verdunstet ja gegenüber einem Wortschwall...
    Florin: Gerade in der Flüchtlingspolitik wird dieses Motiv der Gottesebenbildlichkeit doch sehr oft benutzt als Begründung für die Gleichheit aller Menschen.
    Herrmann: Der Begriff der Gottesebenbildlichkeit, zumindest in der klassischen evangelischen Theologie, die geht ja davon aus, dass von der Gottesebenbildlichkeit gar nichts übrig ist und dass man gerade deswegen der Rechtfertigung bedarf. Ich weiß jetzt nicht, ob Sie das nur meinen, ob die evangelische Kirche mittlerweile umgeschwenkt ist und jetzt von der Gottesebenbildlichkeit wieder ausgeht. Klassischerweise geht sie eben nicht davon aus, sondern der Mensch ist ganz, ganz schlecht.
    Florin: Die Gottesebenbildlichkeit ist nicht eine Aussage allein über die Eigenschaften des Menschen, sondern über den Wert, über die Würde des Menschen.
    Herrmann: Richtig, aber der Mensch kann in seiner Errettung oder in seiner Rechtfertigung nichts machen. Er kann eigentlich nur glauben. Spannend ist auch, dass mittlerweile fast schon eine tugendethische oder handlungsethische Agenda aufgestellt wird. Ich vermute, dass es daran liegt, dass man ein historisches, konfessionelles schlechtes Gewissen bearbeitet, indem man jetzt sozusagen ins Gegenteil verfällt.
    Florin: Das heißt, man trägt Schuld ab?
    Herrmann: Man trägt Schuld ab.
    Florin: Welche Schuld?
    "Die Agenda der Reformatoren war eine hochmoralische"
    Herrmann: Die Agenda der Reformatoren war ganz früh auch deswegen eine hochmoralische, weil sie mit Exklusion gearbeitet hat, mit Ächtung. Es ging um die Ächtung von Frauenklöstern, es ging um die Ächtung von Prostitution. Ächtung war der Modus der Durchsetzung der Reformation. Die Produktion von Unwörtern, die es vorher überhaupt nicht gab, Unzucht zum Beispiel. Das, was wir heute erleben, hat ganz viel mit einem konfessionell kollektiven schlechten Gewissen zu tun, was massiv bearbeitet wird.
    Florin: Dass Menschen Flüchtlingen helfen, hat mit dem kollektiven schlechten Gewissen zu tun?
    Herrmann: Nein, aber dass man sich das zur Agenda macht. Dass Menschen Flüchtlingen helfen, da muss man auch kein Christ für sein. Also Menschen können Flüchtlingen helfen.
    Florin: Ja, aber es steht ja in Ihrem Buch so etwas unter Verdacht, dass die das tun, weil sie eine historische Schuld abtragen wollen oder weil sie nach Identität suchen auf diesem Weg.
    Herrmann: Das lesen Sie aus meinem Buch?
    Florin: Ja.
    Herrmann: Da habe ich eigentlich nichts mit zu tun. Also, das würde ich nicht so sehen.
    Florin: Sie schreiben zum Beispiel, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die Vergangenheitsbewältigung, eine Art Zivilreligion ist.
    Herrmann: Ja.
    "Die Zivilgesellschaft hat Züge einer Zivilreligion, einer Gesinnungstheokratie"
    Florin: Sie stellen den Zusammenhang her zwischen der nationalsozialistischen Schuld - Sie schreiben auch vom "Sündenstolz" - und der Willkommenskultur gegenüber den Flüchtlingen. Das habe ich ja nicht erfunden. Das schreiben Sie ja.
    Herrmann: Ja, da geht es ja jetzt nicht so sehr darum, um eine theologische Agenda, sondern das ist vielleicht eine politische Agenda, die sich mit theologischen Artefakten umgibt. Das würde ich jetzt nicht der evangelischen Kirche zum Vorwurf machen, obwohl die evangelische Kirche tatsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg spannenderweise von kollektiver Schuld sprach, das auch etabliert hat, während die katholische Kirche unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg darauf beharrt, dass Schuld auch an größten Verbrechen immer nur eine individuelle sein kann.
