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Mord vor der Haustür

Der israelische Historiker Daniel Blatman beschreibt in seinem Werk, wie im Winter 1944/45 mehr als 700.000 KZ-Insassen über Straßen getrieben wurden und wie rund ein Drittel von ihnen starb: Verhungert, erschossen von den Wachen, ermordet von braven deutschen Bürgern, die die Häftlinge jagten.

Von Henry Bernhard | 31.01.2011
    Was für ein Buch! Wir glauben, alles zu wissen über den barbarischen Völkermord, über die Zustände in den Konzentrationslagern, da trägt uns ein Historiker das Grauen vor die eigene Haustür. Nein, er trägt es nicht dorthin, sondern er findet es dort. In kleinen Dörfern, in Wäldern; beim Nachbarn, beim Großvater; beim Volkssturmmann und Hitlerjungen. In dem Moment, als sich das Dritte Reich auflöst, als der sichere Untergang immer näher rückt, werden die Häftlinge der Konzentrationslager auf die Reise geschickt: Zuerst, im Januar 1945 vom Osten, von Auschwitz, in den Westen, später, im März, April, Mai 1945, von Buchenwald, Mittelbau-Dora und Sachsenhausen in den Norden oder in den Süden. Immer weg von der oft schon hörbaren Front.

    Die Evakuierung der Konzentrationslager verläuft zumeist überstürzt, schlecht organisiert, und unter katastrophalen Versorgungsmängeln. Wo Züge zur Verfügung stehen, werden die Häftlinge in offene oder geschlossene Güterwagen gepfercht, mit denen sie mitunter Wochen unterwegs sind, oft auch noch von amerikanischen Tieffliegern beschossen. Andere werden in endlosen Kolonnen zu Fuß über die von Flüchtlingen und Soldaten ohnehin verstopften Straßen getrieben. Wer vor Erschöpfung, Krankheit, Hunger, Durst oder Kälte nicht mehr weiter kann, wem die lumpenumwickelten Füße im Schnee erfrieren, wer zusammenbricht oder einfach aufgibt, wird vom Begleitpersonal sofort erschossen. Leichen säumen die Straßen. In manchem Transport werden so innerhalb weniger Tage die Hälfte der Häftlinge ermordet – mit Gewehren, Maschinenpistolen, Knüppeln, Handgranaten, Flammenwerfern, lebendig verbrannt, im Fluss ertränkt oder mit Felsbrocken erschlagen. Hunderttausende Häftlinge sterben in diesen letzten Kriegswochen.

    Immer weniger KZs bleiben übrig. Groß-Rosen, Bergen-Belsen, Ravensbrück, Dachau, Buchenwald oder Gusen werden nun zu überfüllten und chaotischen Vernichtungslagern, mit Hunger und Kälte als Mordwaffe, mitunter sogar mit improvisierten Gaskammern. Der Autor beschreibt Todesmarsch um Todesmarsch, Massaker um Massaker, nennt mit buchhalterischer Strenge Zahlen, Namen der Täter und Orte. Dabei ist seine Sprache beinahe schmerzlich kühl und sachlich. Er will verstehen, nicht urteilen.

    Als die Türen des Zuges geöffnet wurden, bot sich ein grauenvoller Anblick. Die etwa 400 kranken und völlig entkräfteten Häftlinge lagen auf dem Boden der Waggons, ohne sich rühren zu können. Sie trugen die gestreiften Häftlingsjacken und an den Füßen Holzschuhe, aber nicht wenige lagen vollkommen nackt auf dem Waggonboden. Aufgrund der kalten Witterung waren etliche unterwegs erfroren. Viele der Häftlinge waren mit Kot und Exkrementen beschmiert und kaum von Toten zu unterscheiden. Ein bestialischer Gestank stieg aus den Waggons auf. Etwa 60 Leichen wurden aus den Waggons geborgen.
    Der Autor Daniel Blatman untersucht, was die KZ-Häftlinge selbst nicht verstanden: Warum trieben die Nazis sie vor der Front her, anstatt sie gleich zu ermorden? Die Antwort ist so einfach wie grausig: Die Häftlinge hatten, solange sie noch ihre Arbeitskraft besaßen, einen ökonomischen Wert. Die deutsche Kriegswirtschaft setzte seit 1942 auf die Arbeitssklaven. Nie, auch nicht einen Moment lang, ging es den Verantwortlichen um das Schicksal der Häftlinge. Sie waren nur eine Masse, die auf den strapaziösen Märschen schließlich auch noch ihren einzigen "Wert", ihre Arbeitskraft, verloren hat. "Evakuierung" wurde so irgendwann zu einer Metapher, zu einem Euphemismus für die Bemühung, die Häftlinge einfach loszuwerden. Sie waren für viele Deutsche, wie Blatman schreibt, nicht wesentlicher oder wertvoller "als eine Unterlegscheibe". Der Massenmord an den Häftlingen auf den Todesmärschen war nicht angeordnet. Die Befehle von oben, vom Reichsführer SS Heinrich Himmler, kamen teils wie über die "stille Post" verformt bei den KZ-Wächtern an, teils waren sie widersprüchlich. Mal wollte Himmler verhindern, dass die Alliierten Häftlinge befreien, mal erwog er, sich selbst zu retten, indem er den Alliierten Juden als "Verhandlungsmasse" anbot. In diesem Chaos verschob sich die konkrete Verantwortung für den Umgang mit den Gefangenen nach unten, zum lokalen Parteifunktionär, zum einzelnen "Volksgenossen".

