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Müller: "Es gibt keine Sozialdemokratisierung der CDU"

Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) wehrt sich gegen den Eindruck, die Union renne der SPD hinterher. Einen längeren Bezug von Arbeitslosengeld I habe der CDU-Parteitag lange vor der SPD beschlossen. Müller betonte, dass derzeit die Haushaltskonsolidierung weiterhin oberste Maxime des politischen Handelns sein müsse und warnte die Sozialdemokraten davor, das Geld "mit vollen Händen auszugeben".

Moderation: Peter Kapern | 04.11.2007
    Peter Kapern: Herr Ministerpräsident, vor einer Woche hat die SPD ihren Bundesparteitag abgehalten. Unionspolitiker haben den Sozialdemokraten dann anschließend einen Linksschwenk und Populismus vorgeworfen. Und in dieser Woche haben sich die CDU-Ministerpräsidenten Wulff, Koch und Carstensen stark gemacht für eine baldige Verständigung mit der SPD über eine längere Laufzeit für das Arbeitslosengeld I beziehungsweise für eine arbeitnehmerfreundliche Neuregelung der Pendlerpauschale. Sorgen die CDU-Ministerpräsidenten jetzt dafür, dass die Union der SPD nach deren Kurskorrektur hinterherläuft?

    Peter Müller: Das mit Sicherheit nicht. Was die Frage der Korrektur der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I anbetrifft, ist die historische Wahrheit ja genau umgekehrt. Der CDU-Parteitag hat ja schon lange, bevor die Sozialdemokraten bereit waren, darüber überhaupt zu reden, eine entsprechende Beschlussfassung vorgenommen. Jetzt ist die SPD auf diese Überlegungen der CDU eingeschwenkt - nach rüder Ablehnung in der Vergangenheit will man jetzt selbst diesen Weg gehen. Das ist zu begrüßen, und deshalb ist es sicherlich richtig, die Forderung zu erheben, dass eine solche Regelung zeitnah getroffen wird. Die Diskussion um die Pendlerpauschale ist eine Diskussion vor dem Hintergrund gerichtlicher Entscheidungen, insbesondere vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesfinanzhofes, der die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der jetzigen Regelung in Zweifel zieht. Es macht Sinn, an diesen Punkten über Veränderungen nachzudenken. Deshalb sehe ich nicht, dass es hier ein Nachlaufen der CDU gegenüber der SPD gibt, in diesen beiden Punkten nicht und ansonsten auch nicht.

    Kapern: Insgesamt aber sieht sich doch die CDU dem Vorwurf ausgesetzt der grassierenden Sozialdemokratisierung. Und wenn man sich die Geschehnisse der letzten Wochen anschaut, dann gibt das doch diesen Vorwürfen neue Nahrung.

    Müller: Ich persönlich habe diesen Vorwurf immer für absurd gehalten, daran hat sich auch nichts geändert nach dem SPD-Parteitag. Es gibt keine Sozialdemokratisierung der CDU. Für die CDU war es immer ein Stück Identität, ökonomische Kompetenz zu verbinden mit dem Bemühen um soziale Gerechtigkeit. Nur so kann der Anspruch, eine Volkspartei zu sein, glaubwürdig eingelöst werden. Diese Debatte wird in der Union geführt, die Sozialdemokraten haben nicht das Monopol auf soziale Gerechtigkeit.

    Kapern: Hat denn die CDU, wenn schon nicht das Monopol, so doch wenigstens noch die Glaubwürdigkeit, auch den Anspruch einer Reformpartei zu erheben, denn der Weg vom Wahlprogramm 2005 bis zum heutigen Tag - bis zur heutigen Politik - ist doch ein sehr weiter Weg? Was ist von der Reformpolitik der CDU noch übrig geblieben?

    Müller: Eine ganze Reihe von Dingen sind ja umgesetzt worden im Zuge der großen Koalition, etwa Veränderungen im Rentenversicherungsbereich, Veränderungen auch bei der Bestimmung der Transferleistungen an diejenigen, die arbeitslos sind. Andere Projekte sind nach wie vor Bestandteil der Forderungen der Union. Sie sind in dieser Koalition, das müssen wir zu Kenntnis nehmen, nicht durchsetzbar. Ich nenne etwa Stichworte wie eine stärkere Berücksichtigung betrieblicher Bündnisse für Arbeit, wie eine Flexibilisierung im Bereich des Arbeitsschutzrechtes - sicherlich notwendige Dinge, wenn wir eine noch bessere konjunkturelle und Beschäftigungsentwicklung in Deutschland haben wollen, als dies sowieso der Fall ist. Ich sehe nicht, dass die CDU ihren Reformanspruch aufgegeben hat. Was in der Koalition machbar ist, wird gemacht und ist zum Teil gemacht worden. Anderes bleibt auf dem Tisch, und da werden wir weiter um Mehrheiten ringen.

