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Mozarts Wüstling

Für das Opernfestival von Aix-en-Provence inszeniert Dmitri Tcherniakov die Mozart-Oper als ein bitterböses italo-russisches Sittengemälde der Gegenwart - das in der zweiten Halbzeit jedoch zusehends an Plausibilität und Spannkraft verliert.

Von Frieder Reininghaus |
    Empfang im sehr wohlbürgerlichen Haus des Komturs zur langsamen Einleitung der Ouvertüre: hohe Eicheneinbauschränke mit den repräsentativen Bänden der erlesenen Bibliothek und Eichentäfelung auch an der Decke. Zu viele Blumen in übergroßen Gebinden werden von einem Rudel Bediensteter in Stellung gebracht. Anatoli Kotscherga, der Patriarch, der auf die glaubhafteste Weise in diese reiche Welt von gestern hineinwuchs, empfängt seine Familie – die sieben anderen solistisch singenden Akteure. Der ohnedies nur in drei Szenen beschäftigte Chor bleibt unsichtbar. Dabei werden bereits feine Verschiebungen der Personenkonstellation erkennbar, die der Dramaturg Alexeï Parin und Regisseur Tcherniakov vorgenommen haben: Zerlina, in Lorenzo da Pontes Original, ein top fittes Bauernmädchen, avancierte zur Tochter Donna Annas aus einer früheren Beziehung und damit zur Enkelin des sichtlich stinkreichen Padrone (aktuell ist Anna ja mit Don Ottavio zusammen).

    Elvira, die Furie aus Burgos, avancierte zur veritablen Ehefrau an der Seite Giovannis (was natürlich nicht verhindert, dass er Augen und Aufmerksamkeit nach besten Kräften auf die anderen anwesenden Frauen richtet).

    Dmitri Tcherniakov hat den Handlungszeitraum gestreckt – von einem Tag oder wenigen Tagen, die bei da Ponte zwischen dem tödlichen Vorfall im Hause des Komturs und dem letzten Abendmahl Don Giovannis liegen, auf einige Monate. Im Gegenzug wurde die Handlung auf einen Raum konzentriert: die gute Wohnstube des Commendatore. Hierin folgt er streng einem Modell, das Herbert Wernicke vor zwei Jahrzehnten für das Theater Basel entwickelte: Da mussten es die Erben der Schlossherren von anno damals von Anfang bis Ende miteinander aushalten und Zerlinas Verlobter Masetto, der die gleiche Stimmlage aufweist wie der Komtur, schlüpft am Ende die Rolle des Steinernen Gastes, der die Rache an jenem Mann vollstreckt, den die Frauen zugleich lieben und hassen und auf den sich der Sexualneid der Männer fokussiert.

    Bei Tcherniakov geistert der eigentlich ziemlich zu Beginn bei der Auseinandersetzung mit Don Giovanni aus dem Leben geschiedene Komtur durch die rückwärtigen Glastüren in den unterschiedlich möblierten Raum herein, um etwas in seiner Bibliothek nachzusehen und damit beiläufig den Titelhelden zu schrecken. Und am Ende ist es offensichtlich ein von Ottavio angeheuerter Schauspieler, der mit angeklebtem Bart und im Schlafrock des Komturs den angeblichen "Wüstling" zum Herzinfarkt treibt.

    Der Held ist mit dem baumlangen und kernig singenden Bo Skovhus glänzend besetzt: ein Typ, der zwischen Melancholie und mitreißender Heiterkeit schwankt und bei dem auf den ersten Blick deutlich wird, warum die Weiber verrückt nach ihm sind.

    Kyle Ketelsen als sportiv-verschlagener Leporello und die drei Frauen – Kristine Opolais als gemütsschwankende Elvira, Marlies Petersen als schlankblonde und herrschaftsbewusste Anna, Kerstin Avemo als deren görenhafte Tochter – sie alle agieren nicht minder fulminant. Sie singen, je nach Erfordernis, so virtuos wie anrührend, allerdings mit der Tendenz zum etwas zu hoch Gestimmten, wenn sie mit gesteigertem Körpereinsatz in die Liebesintrige einsteigen. Die darstellerischen Leistungen sind es in erster Linie, die im scheinbar geborgenen Ambiente des Wohlstandes Konflikt und Entsetzen herausprozessieren – und diese Pointierung erscheint über weite Strecken sensationell.

    Da entsteht in eleganter Genauigkeit und dank feinsinniger Bosheit ein italo-russisches Sittengemälde der Gegenwart mit Musik von Mozart, das allerdings in der zweiten Halbzeit zusehends an Plausibilität und Spannkraft verliert. Der Instrumentalpart Mozarts wird vom aufgerüsteten Freiburger Barockorchester auf witterungsempfindlichen Darmsaiten und historisch gebohrten Röhren absolviert – wie das Balthasar-Neumann-Ensemble ersetzt nun auch dieses andere Freiburger Spezialensemble offensichtlich auf dem ersten internationalen Parkett die aus öffentlichen Mitteln besoldeten Symphonieorchester und rückt so durch die Hintertür zu diesen auf (allerdings ohne gewerkschaftliche Absicherung für die in einem solchen Klangkörper dienenden Tagelöhner).

    Louis Langrée sorgt als Animateur der Kapelle für das heute übliche Maß an hurtiger Fidelität und Ruppigkeit, die dem Charme gewisser ökologischer Mahlzeiten korrespondiert.

    Infos:
    =299&cHash=98a14d11fc title="Festival d’Aix-en-Provence" target="_blank"]Festival d’Aix-en-Provence