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Moses Rosenkranz zum 100. Geburtstag am 20. Juni 2004

Die Realität meines Lebens entzieht sich jeder Möglichkeit einer Schilderung.

Von Matthias Kußmann | 17.06.2004
    Ein typischer Satz für Moses Rosenkranz: lapidar und zugespitzt. Er stammt aus einem Gespräch, das er 1993 mit einer Kulturzeitschrift führte. Da war er fast neunzig Jahre alt - und in Deutschland praktisch unbekannt. Jahrzehnte literarischer Produktion lagen hinter ihm - und ein Leben, das an Erschütterungen so reich war, daß man den Satz, der kokett klingen könnte, ernst nehmen muß. Der jüdische Autor aus der Bukowina hatte den deutschen und den rumänischen Faschismus überlebt; er war vierzehn Jahre in Arbeitslagern und im sowjetischen Gulag und hatte auch das überstanden. 1961 gelang ihm die Flucht aus Rumänien in die Bundesrepublik, wo er sich schließlich in Lenzkirch-Kappel im Schwarzwald niederließ. Rosenkranz war auch nach Deutschland gekommen, weil Deutsch die Sprache war, in der er seine Gedichte und Prosa schrieb. In einem Rundfunk-Gespräch sagte der 90jährige:

    Ich habe nicht in der Sprache der Mörder geschrieben. Ich habe angeknüpft an die klassische deutsche Sprache und an die klassische deutsche Literatur. Ich habe versucht, in diese traditionellen Formen moderne Stoffe einzubauen. Die Sprache der Mörder - das ist insofern berechtigt, als in der Tat die Nazis eine ganz andere Sprache entwickelt haben. Sie haben eine bürokratische Befehlssprache erfunden, das ist Tatsache. In der Sprache habe ich nicht geschrieben, ich habe immer gegen diese Sprache geschrieben.

    Die Gedichte von Moses Rosenkranz umfassen viele Themen: Landschaft, Krieg, Gulag, die Zerstörung der Natur - und die Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus:

    Klage


    So Leichen weiß
    war kein Schnee wie die Not
    kein Ofen so heiß
    mein Volk wie dein Tod

    Flogst heißer als Brand
    stobst bleicher als Schnee
    o Wolke von Weh
    mein Volk überm Land

    Kamst nimmer herab
    wo soll ich hinknien
    ist oben dein Grab
    in den Wolken die fliehn


    Nicht die ganze "Realität seines Lebens" entzog sich der Schilderung. Moses Rosenkranz schuf ein beeindruckendes lyrisches Werk - in dem, wie er selbst einmal sagte, sein ganzes Leben aufgehoben ist. Und er begann eine Autobiografie, mit der er spät - für ihn selbst leider zu spät - zu literarischen Ehren kam. Der Band Kindheit über seine frühen Jahre in der Bukowina erschien 2001 und wurde von der Presse hoch gelobt. Doch da war der Autor, inzwischen 97jährig, bereits blind und taub. Er konnte seinen späten Erfolg nicht mehr wahrnehmen. -Moses Rosenkranz wird 1904 in Berhometh am Pruth, einem ruthenischen Dorf in der Nordbukowina geboren - als siebtes Kind einer Bauernfamilie. Das Gemisch aus verschiedenen Völkern, Kulturen und Religionen, das die Bukowina während der Habsburgermonarchie bestimmt, reicht auch in seine Familie hinein. In Kindheit schreibt er:

    Wenn das Herz zum Ausdruck drängte, und miteinander, sprachen die Eltern jüdisch. Mit uns Kindern deutsch. Mit der Dienstmagd, dem Gesinde auf der Pachtung und den Einwohnern des Dorfes ruthenisch. Mit den Gutsbesitzern der Umgebung polnisch. Und mit den einkehrenden Reisenden, je nach Bedarf, eine dieser Sprachen, deren keine sie wohl musterhaft beherrschen mochten, aber jede gefällig und phantasievoll zu verwenden schienen - denn es wurde ihnen immer mit Vergnügen und Interesse zugehört.

    Die Familie lebt in bescheidenen Verhältnissen. Seine bäuerliche Herkunft prägt den späteren Autor Moses Rosenkranz tief:

    Ich bin auch heute noch Bauer. Obgleich ich seit meinem 15. Lebensjahr, wie mir oft versichert wurde, druckreif schreibe, habe ich mich nie als Schriftsteller empfunden. Und wenn ich Lyrisches verfasste, habe ich mich geniert und habe das meiste zerstreut oder verbrannt. Heute im Alter bin ich schwach genug, mich als Lyriker zu verstehen...

    In den 30er Jahren publiziert Rosenkranz seine ersten Lyrikbände - und wird Ghostwriter der rumänischen Königin Maria, deren Autobiografie er schreibt. Doch in diesen Jahren nehmen in Rumänien nationalistische und antijüdische Ausschreitungen zu; 1940 wird die Bukowina von der Roten Armee besetzt, ein Jahr später von den Nationalsozialisten:

    Nun wurde es apokalyptisch. Ich verlor viele teure Menschen, nicht nur unter den Juden. Ich organisierte vordatierte Judentaufen, geriet darüber ins Gefängnis. Damit ich der Deportation entgehe, steckten mich rumänische Freunde in ein moldauisches Arbeitslager. Danach lernte ich auch andere Arbeitslager in der Moldau und in der Walachei kennen. Im Mai 1944 desertierte ich nach Bukarest und lebte bis zum Einmarsch der Sowjets im Untergrund.