    Kapern: Herr Ministerpräsident, schauen wir doch mal auf eines der Themen, die in der vergangenen Woche mit Macht auf die Agenda drängten, denn Sie haben es ja bereits angesprochen - die länger Auszahlung des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer. Das scheint doch beschlossene Sache zu sein, dass dies umgesetzt wird, obwohl doch die geltende Regelung die Zahl der älteren Arbeitslosen drastisch hat sinken lassen. Warum stimmen Sie trotzdem in den Chor derjenigen ein, die die jetzige Regelung aufweichen wollen?

    Müller: Erstens, ich bestreite die These, dass die jetzige Regelung die Ursache für die verbesserte Beschäftigungsentwicklung bei den älteren Arbeitslosen ist.

    Kapern: Damit widersprechen Sie den Experten der Bundesanstalt für Arbeit.

    Müller: Dass dort ein Rückgang festzustellen ist, ist unstreitig. Die Frage ist: Was ist die Ursache für diesen Rückgang? Da scheint mir die Behauptung, das liegt nur an der Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I höchst fragwürdig. Erstens, wir müssen sehen, dass bei den Langzeitarbeitslosen die Dauer der Langzeitarbeitslosigkeit nicht zurückgegangen ist. Wenn ihre Zahl zurückgegangen ist, dann kann dies sicherlich daran liegen, dass konjunkturell bedingt zusätzliche Einstellungsnotwendigkeiten in den Unternehmen gegeben sind. Das scheint mir die Ursache zu sein und nicht die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Zweitens, ich bin fest davon überzeugt, dass es ein berechtigtes Gerechtigkeitsempfinden bei den Menschen ist, wenn gesagt wird: Wer länger Solidarität geübt hat, wer länger in ein solches Solidarsystem eingezahlt hat, der soll dann, wenn er selbst auf Solidarität angewiesen ist, wenn er selbst Arbeitslosengeld bezieht, auch an dieser Solidarität länger teilhaben können.

    Kapern: Das ist eine Argumentation, wie sie sich auch in der Reihen der SPD wiederfindet, bei vielen CDU-Spitzenpolitikern. Also, es scheint ausgemachte Sache zu sein, dass diese Reform kommt. Strittig ist die Finanzierung. Die Kosten werden auf irgend etwas zwischen 700 Millionen und 2,9 Milliarden Euro geschätzt. Wo soll das Geld herkommen?

    Müller: Also, zunächst einmal ist ja die Frage, welcher finanzielle Aufwand ist damit verbunden, offensichtlich einigermaßen im Streit begriffen. Sie selbst haben ja darauf hingewiesen, dass die Bandbreite von 700 Millionen bis 2,9 Milliarden reicht. Natürlich gibt es einzelne Instrumente, die im Zuge einer solchen Veränderung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I entfallen können, und daraus ergeben sich Finanzierungsspielräume. Ich denke etwa an das Übergangsgeld, das in Fällen des Übergangs von Arbeitslosengeld I zu den Hartz-IV-Bezügen gezahlt wird. Zweitens: Natürlich kann man die Frage stellen, ob das Prinzip der Solidarität - wer länger zahlt, soll auch länger Leistungen bekommen - nicht auch umgekehrt gilt, mit Blick auf diejenigen, die nur kurzzeitig eingezahlt haben. Und zum Dritten wird man sicherlich darüber nachdenken müssen, ob und inwieweit verbleibende Finanzierungsnotwendigkeiten - das ist dann von dem Modell abhängig, das man wählt - dadurch befriedigt werden können, dass auch auf andere Finanzierungsmöglichkeiten zurückgegriffen wird. Im Vordergrund sollte allerdings eine möglichst kostenneutrale Regelung stehen, und ich persönlich habe den Eindruck, dass bei gutem Willen diese Kostenneutralität auch erreicht werden kann.

    Kapern: Wir dürfen festhalten: Der Ministerpräsident des Saarlandes schließt sich dem Vorschlag des NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers an, bei jüngeren Arbeitslosen zu kürzen, um die Arbeitslosengeld I - Zahlung für ältere Arbeitslose zu verlängern.

