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Moses der Ägypter

In Flauberts Wörterbuch der Gemeinplätze steht, was dem Bürger, der sich für aufgeklärt hielt, zum Stichwort "Hieroglyphen" einfallen sollte. "Alte Sprache der Ägypter, erfunden von den Priestern, um ihre kriminellen Geheimnisse zu verbergen." Die Wissenschaft hatte dieses Vorurteil schon entkräftet, als Flaubert es den belesenen Dummköpfen auf die Zunge legte. Champollions Entzifferung der Hieroglyphen hatte erwiesen, daß sie nicht der Code einer elitären Geheimreligion gewesen waren. Die verbreitete Vorstellung, die ägyptischen Priester hätten mysteriöse Rituale zelebriert, die sie vor dem Auge der Laien verhüllen mußten, war falsch. Es gab nicht zwei Wahrheiten, eine für die Eingeweihten und eine für das Volk.

Patrick Bahners |
    Komisch ist, daß der gebildete Schwätzer, als dessen Bauchredner Flaubert sich betätigt, von der Praxis der Verstellung auf eine verbrecherische Absicht schließt. Flaubert verachtete den Glauben an den Segen der öffentlichen Meinung. Die liberalen Spießbürger wollten nicht anerkennen, daß es Dinge gibt, die der Weise besser für sich behält. Von den gelehrten Meinungen der Vergangenheit hielt das allgemeine Bewußtsein nur den überholten Inhalt fest; die geistige Haltung, der sie Ausdruck gaben, verstand es nicht mehr. Die Philosophen der Aufklärung, die in den heidnischen Priestern Brüder im Geiste verehrten, hatten noch gewußt, daß die Wahrheit ein gefährlicher Besitz ist. Sie trafen sich in verschwiegenen Zirkeln und verschlüsselten ihre ketzerischen Erkenntnisse; mit lebhafter Phantasie malten sie sich die Verkleidungen ihrer ägyptischen Vorgänger aus. Indem Flauberts Biedermann die Diskretion unter Verdacht stellt, setzt er die Aufklärer mit ihrem Mißtrauen gegenüber der Menge ins Recht. Historisch ist die Geschichte von der doppelten Wahrheit im alten Ägypten widerlegt; eine philosophische Moral läßt sich aus ihr immer noch ziehen.

    Eine ähnliche Pointe gewinnt Jan Assmann dem Gemeinplatz von der Priesterverschwörung im Schatten der Pyramiden ab. Zwar redet er keiner akademischen Geheimhaltungspolitik das Wort, was sich auch schwerlich mit seinem Professorenamt vertrüge. Aber er pflegt wie jene Freidenker, die das Fundament des christlichen Glaubens untergruben und die Fassade stehen ließen, eine Rhetorik der Andeutung. Der Hintergedanke, den Assmann mit seiner Untersuchung über Moses im Gedächtnis der Gelehrten verfolgt, könnte kühner nicht sein. Der Leser soll erwägen, ob jener Monotheismus, dessen Verkündigung Moses zugeschrieben wird, nicht ein Irrtum gewesen ist.

    So würde Assmann die Frage allerdings nicht formulieren. Denn er ist gerade über jene Differenz von Wahrheit und Irrtum unglücklich, die der eifersüchtige Gott vom Berg Sinai in die Welt setzte, als er die Anbetung anderer Götter verbot. Der wahre Gott ist der einzig wahre; anders als der olympische Zeus hat er weder Brüder wie Poseidon noch Doppelgänger wie Jupiter. Den Gegensatz zwischen wahr und falsch, der keine Vermittlung zuläßt, sondern eine Entscheidung fordert, nennt Assmann die mosaische Unterscheidung. Der Satz, daß es nur einen Gott gibt, ist ihm nicht als metaphysische These unheimlich, sondern wegen seiner moralischen Implikationen. Jede Theologie bringt nicht nur die natürliche, sondern auch die soziale Welt in Ordnung. Wie im Himmel so auf Erden: Die Vielgötterei erzog zum Pluralismus, der Monotheismus rechtfertigte das Monopol und den Monolog.