    Florin: Warum schreiben Sie es denn dann, wenn Sie es so nicht meinen? Warum stellen Sie diese Verbindung her zwischen der NS-Vergangenheit und der Willkommenskultur für Flüchtlinge oder der Hilfe für Flüchtlinge?
    Herrmann: Das ist ja dieses mentale Setting, was ich mit dem Begriff des Moralapostolats versuche zu verbinden, also dass die Zivilgesellschaft längst Züge einer Zivilreligion, einer Gesinnungstheokratie angenommen hat. Ich finde, wenn alle medialen Akteure Gefahr laufen, sich als mediale Messdiener in zivilreligiösen Liturgien zu betätigen, dann halte ich es einfach für kritisch.
    Florin: Aber Ihnen ist schon bewusst, dass Worte wie "Asyltourismus" oder aus anderem Zusammenhang die "Systemparteien", die "Lügenpresse", dass diese Worte in die Mehrheitsgesellschaft eingesickert sind. Also der "Mainstream" ist doch längst gegen zu viel Vergangenheitsbewältigung, gegen Hilfe für Flüchtlinge. Sie bauen da einen Pappkameraden auf.
    "Habermas, der emeritierte Frankfurter Pontifex"
    Herrmann: Wo ist der Pappkamerad?
    Florin: Der Pappkamerad besteht darin, dass Sie behaupten, die Mehrheitsmeinung sei so, wie Sie sie beschreiben, also zivilreligiös, Messdiener dieser Zivilreligion. Wo sind die Messdiener? Wer ist das denn?
    Herrmann: Also der Hohepriester ist zum Beispiel Jürgen Habermas. Er ist der emeritierte Frankfurter Pontifex, würde ich sage. Also ich würde schon sagen, das ist ein Glaubenswächter.
    Florin: Über welchen Glauben? Was ist das Credo, das die Habermas-Jünger ablegen müssen?
    Herrmann: Das Credo ist wahrscheinlich auch das: "Es kann nicht sein, dass…" Ich würde es klar sagen, mein Buch hat mit links und rechts nichts zu tun. Für mich sind das mimetische, also nachahmende Rivalen, und zwar auch in ihrer Nichtanfragbarkeit. Die linke Seite bekommt vielleicht etwas mehr Breitseite ab in dem Buch, weil sie es sich besonders einfach macht mit der Verdammung des rechten Counterparts. "Wehret den Anfängen", das, finde ich, ist eine unsägliche Banalisierung des Bösen, das real stattgefunden hat, und mit der Antifa gehe ich keinen Millimeter mit.
    Florin: Ich habe jetzt immer noch nicht verstanden, was Sie mir damit sagen wollen. Wir haben über links und rechts ja noch gar nicht gesprochen, sondern wir haben darüber gesprochen, ob es stimmt, dass die Vergangenheitsbewältigung, dass kollektive Schuldbekenntnis eine zivilreligiöse Handlung ist. Wenn Sie sich Umfragen anschauen, da sagt doch inzwischen eine Mehrheit der Deutschen, dass endlich einmal Schluss sein soll. Wo soll da die Zivilreligion sein?
    Herrmann: Wir müssen es jetzt gar nicht in der Vergangenheitsbewältigung…
    Florin: Ja, aber das machen Sie ja in Ihrem Buch sehr stark.
    "Die Kanzlerin ist eine Prophetin oder Notbischöfin"
    Herrmann: Nehmen wir einfach die Willkommenskultur. Wenn die Kanzlerin von der Alternativlosigkeit ihrer Politik spricht, ist sie keine Politikerin mehr, sondern sie ist eine Prophetin oder eine Art Notbischöfin, wie in der Reformationszeit, als die weltlichen Fürsten mit geistlichen Vollmachten ausgestatten wurden. Es gibt von ihr einen bezeichnenden Satz, und der ist hier in Deutschland gesprochen worden in Bezug auf die Flüchtlinge. Ich zitiere: "Ich halte es mal mit Kardinal Marx, der gesagt hat, der Herrgott hat uns jetzt diese Frage auf den Tisch gelegt." Dann gab es noch diesen berühmten selbstrechtfertigenden Satz: "Ich habe mir nichts vorzuwerfen." Unanfragbarer und entrückter und unpolitischer geht es nicht.
