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Motive in der Metropole

Auf den Straßen von Paris, London, Schanghai und Lagos haben sie ihre Motive gesucht - Fotografen wie Henry Cartier-Bresson, August Sander oder Paul Strand. Ihre Bilder sind zurzeit in der Ausstellung "Street and Studio" an der Tate Modern in London zu sehen. Die Werkschau widmet sich der urbanen Geschichte der Fotografie.

Von Hans Pietsch |
    Straße und Fotoatelier - die beiden wichtigsten Orte, wo Porträtfotografie stattfindet. Und wir sind daran gewöhnt zu glauben, dass auf der Straße Realität abgelichtet wird, während im Studio Künstlichkeit entsteht. Die Kuratorin Ute Eskildsen, sie leitet die Fotosammlung des Museum Folkwang in Essen, hat sich für ihre Schau in der Tate Modern 14 Abteilungen ausgedacht, von "Passanten" bis "Theater des Lebens", von "Passagiere" bis "Wahrheit und Erfindung", in denen sie anhand von 350 Fotos versucht, den Dialog dieser beiden unterschiedlichen Traditionen darzustellen, zurückgehend bis ins späte 19. Jahrhundert und zu Fotografen wie Louis Vert, der Handwerker bei der Arbeit beobachtet, und dem Schweizer Carl Durheim, der für die Polizei im Atelier Landstreicher fotografiert.

    Doch schon bald werden die Ränder unscharf, die Traditionen vermischen sich, kehren sich sogar in ihr Gegenteil. Auf seinen sorgfältig komponierten Fotos von Menschen in Londons U-Bahn verpflanzt der deutsche Wolfgang Tillmans die Intimität des Studios nach draußen, während die im Atelier entstandenen Selbstporträts des Briten Martin Parr die Spontaneität der Straße suggerieren.

    Ab den Fünfzigerjahren verlassen sogar Modefotografen wie Norman Parkinson mit ihren Mannequins das Atelier und stürzen sich ins Gewühl der Großstadt. Andres Serrano holt dann für seine 1990 entstandene Serie "Nomaden" die Straße buchstäblich ins Studio: Er setzt verwahrloste Tramps vor einen neutralen Hintergrund und leuchtet jede Gesichtsfalte und jeden Schmutzfleck so scharf aus, als fotografiere er ein Abendkleid von Dior.

    Im Untertitel nennt sich die Schau eine "urbane Geschichte der Fotografie" und begleitet uns von London und Paris im ausgehenden 19. Jahrhundert bis ins heutige Mexiko City, Schanghai und Lagos. Von Anfang bis Ende der Ausstellung hört man, hinter den stummen Fotos, den Lärm der Großstadt - etwa auf einer von Alfred Stieglitz fotografierten Pariser Straße im Regen.

    Man hört das Trippeln von Menschen, die Paul Strand 1916 auf der Wall Street auf dem Weg zur Arbeit fotografierte, die Rülpser und betrunkenen Schreie der Alkoholiker auf den traurig-brutalen Fotos des Russen Boris Michailow, die Stadtautobahn in Lagos, unter deren Brücke der Südafrikaner Pieter Hugo einen jungen Nigerianer fotografiert, der eine Hyäne mit Maulkorb an einer kurzen Kette hält. All das ist die Großstadt, aber auch Cecil Beatons elegante Aristokratinnen gehören dazu. Ebenso die würdevollen Bürger und Kleinbürger von August Sander und die mit einer Leica geknipsten Momentaufnahmen von Henri Cartier-Bresson, der immer zum, wie er es nennt, "entscheidenden Augenblick" auf den Auslöser drückte.

    Zwei Entwicklungen in den vergangenen 20 Jahren, so zeigt die faszinierende Schau, haben Straße und Studio in eine kuriose Harmonie gezwungen: zum einen die Paparazzi, deren Zudringlichkeit die Stars in der Öffentlichkeit zu Posen veranlasst, die sagen: Ich bin nicht da! - wie Woody Allen und Mia Farrow auf einem Foto von Ron Gallela. In einem New Yorker Taxi verdecken sie mit dem Arm ihr Gesicht, um nicht erkannt zu werden. Und zum anderen die allgegenwärtige Überwachungskamera, die uns überall in unseren Städten zum Motiv macht, ob wir es wollen oder nicht.

    In seiner Ende der Neunzigerjahre entstandenen Serie "Go-Sees" spielt der deutsche Modefotograf Juergen Teller clever darauf an. Er fotografiert junge Frauen, die sich ihm als Models vorstellen wollen, wie sie an der offenen Haustür seines Ateliers ankommen, auf der Schwelle zwischen Straße und Studio. Sehen so "echte" Girls von der Straße aus oder führt der Fotograf uns einen speziell für die Alltagskamera erfundenen Look vor?

    Selbst im Tod noch scheinen wir für den Fotografen eine Rolle spielen zu müssen: 1946 fotografiert die amerikanische Reporterin Lee Miller den faschistischen Ex-Ministerpräsidenten von Ungarn, Laszlo Bardossy, kurz vor seiner Hinrichtung. In einem Hof steht er vor Sandsäcken, das Erschießungskommando nur wenige Meter entfernt. Ist es abwegig zu spekulieren, dass er deshalb seine Würde bewahrt, weil er weiß, dass er von der Kamera für die Nachwelt festgehalten wird?