    Schon die Kritiker des Christentums unter den Aufklärern haben den heidnischen Göttern gehuldigt, die sich die Verehrung unter vielerlei Namen und in vielerlei Gestalt gefallen ließen. Die nach Rom importierten Kulte, liest man bei Edward Gibbon, galten der Menge als gleichermaßen falsch, den Philosophen als gleichermaßen wahr und den Staatsmännern als gleichermaßen nützlich. Assmann möchte den absoluten Wahrheitsbegriff, den die von Moses gestiftete Religion dem Abendland hinterließ, relativieren, indem er ihn historisiert: Den Gedanken einer Wahrheit, die von jedem Kontext unabhängig sein soll, holt er in den Kontext seiner Entstehung zurück.

    Assmann geht nicht so weit, der Toleranz zuliebe allen Wahrheitsansprüchen ihr Recht zu bestreiten. Er ist, wie man im achtzehnten Jahrhundert gesagt hätte, nicht nur Philosoph, sondern auch Antiquar. Sein imposantes Buch ist ein Obelisk, der an den Wolken allgemeinster Fragen kratzt, aber auf einem Fundament solider Philologie ruht. Eine Kulturwissenschaft, die den Göttern aller Disziplinen Tribut zollt, bleibt meist Programm; hier wird sie Ereignis. Auf seiner Wanderung durch die Landschaften des Gedächtnisses war Assmann auf die Hilfe von Religionswissenschaftlern, Althistorikern, Germanisten und Psychoanalytikern angewiesen. Er legt die neuesten Theorien so virtuos aus wie die ältesten Urkunden. Manche Adepten der Postmoderne kultivieren das Andenken der ägyptischen Weisen, weil sie den Bannkreis des griechischen Logos verlassen wollen. Sie sind stolz auf einen hermetischen Stil, der die Dinge gegen das Licht der Vernunft abschirmt. Solche Hieroglyphen, die gar nicht entziffert werden wollen, schreibt Assmann nicht, der auch als Stilist ein Aufklärer ist.

    Wer in Ägypten die dunklen Denker sucht, fällt auf ein Zerrbild herein, das die Schwarzweißmaler geschaffen haben, die an die mosaische Unterscheidung glauben. Solange der von Moses eingesetzte Gott den Schutz der irdischen Gesetzbücher genoß, waren seine Gegner allerdings gut beraten, wenn sie sich einer dunklen Ausdrucksweise befleißigten. Doch nicht jeder, der in Rätseln redete, verbarg dahinter den Unglauben des Zynikers, dem jede Wahrheit gleichermaßen falsch erschien. In der Spekulation über die Übertragungswege eines archaischen Geheimwissens entdeckt Assmann nicht nur eine ideologische, sondern auch eine intellektuelle Alternative zur mosaischen Unterscheidung. Wenn Moses beim Exodus ägyptische Bücher im Gepäck gehabt hatte, dann konnte man sich die Erkenntnis nicht mehr einfach als Auszug aus dem Reich der Unwahrheit vorstellen. Zwischen Wahrheit und Irrtum mußte es Übergänge geben; die alte Meinung blieb im neuen Wissen gegenwärtig, als Erinnerung.

    Assmann hat den Ehrgeiz, mit seinem Buch eine neue Gattung der Geschichtsschreibung zu begründen, die natürlich aus alten Quellen schöpft: die Mnemohistorie. Er ersetzt die Frage, wer Moses eigentlich gewesen ist, durch das Interesse an den Verwandlungen seiner Gestalt im Gedächtnis von Gläubigen und Ungläubigen. Sensationell ist, daß Assmann auf dem Umweg über die Fernwirkungen viel näher an die Ursache herankommt als ein Positivismus, der in der Wüste einer nachrichtenarmen Frühzeit keine Spuren findet und sogar bezweifeln muß, ob Moses je gelebt hat. Der Stoff der Mnemohistorie sind die Gemeinplätze, die übernommenen Ideen, die sich wider besseres Wissen behaupten und bisweilen sogar dann weiter Macht ausüben, wenn sie vergessen sind.

    Flauberts Wörterbuch dokumentierte den Triumph der Dummheit. Auch der feinste Gedanke kommt herunter, wenn er herumkommt. Assmanns Kompendium feiert die Erfindungen der Klugheit. Die Forscher, die Moses eine ägyptische Vergangenheit gaben, wendeten wenige Topoi hin und her: zwei Bibelverse und ein paar Zitate profaner Schriftsteller. Die Hieroglyphen konnten sie nicht lesen; von Ausgrabungen und Reiseberichten versprachen sie sich nichts. Die Ägyptologie hat diese Pioniere vergessen, die ihr Wissen unseriösen Gewährsleuten wie dem Geschichtenerzähler Herodot verdankten; bei Ausgrabungen kam nichts ans Licht, das die Existenz eines abtrünnigen Priesters namens Moses oder auch nur den Aufenthalt der Juden in Ägypten bewiesen hätte. Assmann revidiert die Version der mosaischen Unterscheidung, die das Selbstverständnis seines Faches wie jeder universitären Disziplin prägt: Dilettantismus ist nicht das Gegenteil der Wissenschaft, sondern ihr Vorläufer und vielleicht sogar ihre Voraussetzung. Dem freien Blick des Laien können Kombinationen gelingen, deren Richtigkeit später die Lupe des Fachmanns bestätigt.