    Während die Häftlinge durch den Ort zogen, kam es zu einer mörderischen Treibjagd, an der sich rund 200 Personen beteiligten. Die Opfer waren rein zufällig, und auch die Täter waren bunt gemischt. In einem der Dörfer, den der Häftlingstross passieren musste, stellten sich die österreichischen Bauern zu beiden Seiten des Weges auf und prügelten mit langen Stöcken brutal auf die Häftlinge ein, um sie dazu zu bewegen, ihr Dorf schnellstmöglich wieder zu verlassen.
    Da das Lagerwachpersonal für die Todesmärsche oft nicht ausreicht, auch viele SS-Leute im Chaos der letzten Kriegstage desertieren und die Transporte zudem oft im Nirgendwo stranden, sind es häufig lokale Einheiten von Wehrmacht, Volkssturm, Polizei, SA, SS, Feuerwehr, Technischer Notdienst, HJ oder der NSDAP, die die Bewachung und Begleitung der Häftlinge übernehmen. Mit großer Detailkenntnis und Sachlichkeit untersucht Blatman die Motivation dieser sehr unterschiedlichen Gruppen, die nicht nur auf Befehl zu Wächtern über die Todesmärsche, sondern häufig aus eigenem Antrieb zu Mördern der KZ-Häftlinge wurden. Er beschreibt ihre soziale Lage, ihre Rolle im Krieg, ihre persönliche Betroffenheit durch Bombenangriffe und die von Osten her näher rückende Front. Einig waren sich alle Täter darin, dass man die Häftlinge loswerden wollte. Und dafür war jedes Mittel recht. Der fortgesetzte Marsch Richtung Deportationsziel genauso wie der Genickschuss: Keinesfalls jedoch sollten die hungernden Häftlinge befreit in deutsche Städte gelangen können, zu groß war die Angst vor Racheakten.

    Die Morde an den Gefangenen auf den Todesmärschen geschahen also nicht im Affekt, sie waren das Ergebnis einer nüchternen Abwägung. Der Genozid an den Juden wurde so in der Endphase des Krieges dezentralisiert und gleichzeitig auf alle Häftlingsgruppen ausgeweitet. Blatman findet nur wenige Beispiele der Menschlichkeit, der Hilfe für die Häftlinge, stattdessen aber eine allgemeine Bereitschaft zum Mord an Unschuldigen, wo immer diese auf ihren Todesmärschen auftauchten. Die Mörder handelten nie heimlich und hatten keine Angst vor Zeugen. Und so endet dieses großartige Buch, ein Standardwerk für die Zukunft, mit den bitteren Worten:

    In der finalen Phase des NS-Völkermordes überwand auch die letzte Ruhestätte der Opfer ihre Beschränkung auf die Krematorien der Vernichtungslager in Polen, die Erschießungsgruben in Litauen und Weißrussland oder die schneebedeckten provisorischen Gefangenenlager in der Ukraine und erreichte die Haustür der Gesellschaft, die die Täter hervorgebracht hatte.

    Henry Bernhard war das über Daniel Blatman: "Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords". Erschienen ist das Buch bei Rowohlt, 864 Seiten kosten 34 Euro 95, ISBN: 978-3-498-02127-6.