    Das Kriegsende bedeutet für Rosenkranz nur eine Atempause. Er arbeitet in Bukarest für das Rote Kreuz. Unerlaubterweise läßt er Deutschen, die vertrieben werden sollten, Kleidung und Lebensmittel zukommen. Darauf wird er im April 1947 vom russischen Geheimdienst entführt und in den berüchtigten Gulag abgeschoben - nach Sibirien. Doch selbst im Gulag sieht er die Natur, so grausam sie dort auch ist, als Überlebenshilfe:

    Als ich Gedichte zu schreiben begann, versuchte ich, den Rhythmus der Bewegungen der Bäume und Wellen durch die Melodien meiner Verse wiederzugeben. Ihn glaubte ich auch während meiner Deportation sowohl in den Arbeitslagern der moldauischen Dörfer als auch während meiner sibirischen Haftzeit im Sturmgebraus der russischen Orkane vernehmen zu können...

    Erst 1957, inzwischen wieder in Rumänien, kommt Rosenkranz frei. Für ihn beginnt eine literarisch produktive Phase, in der auch seine Kindheits-Erinnerungen entstehen - aber die kommunistischen Machthaber lassen seine Texte nicht drucken. Als die Securitate einen Prozeß gegen ihn vorbereitet, flüchtet er 1961 in die Bundesrepublik - wo er sich allerdings nie zuhause fühlt. Zehn Jahre vor seinem Tod sagt er:

    In Rußland selber war ich neun Jahre. Ich war im gefährlichsten Lager des Bolschewismus, in der Nähe des Nordpols. Aber ich muß Ihnen gestehen: hier habe ich mich zurückgesehnt. Wissen Sie warum? Weil ich dort unter Menschen lebte...

    Rosenkranz bleibt in der Bundesrepublik lange unbekannt. Mehrere Versuche, Verlage für seine Texte zu finden, scheitern. So rät der Philosoph Theodor W. Adorno, der 1962 um Vermittlung beim Suhrkamp Verlag gebeten wird, von einer Veröffentlichung ab. Er will den Lyriker Paul Celan schonen, der unter Plagiatsvorwürfen leidet, die sein berühmtes, 1944 entstandenes Gedicht "Todesfuge" betreffen. Adorno befürchtet weitere Komplikationen, da Rosenkranz Celan bereits 1942 in einem moldauischen Lager sein Gedicht "Blutfuge" vorgetragen hatte... Erst 1986 und '88 erscheinen zwei Gedichtbände mit den Titeln Im Untergang und Im Untergang II. Sie werden aber kaum publik gemacht und bleiben fast ohne Echo. Im ersten Band findet sich auch ein Gedicht, das über Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg spricht:

    Das Spiegelbild

    Lug in den Bodensee
    guck in den Rhein
    in deine Träume späh
    Deutschland hinein

    Findest dich nirgends nicht
    siehst überall
    wirr ein fremdes Gesicht
    mit Kainsmal

    Kein Wasser heilt dies Weh
    kein Traum die Pein
    auch nicht der Bodensee
    auch nicht der Rhein


    Mitte der 90er Jahre verschlechtert sich seine Gesundheit rapide. Seine Frau Doris Rosenkranz:

    Erst kam diese totale Erblindung, die ihn so erschüttert hat... Er hat ja so viel ausgehalten in seinem Leben. Aber das hat ihn so erschüttert, daß er fast wahnsinnig geworden ist. Aus dieser vollen Präsenz heraus plötzlich absolut schwarze Nacht - hilflos zu sein, angewiesen auf andere. Er sah dann einfach keine Perspektive mehr für sein Leben...

    In den folgenden Jahren verliert er auch seine Stimme, sein Gehör und seine körperliche Beweglichkeit. Seine Frau pflegt ihn bis zu seinem Tod im Frühjahr 2003. Da ist Rosenkranz fast 99 Jahre alt. Es scheint, als hätte er sich in den letzten Lebensjahren immer mehr in sich zurückgezogen. Ein Schriftsteller, der sich als Bauer versteht, ein Lyriker, der, wie er einmal sagte, die Literatur verachtet? Moses Rosenkranz´ Leben war an Widersprüchen reich. Doch hat er, wie seine Frau sagt, gerade in seiner Dichtung diese beiden Seiten - Dichter und Bauer - vereint:

    Wenn man seine Gedichte anschaut - die sind zwar poetisch überhöht, haben aber fast immer einen ganz konkreten Gehalt. Das ist das, was man beinahe bodenständig nennen könnte. Das ist für mich eine Verbindung von seinem erdnahen, konkreten, fast bäuerischen Hintergrund und seiner Poesie.

    Gut, daß sich inzwischen der Aachener Rimbaud-Verlag seines Werkes annimmt und seine wichtigsten Texte publiziert. Dort ist neben Kindheit auch der Band Bukowina erschienen. Er versammelt ausgewählte Gedichte von Rosenkranz aus den Jahren 1920 bis '97 - wie dieses mit dem Titel "Dem Ende zu":

    Es ist die Zeit gekommen abzunehmen
    vielliebe Welt ich muß dir schon entgleiten
    muß wie ein Fluß aus diesem Lande strömen
    die Ufer lassend wert zu beiden Seiten

    Die schönen Ufer reich an lieben Plätzen
    auch wenn ich recht erinnre an verhaßten
    denn meine Wandrung war nicht nur Ergötzen
    ich mußte auch durch Finsternisse tasten

    Nun ists vorüber unbegrenzte Ferne
    nur Licht und Wasser nimmt mich still entgegen
    sie eilt mich nicht und wartet bis ich lerne
    mich wie ein Tropfen in ihr Meer zu legen