Die russische Geschichte, so lautet ein bekanntes Sprichwort, ist so unvorhersehbar wie die Zukunft. Die Kunstgeschichte auch. 25 oder sogar 30 Jahre lang war der Maler Gelij Korzhew so gut wie vergessen. Kaum jemand wollte etwas zu tun haben mit dem Mann, dessen Triptychon "Kommunisten" einst jedes sowjetische Schulkind kannte, insbesondere das zentrale Bild: Es zeigt einen Arbeiter, der das rote Banner aus den Händen eines bei Straßenkämpfen erschossenen Genossen nimmt und erhebt.
"Korzhews Kommunisten-Triptychon wurde auf Postkarten gedruckt, jeder kannte das."
Natalia Alexandrowa leitet in der Tretjakow Galerie die Abteilung für Malerei im 20. Jahrhundert.
"Aber als ich versucht habe, herauszufinden, wer diese Bilder schon mal in echt gesehen hatte, war ich verblüfft. So gut wie niemand hat sie je mit eigenen Augen gesehen. Es ist ein Paradox: ein scheinbar ideologischer Künstler, den wir aber nicht vorzeigen. Im Unterschied zum wirklichen Sozialistischen Realismus, der einem überall injiziert wurde, unter die Haut und ins Hirn."
Dass Gelij Korzhews Kunst mit dem Begriff "Sozialistischer Realismus" zumindest unzureichend bezeichnet ist, begreift man in der Retrospektive binnen Sekunden. Direkt am Eingang blickt dem Besucher ein einäugiger Soldat mit einem von Pulverdampf verbrannten Gesicht entgegen. Das Bild von 1964 heißt "Der Verwundete" und könnte kaum weiter entfernt sein von patriotischem Stolz auf den Sieg im Zweite Weltkrieg. Das blaue Auge des ernsten jungen Mannes leuchtet mit erstaunlicher Kraft. Es ist schwer, diesen Blick zu ertragen, aber sich abzuwenden ist unmöglich. Diesem Effekt begegnet man in Korzhews Bildern aus den 50er- und 60er-Jahren immer wieder. Seine Helden sind die Versehrten und Leidenden der Geschichte, trauernde Mütter, erschöpfte Arbeiter und immer wieder Kriegs-Invaliden. In der zweiten Hälfte seines Lebens malte Korzhew Zyklen zu Bibelthemen, an Hieronymus Bosch gemahnende Monster und Don-Quixote-Motive. Aber es ist das Frühwerk, das ihm den Platz in der Kunstgeschichte sichert.
"Wir haben Korzhew jetzt mutig in die Reihe der großen europäischen Modernisten erhoben. …Und wir nennen ihn einen Existenzialisten, was noch vor 15 Jahren undenkbar gewesen wäre."
Im Katalog setzt der Kunstwissenschaftler Alexander Borowskij Korzhew mit europäischen Realisten wie Lucien Freud, den italienischen Neorealisten und Malern wie Ferdinand Hodler in Beziehung. Mindestens ebenso wichtig wie die überfällige Einordnung der sowjetischen Kunst in europäische Strömungen des 20. Jahrhunderts sind die Bezugspunkte, die die Schau im Inland sucht. Schon durch ihr Design. Die Architekten Nadezhda Korbut und Jewgenij und Kirill Ass haben den größten Raum der Neuen Tretjakow Galerie in ein spektakuläres konstruktivistisches Labyrinth aus vielen kleinen Räumen, Nischen und Durchblicken verwandelt.
"Es ging darum, eine Struktur für Korzhew zu finden, nicht ihn als Autor von Meisterwerken vorzustellen. Und Korzhew gewinnt im Rahmen dieser Installation. Wir werden ihn niemals mit Ilja Kabakow gleich setzen, aber es zeigt sich eben doch, dass sie beide mit Themen arbeiten, die aus derselben Zeit stammen: Beide gehören zu den 60ern, bloß in unterschiedlichen Hypostasen."
25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist die rigide Unterscheidung in offizielle und inoffizielle, sowjetische und anti-sowjetische Kunst obsolet. Sie erklärt zu wenig. Zwischen dem "offiziellen" sowjetischen Maler Korzhew und Meistern der nonkonformistischen Kunst wie Kabakow bestehen bei allen Unterschieden lange verborgene Beziehungen. Beide gehören zu einer Generation, die nach Stalins Tod versuchte, eine neue, wahrhaftige Kunst zu schaffen, die sich mit dem realen Leben realer Menschen auseinandersetzt. Beide begleiteten in ihrem Werk das lange Sterben einer ganzen Epoche und ihrer Hoffnungen. Seit 1970 wurde der Freiraum für derartige Experimente in der offiziellen sowjetischen Kultur immer kleiner. Gelij Korzhew hat ihn genutzt.