    Ein solcher Beweis ist der Schlußstein von Assmanns Untersuchung: Der wichtigste Fund der Ägyptologen, die Entdeckung von Amarna und der Sonnenreligion des Pharaos Echnaton, soll erklären, wie es zur Erinnerung an Moses den Ägypter kam. Zwei Spuren dieser Erinnerung finden sich in der Bibel, eine im Alten und eine im Neuen Testament. Im elften Kapitel des Buches Exodus heißt es plötzlich, obwohl der Leser schon längst mit dem Anführer der Israeliten vertraut gemacht worden ist: "Und überdies war der Mann Moses äußerst groß im Lande Ägypten." Als Erläuterung dieser Größe läßt sich lesen, was Stephanus in der Apostelgeschichte sagt, als er seinen Mördern die Heilsgeschichte darlegt: "Und Moses wurde gelehrt in aller Weisheit der Ägypter und war mächtig in Worten und Werken."

    Unter den Griechen war die Vorstellung verbreitet, die Philosophie sei am Nil erfunden worden. Was aber soll Moses, durch den Gottes Stimme sprach, die Weisheit der Ägypter genützt haben? Hätten die Donnerworte die Israeliten nicht noch stärker erschüttert, wenn der Herr einen ungelehrten Mann zum Propheten erwählt hätte? Weshalb Gott die Predigt der neuen Wahrheit einem Kenner der alten Irrtümer anvertraute, erklärte der englische Theologe John Spencer, der 1685 eine Abhandlung über die jüdischen Ritualgesetze veröffentlichte. Spencer fragte nach den Gründen für jenen Teil des mosaischen Gesetzes, der der Vernunft ein Ärgernis war. Welche seltsamen Vorstellungen vom richtigen Verhalten standen hinter den detaillierten Regeln über Nahrung und Hygiene? Nicht an einem Firmament zeitloser Normen fand Spencer die Urbilder der Reinheitsvorschriften, sondern auf der Erde: in Ägypten.

    Die jüdischen Bräuche kopierten die ägyptischen Sitten, allerdings im Modus der Umkehrung: Was den Ägyptern geboten war, verbot Moses den Juden. Die Ägypter verehrten den Widder, das Tier ihres höchsten Gottes Amun. Die Juden schlachteten das Lamm, um ihren Gott, den Gegner Amuns, zu ehren. Einem kryptischen Vers des Buches Deuteronomium entnahm Spencer das Verbot, beim Opfer der Erstlingsfrüchte zu trauern. Diese Trauer zeigten die Anhänger des Osiris, die alljährlich ihren Gott in Gestalt eines Samenkorns begruben. Die Juden glaubten an einen lebendigen Gott, der nicht beweint werden wollte.

    Moses mußte also in alle Weisheit der Ägypter eingeweiht sein, um jeden Rest ihrer Einrichtungen beseitigen zu können. Assmann nennt den von Spencer analysierten Vorgang die Etablierung einer Gegenreligion: Der neue Glaube definiert sich negativ, indem er sein Gegenteil ausgrenzt. Die überlieferten kultischen Praktiken werden als Götzendienst verurteilt; was an sie erinnern könnte, wird unsichtbar gemacht. Der erste Akt jeder Gegenreligion ist der Bildersturz. Die von Moses gestiftete Religion hat den Ikonoklasmus zum Verbot aller Bilder gesteigert. Erstes und zweites Gebot sagen dasselbe: Ließe sich von Gott ein materielles Abbild machen, wäre er nur ein Götze unter anderen.

