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Moses Mendelssohn
Vom Talmudschüler zum jüdischen Aufklärer

Moses Mendelssohn (1729-1786) gilt als Vater der Haskala, der jüdischen Aufklärung. Und weil mit ihm eine Reformbewegung im Judentum einsetzte, bezeichnete man ihn auch als "jüdischen Luther". Doch zu einer Reformation im deutschen Judentum kam es erst in den Generationen nach ihm.

Von Thomas Klatt | 21.08.2015
    Undatiertes, zeitgenössisches Bildnis des deutsch-jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn. Er wurde am 06.09.1729 in Dessau geboren und starb am 04.01.1786 in Berlin. Mendelssohn war der Wegbereiter der jüdischen Aufklärung (Haskala).
    Der deutsch-jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (picture alliance / dpa / Bertelsmann Lexikon Verlag)
    "Mendelssohn hat vor allen anderen eine große soziale Bedeutung. Er war der Reformator der deutschen Israeliten und seiner Glaubensgenossen. Er stürzte das Ansehen des Talmudismus. Er begründete den reinen Mosaismus."
    Der Potsdamer Philosoph Christoph Schulte zitiert Heinrich Heine. Für den jüdischen Dichter aus Düsseldorf war der jüdische Philosoph aus Dessau, Moses Mendelssohn, der Reformator, ja der Luther des deutschen Judentums.
    "Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendelssohn den Talmud und zwar in derselben Weise, in der er ähnlich die Tradition verwarf, die Bibel für die Quelle der Religion erklärte und den wichtigsten Teil derselben übersetzte. Er zerstörte hierdurch den jüdischen wie Luther den christlichen Katholizismus."
    Moses Mendelssohn – der jüdische Luther also! So verführerisch einfach diese Formel auch zu sein scheint, so falsch ist sie. Denn der große Aufklärer wollte sein Judentum gar nicht reformieren. Der Judaist Roland Tasch.
    "Es heißt, dass er nur ein hartes Ei gegessen habe, wenn er bei Christen eingeladen gewesen wäre zum Essen. Da hat er sein hartes Ei mitgebracht. Und auch das Glas Wein bei seinem Freund Lessing hat er ausgeschlagen und vertauscht für ein Glas Wasser. Und das alles, um das Ritualgesetz zu halten."
    Ei und Wasser, um selbst bei Freunden garantiert koscher essen und trinken zu können. Moses Mendelssohn hielt sich als Aufklärer weiterhin streng an die 613 halachischen Gebote und Verbote. Anders als für Immanuel Kant stand die Vernunft für ihn nicht über der Religion.
    "Im Unterschied zu Kant und dessen Schülern hatte Mendelssohn die metaphysische Nabelschnur zur Ewigkeit noch nicht durchschnitten. Er war der Meinung, dass man diese Welt nur verstehen könnte, wenn man auch die jenseitige Welt und Gottes Vorsehung verstünde. Unsere Seele lebt nach Mendelssohn in einem Vorwurf und winkt uns aus der Zukunft in die Gegenwart zurück."
    Man müsse klar unterscheiden. Die Maskilim der ersten Generation, also die Vertreter der jüdischen Aufklärung um Moses Mendelssohn, wollten an der jüdischen Religionspraxis keine Abstriche machen, aber ein Plus an Rechten und Freiheiten in der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft erreichen. Ihnen folgten die Maskilim der zweiten Generation, die sich mehr an Immanuel Kant und dem Primat der Vernunft orientierten, etwa Markus Herz, Isaac Euchel, Lazerus Bendavid, Salomon Maimon oder Saul Ascher.
    "Die Maskilim der ersten Generation propagierten profane Bildung und Erziehung, bürgerliche Verbesserungen und politische Gleichberechtigung für die Juden, während sie zugleich aber traditionelles Judentum und halachische Observanz akzeptierten und praktizierten. Sie wollten alle keine religiöse Veränderung des Judentums. Im Gegensatz dazu verwarf die zweite Generation, darunter alle Kantianer, die unbedingte Treue zur Halacha."
    Für Christoph Schulte ist ein wichtiges Dokument dieser zweiten Generation der jüdischen Maskilim die Schrift "Leviathan oder über Religion in Rücksicht des Judentums", 1792 von Saul Ascher geschrieben. Anders als noch bei Moses Mendelssohn geht es erstmals um Reformen im Judentum.