    Florin: Aber sie (Angela Merkel) hat sich ja geändert.
    Herrmann: Ja, aber sie ist eben genau ein Sturkopf wie Luther. Im Grunde alles kehrt sich dialektisch letztlich gegen sie, aber das ist ja nicht die Frage meines Buches, sondern haben wir es noch mit einem politischen Setting zu tun oder eben doch mit einem zivilreligiösen und wenn sich Politiker mit Bischöfen gemein machen oder darauf hoffen, vielleicht zum Notbischof erklärt zu werden, dann ist das Kind halt in den Brunnen gefallen.
    Florin: Das ist eine merkwürdige Sicht auf die Kirchen, die, wenn man nüchtern draufschaut, an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren. Welcher Politiker sollte ein Interesse daran haben, ein Notbischof zu werden, wenn ein Bischof gar keine Autorität mehr ist?
    Herrmann: Also, die öffentliche Präsenz der Bischöfe steht ja im umgekehrten Verhältnis zu den Kirchenbänken oder auch vielleicht zur Kirchenmitgliedschaft. Also, da gibt es schon noch eine große Diskrepanz und ich vermute mal, die Nähe zur Macht ist im Grunde das Einzige, was ihnen noch bleibt, weil sie spirituell völlig entkernt sind.
    "Evangelischer Glaube erschöpft sich in Engagement, in Mündigkeit"
    Florin: Woher wissen Sie das? Spiritualität entzieht sich vielleicht der Öffentlichkeit.
    Herrmann: Mit Sicherheit entzieht sie sich. Aber die Frage wäre natürlich, ob spirituelle Impulse von Bischöfen nicht durchaus zu erwarten wären, zum Beispiel indem vielleicht von Erlösung mal die Rede ist und vielleicht auch ein Gegensatzpaar zur Gerechtigkeit gebracht werden könnte.
    Florin: Ich könnte Ihnen hundert Predigten nennen, die auch gerne bei etwas prominenteren Anlässen gehalten werden, die von Erlösung sprechen, die von Auferstehung erzählen. Die schaffen es halt oft nicht in die Medien, weil wir nach anderen Mustern suchen, aber die werden doch gehalten. Welche empirischen Belege haben Sie für Ihren Befund?
    Herrmann: Also in meinem Buch kommen fast ausschließlich evangelische Theologen zu Wort, zeitgenössische oder auch Theologen, die mittlerweile verstorben sind, Anfang des 20. Jahrhunderts, und auf die beziehe ich mich.
    Florin: Sich auf Theologen zu beziehen oder die zu zitieren, ist ja noch kein Beleg. Warum glauben Sie, dass Spiritualität und öffentliche Theologie einander ausschließen?
    Herrmann: Ich glaube das gar nicht und mein Buch macht das auch nicht stark.
    Florin: Naja, Sie schreiben, es ist ja zu viel öffentliche Theologie. Es ist ja eigentlich nur noch öffentliche Theologie.
    Herrmann: Ja, das schreibe ich schon.
    Florin: Vielleicht weil Sie nach der Spiritualität gesucht haben?
    Herrmann: Wenn Sie Äußerungen zum Beispiel von Bedford-Strohm für so gering einschätzen, dass er im Grunde da nicht irgendwas sagt, was zutrifft, wenn eine Theologin wie Sabine Bobert davor warnt, dass die evangelische Spiritualität völlig zu kurz kommt, wenn sie von einer fixierten Pubertät als mentalem Setting von evangelischen Christen…
    Florin: Was heißt "Pubertät als mentalem Setting"?