    Der gewaltsame Bruch mit der Vergangenheit, den die Gegenreligion vollzieht, ist mit Kosten verbunden. Läßt sich das Erinnerungsverbot überhaupt befolgen? Der neue Ritus hält wie ein fotografisches Negativ das Bild des alten gegenwärtig. Die Wiederkehr des Verdrängten ist jederzeit möglich. Spencer las das mosaische Ritualgesetz als Palimpsest: Die Heilige Schrift wurde verständlich vor dem Hintergrund des Textes, den Moses überschrieb. Wie stand es dann um ihre Heiligkeit? Der christliche Theologe Spencer erkannte in den Sittengesetzen der Todfeinde Israel und Ägypten zwei Regelwerke desselben Typs: Ob Milch und Fleisch zusammen gekocht oder getrennt werden mußten, machte für den Beobachter, der alles essen durfte, keinen Unterschied. Hier handelte es sich um zwei Formen desselben Irrtums - oder derselben Wahrheit.

    Riskant wurde diese historische Betrachtung, als man sie auf jene Teile des mosaischen Kodex ausdehnte, an denen das Christentum festhielt. Steckte auch hinter dem Dekalog eine polemische Absicht? Auf der Hand lag sie bei den ersten beiden Geboten, dem Grundgesetz des Monotheismus. War auch hier das Feindbild insgeheim Vorbild geblieben? War im ägyptischen Götterglauben der Umschlag in die Proklamation des einen Gottes immer schon angelegt? Dann hätte Moses die letzte Konsequenz aus der Weisheit der Ägypter gezogen, als er den Gott verkündete, der keine anderen Götter neben sich duldete.

    Nahrung erhielt diese Spekulation durch die Forschungen von Ralph Cudworth, einem Kollegen von Spencer in Cambridge, der 1678 eine Schrift mit dem grandiosen Titel "Das wahre intellektuelle System des Universums" erscheinen ließ. Der Neuplatoniker Cudworth wollte den Atheismus widerlegen; Helfer fand er in den Weisen Ägyptens. Griechische Autoren hatten die ägyptischen Priester als Hüter eines geheimen Wissens geschildert. Cudworth enthüllte das Geheimnis: Die Götterbilder waren Allegorien, die den Eingeweihten verrieten, daß es einen Gott gab, der mit dem Universum identisch war.

    Die Ägypter waren also Pantheisten; Cudworth brachte ihren Glauben auf eine Formel, der zur Losung der Weltfrömmigkeit bei Aufklärern und Romantikern werden sollte: Hen kai pan, Eines und alles. Auf den Geist, der die Welt durchdringt, verwies nach Cudworth auch das legendäre verschleierte Bildnis im Tempel zu Sais. Laut Plutarch trug es die Inschrift: "Ich bin alles, was ist, was war, und was sein wird. Kein Sterblicher hat meinen Schleier aufgehoben."

    Ludwig van Beethoven hatte diese Sätze immer vor Augen; sie standen, unter Glas gerahmt, auf seinem Schreibtisch. Er hatte sie aus Schillers Essay über "Die Sendung Moses" abgeschrieben. Schiller popularisierte in diesem 1790 gedruckten Aufsatz Thesen des Freimaurers und ehemaligen Jesuiten Karl Leonhard Reinhold, der als Professor für Philosophie sein Kollege in Jena war. Reinhold und Schiller überschritten die Schwelle, vor der Cudworth noch zurückgescheut war: Was Moses bei den Ägyptern lernte und was er die Israeliten lehrte, setzten sie gleich.

    Dem Begriff der Offenbarung gaben sie eine weltliche Wendung: Es war die Sendung des Moses, dem ganzen Volk offenzulegen, was bei den Ägyptern der exklusive Besitz einer Priesterkaste gewesen war. Als Propheten der Vernunft nahmen die beiden Kantianer die mosaische Unterscheidung zurück. Der Gegensatz zwischen Ägypten und Israel war nur Schein. In jeder Religion vertraten komplizierte Bilder und umständliche Riten eine einfache Wahrheit, die überall dieselbe war: Gott war mit keinem Namen zu fassen, denn er war nichts anderes als die vernünftige Weltordnung selbst. Was die Mode der Nationalreligionen streng geteilt hatte, versöhnte der philosophische Glaube.

    Die Freude währte nur einen Augenblick lang. Die historische Kritik, die den mosaischen Gott auf den Geist seiner Zeit reduziert hatte, durfte auch dem Gott der Philosophen die ewige Herrschaft nicht gönnen. Als man die Hieroglyphen lesen konnte, fand man die heiligen Schriften der monotheistischen Geheimreligion nicht. Es nahm sich nun als grotesker Anachronismus aus, daß Reinhold die ägyptischen Mysterien als "die älteste Freimaurerei" beschrieben hatte.