    "Aschers Überzeugung, dass die Halacha, die schriftliche und die mündliche Thora, alle 613 Mitzwot, die Gebote und Verbote weder der Modernisierung der Gesellschaft noch der Entwicklung individueller politischer und moralischer Autonomie von Juden in der bürgerlichen Gesellschaft Stand halten würden, war zu dem Zeitpunkt nach den Napoleonischen Kriegen und nach dem Wiener Kongress evident."
    Reformation vergleichbar mit den Umwälzungen durch Luther
    Saul Ascher versuchte sich in seinem Leviathan an einer historisierenden Sicht auf das Judentum. Das biblische Volk Israel in der Wüste könne man nicht einfach Tausende Jahre später mit dem deutschen aufgeklärten Judentum in eins setzen. Damit griff Ascher Gedanken des niederländischen Philosophen Spinoza rund 200 Jahre vor ihm auf.
    "Die Mitzwot, die Gebote seien regulative und nicht konstitutive Prinzipien im Judentum. Das Judentum kann auch ohne diese Prinzipien existieren oder es kann sie ändern. Die Gebote, so schreibt Asher, wurden nicht für immer gegeben, sie sind nicht statisch. Die Thora wurde den Juden in einem spezifischen historischen Moment ihrer Geschichte gegeben und sie diente, so die Theorie Aschers, besonderen erzieherischen Absichten Gottes mit seinem Volk, das damals in der Antike noch in einem primitiven Zustand lebte."
    Ähnlich wie Luther die Grundfesten des christlich-protestantischen Glaubens in seinem Kleinen Katechismus knapp und verständlich zusammenfassen wollte, so trug auch Saul Ascher die Eckpunkte eines aufgeklärten Judentums im 19. Jahrhundert zusammen.
    "Diese wesentlichen Punkte umfassen: Die Einheit und Einzigkeit Gottes, die Patriarchen, die Offenbarung der Thora an Mose, die Vorsehung, die Vergeltung aller guten und bösen Taten nach dem Tode, den Messias und die Auferstehung der Toten. Aher schreibt die Beschneidung, die Sabbatruhe und ebenso die jüdischen Feiertage, nicht mehr die Speisegebote oder das Verbot der Mischehen."
    Die zweite Generation der Maskilim machte den Rabbinern auch ihren theologischen Alleinvertretungsanspruch streitig. Sie warfen die Diskussion auf, wer nun zum Volk Israel gehört und wer nicht.
    "Den Traditionalisten wird auf diese Weise der Monopolanspruch genommen, sie allein repräsentierten das einzig wahre und wesentliche Judentum. Damit bestreitet Ascher das Recht der Orthodoxie, zu definieren, wer ein Jude sei und wer nicht. Wer in eine jüdische Gemeinde gehöre und wer nicht."
    Im Grunde könne man also erst Anfang des 19. Jahrhunderts von einer dem Protestantismus vergleichbaren Reformation des Judentums sprechen. Erst da begann auch die restaurative Gegenbewegung. Seitdem spricht man überhaupt erst von einer jüdischen Orthodoxie, ursprünglich ein rein christlicher Begriff. Ein Vertreter war etwa der Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch.
    "Wie geht man damit um, wenn die ganze Umwelt auf Erneuerung der Religion drängt? Die Christen ebenso wie die liberalen Juden. Darauf gibt Mendelssohn die Antwort, wir lassen alles beim Alten, aber wir öffnen uns kulturell völlig für die christliche Kultur, für die Aufklärungskultur. Während bei Samson Raphael Hirsch die Angst vor Erneuerung so stark war – 'um jeden Preis halten wir an der Offenbarung fest, an der Gesetzestreue und wir schotten uns auch noch ab gegen all diese Erneuerungstrends'",...
    ..., bewegte sich der Jude Moses Mendelssohn also noch in einem relativ geschlossenen Denk- und Theologiesystem. So befinden sich die Gemeinden ein bis zwei Generationen später im Streit über eine Reform ihres Judentums. Die Aufspaltung in Orthodoxie, konservatives oder liberales Judentum war erst da im vollen Gange.
    "Mendelssohn hat noch naiv arbeiten und denken können. Er konnte noch das Judentum als Ganzes sehen."
    "Während 100 Jahre später in der Frankfurter Austrittsgemeinde von Samson Raphael Hirsch, da gab es schon die unterschiedlichen Fraktionen. Da gab es Rabbiner, zwischen denen kein Gespräch mehr möglich war. Ne völlig zerstrittene Situation. Das ist, was die jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts leider geprägt hat."