    Herrmann: Ja, fixierte Pubertät. Für Sabine Bobert erschöpft sich evangelische Spiritualität oder auch evangelischer Glaube in Engagement, in Mündigkeit.
    Florin: Vielleicht hat sie nicht richtig hingeschaut.
    Herrmann: Das ist natürlich völlig möglich. Das heißt, alle Stimmen, die ich in meinem Buch zitiere, haben wahrscheinlich alle nicht richtig hingeguckt. Alle Stimmen, die ich im Buch zusammentrage, sind dann einfach Stimmen, auf die man besser nicht hört und die völlig irrelevant sind.
    Florin: Die nicht irrelevant sind, aber die nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden.
    Herrmann: Ja, aber vielleicht einen ganz entscheidenden Teil und ein Teil, der unter die Räder kommt. Man kann sich die Sache schönreden, das Christ-Sein schönreden und Predigten abfeiern und Stuhlkreise bilden.
    "Es gibt systematische Fehlstellungen"
    Florin: Das ist ja auch schon das Klischee mit den Predigten abfeiern und den Stuhlkreisen. Es gibt eine ganze Breite an Frömmigkeitsformen, in beiden Kirchen.
    Herrmann: Ja, aber die gibt es doch.
    Florin: Ja, die gibt es. Eben.
    Herrmann: Die gibt es, aber es gibt systematische Schwächen, systematische Fehlstellungen. Auf diese systematischen Fehlstellungen versuche ich einzugehen. Vielleicht ist das sogar das Missverständnis oder das, was Sie vielleicht in dem Buch nicht erkennen oder vielleicht nicht erkennen wollen. Es geht um Systematik. Es geht um eine Systematik und jede Systematik versucht zuzuspitzen. Eine Systematik hat immer zur Voraussetzung, dass ich nicht jetzt jeden Einzelfall, jedes stille Beten im Kämmerchen von irgendeinem evangelischen oder katholischen Christen nachzeichne. Ich bin ganz bei Ihnen: Diese große Breite, die gibt es, aber es gibt eben auch die systematischen Fehlstellungen und die fingen schon im Anfang, in der Geburtsstunde der Reformation an.
    Florin: Warum glauben Sie, werden Sie von Ellen Kositza in der (Zeitschrift) "Sezession" gelobt?
    Herrmann: Ellen Kositza, soweit ich weiß, ist katholisch.
    Florin: Und eine Frontfrau der Neuen Rechten. Was gefällt der Neuen Rechten an Ihren Thesen?
    "Relaunch des Katholischen, Dogmatischen, Liturgischen"
    Herrmann: Da müssen Sie die Neue Rechte fragen.
    Florin: Das können Sie auch selber beantworten.
    Herrmann: Warum?
    Florin: Weil Sie den Text ganz bestimmt gelesen haben und weil man sich ja Gedanken darüber macht, von wem man Lob oder von wem man Kritik bekommt. Ich glaube nie den Autoren, die sagen, ich lese nicht die Rezensionen meines Buches.
    Herrmann: Also ich kann nur wiederholen, dass mein Buch und auch ich mit rechts und links nichts zu tun habe, aber ich kann mir gut vorstellen, dass die Neue Rechte eher Probleme hat, dass ich das Katholische stark mache in meinem Buch, und zwar das Katholische auch als Kern des Westens und im Buch geht es ja nur auf der Negativfolie der Reformation eigentlich um ein Relaunch des Katholischen, des Dogmatischen, des Liturgischen. Ob das auch mit seiner Ambivalenzfähigkeit und dem Spagat zwischen Norm und Abweichung, ob das alles der Neuen Rechten, die zum Teil auch eher neuheidnisch unterwegs ist, ob das wirklich dort goutiert wird, das wage ich sehr zu bezweifeln.
    Florin: Stört Sie das denn, dass Sie von denen gelobt werden?
    Herrmann: Also, ich freue mich über jedes Lob.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Horst G. Herrmann: Im Moralapostolat. Die Geburt der westlichen Moral aus dem Geist der Reformation. Manuskriptum/Edition Sonderwege.