    An dieser Stelle hätte Assmanns Geschichte enden können. Die Suche nach Moses dem Ägypter wäre im Wüstensande verlaufen, wäre nicht Amarna ausgegraben worden. Hier kam ein Kult an den Tag, der den mosaischen Einrichtungen zum Verwechseln ähnlich sah. Die Sonnenhymnen preisen einen einzigen Gott, der von den Menschen nicht magische Beschwörung, sondern ethische Bewährung fordert. Amenophis IV. alias Echnaton hatte eine Gegenreligion gestiftet. Sein erster Befehl galt der Zerstörung der Götterbilder. Das Dogma von Amarna war das "missing link" zwischen der Weisheit der Ägypter und dem Glauben der Juden.

    Es war kein Ägyptologe, der die Akten der Debatte wieder aufschlug, sondern ein Universalgelehrter, der als Nachfolger der Aufklärer die Menschen aus der Abhängigkeit von religiösen Zwangsvorstellungen ins gelobte Land der Selbstbestimmung führen wollte: Sigmund Freud. Der "Mann Moses" deutete Freud in seinem letzten Buch als stolzen Anhänger Echnatons, der die Unterdrückung des Amarna-Kults nicht hinnahm. Er suchte sich ein Volk, dem er die Wahrheit offenbaren konnte, von der die Ägypter nichts mehr wissen wollten.

    Assmanns Wagemut steht kaum hinter Freuds Kühnheit zurück. Wie Freuds Moses das Erbe Echnatons bewahrte, so rettet Assmann Freud. Als Freud über dem Berg Sinai die Sonne Atons aufgehen ließ, traf er nach Assmann die historische Wahrheit. Es handelt sich freilich nicht um eine Wahrheit der Tatsachen, sondern um eine Wahrheit der Erinnerung. Ob Moses, wenn er überhaupt existiert hat, nun ein Ägypter war oder nicht: In seine Gestalt sind jedenfalls die Züge Echnatons eingegangen. Der Monotheismus war wirklich das kriminelle Geheimmis der ägyptischen Priester: nicht die Wahrheit, die sie verschwiegen, sondern die Verirrung, die sie verdrängten.

    Die Gegenreligion provozierte eine Gegenreaktion, die den Gegner mit dessen eigenen Waffen schlug: An den Bilderstürmer Echnaton erinnerte kein Bild und keine Inschrift. Der Monotheismus blieb nicht als ägyptische Erfindung im Gedächtnis, sondern als das schlechthin Fremde. In Legenden wurde er mit den Hyksos in Verbindung gebracht, Einwanderern aus Palästina, die im siebzehnten Jahrhundert, drei Jahrhunderte vor der Amarna-Zeit, über Ägypten geherrscht hatten. So konnten Historiker glauben, die Juden seien einmal in Ägypten gewesen.

    Die Erinnerung an Echnaton soll im kollektiven Unbewußten überlebt haben: mächtig, wie Assmann mit Freud postuliert, gerade weil sie nicht bewußt war. Den Schutzraum, in dem die traumatische Erfahrung gegen den Zugriff der Vernunft gefeit war, nennt Assmann eine "Krypta": In diesem Fachbegriff der neueren Psychoanalyse schwingt noch die Phantasie von der Grabkammer mit, die das Geheimnis der Pharaonen bergen sollte. Die Geschichte von der Herkunft der Weisheit aus Ägypten bleibt auch in Assmanns Version ein Mythos. Daß Erinnerungen verschwinden und zu anderen Zeiten an anderen Orten wieder auftauchen, ist nicht weniger wunderbar als der Bericht von der Teilung des Roten Meeres.

    Die Mnemohistorie hebt die Erinnerungsverbote der Gegenreligionen auf: Sie zeigt, daß Feinde in Wahrheit Brüder sind. So irenisch das Ziel ist, so polemisch ist die Methode. Ihre Waffe ist die Gegengeschichte. Jan Assmann will die Erinnerung an verschüttete Möglichkeiten wecken. Was wäre gewesen, wenn Echnaton die Götterbilder nicht zerstört hätte? Dann wäre, so der Traum dieses gelehrten Schwärmers, Moses ein Ägypter geblieben. Nie hätte er seinem Volk geboten, es gebe nur einen Gott und nur eine Wahrheit.