    Müller: Ich glaube schon, dass man bei jüngeren Arbeitslosen, bei denen wir ja wissen, dass das Verbleiben in der Arbeitslosigkeit in der Regel sehr viel kürzer ist als bei den älteren Arbeitslosen, auch über kürzere Gewährungsdauern des Arbeitslosengeldes I diskutieren kann. In welchem Umfang man das macht, das ist sicherlich eine Frage, über die in der Koalition noch einmal gesprochen werden muss.

    Kapern: Das Gegenargument lautet doch, dass gerade jüngere Arbeitslose auf die stärkere Unterstützung durch das staatliche Sozialsystem angewiesen sind, weil sie eine Familie zu unterhalten haben, weil sie Kinder haben und dergleichen mehr.

    Müller: Ich glaube, dass dieses Argument fehl geht. Es geht deshalb fehl, weil die Chance der Vermittlung in einen Arbeitsplatz bei Jüngeren nach wie vor besser ist als bei älteren Arbeitnehmern, weil die durchschnittliche Dauer des Bezuges des Arbeitslosengeldes I bei Jüngeren deutlich niedriger ist als dies bei Älteren der Fall ist. Und vor diesem Hintergrund glaube ich schon, dass im Bereich der Jüngeren Handlungsspielräume gegeben sind, ohne die Gebote der sozialen Gerechtigkeit zu verletzen.

    Kapern: Der CSU-Chef Erwin Huber hat vorgeschlagen, im Gegenzug die Regelsätze für Hartz IV zu kürzen. Ist das auch eine denkbare Finanzierungsquelle?

    Müller: Die Hartz IV-Regelsätze sind orientiert an dem, was an Bedarf existiert, um ein menschenwürdiges Leben sicherzustellen für den Harz IV-Empfänger und seine Familie. Ich glaube nicht, dass Handlungsspielräume bestehen, diesen Bedarf geringer festzusetzen als das bisher der Fall ist. Ich sehe diese Möglichkeit nicht.

    Kapern: Ein weiteres Streitthema, das auch heute Abend in der Koalitionsrunde besprochen werden wird: Der Mindestlohn für Briefzusteller. Post und Ver.di haben sich da ja auf einen Mindestlohn von bis zu 9,80 Euro geeinigt. Die SPD will diese Vereinbarung nun für allgemeinverbindlich erklären lassen, und zwar schnell, damit das noch in Kraft treten kann vor dem Wegfall des Briefmonopols zum 1. Januar. Sehen Sie auch diesen Zeitdruck?

    Müller: Ich persönlich glaube, dass zunächst einmal geprüft werden muss, ob überhaupt die rechtlichen Voraussetzungen gegeben sind, um eine derartige Allgemeinverbindlichkeitserklärung vorzunehmen. Eine dieser Voraussetzungen ist, dass durch den Tarifvertrag, der allgemeinverbindlich erklärt werden soll, fünfzig Prozent der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfasst sind. Das scheint mir zweifelhaft, und deshalb sehe ich Diskussionsbedarf an diesem Punkt. Im Übrigen soll Mindestlohn ja bei ortsgebundenen Tätigkeiten - und nur da scheint er mir sinnvoll - ein Stück weit gewährleisten, dass vernünftige Löhne für ehrliche Arbeit gezahlt werden. Der Mindestlohn darf nicht instrumentalisiert werden, um Wettbewerbsstrukturen zu verhindern. Auch da muss man sich fragen, ob wir tatsächlich eine Situation im Postzustellungsbereich haben, die Wettbewerb ermöglicht. Wir haben eine Privilegierung der Post mit Blick auf die Umsatzsteuer. Vor diesem Hintergrund sind dort möglicherweise die Handlungsspielräume auch im tariflichen Bereich größer, als dies bei anderen der Fall ist. Also, da gibt es noch viel Diskussionsbedarf.

    Kapern: Ist es für Sie hinnehmbar, dass das Briefmonopol zum 1. Januar 2008 endet und der Mindestlohn für den Briefzustellerbereich nicht geregelt ist bis dahin?

    Müller: Zunächst einmal ist es ja so, dass die Frage, wann endet das Briefmonopol, nicht abschließend entschieden ist. Im Übrigen ist die eine Frage die Frage des Briefmonopols, die andere Frage ist die Frage: Wie gehen wir mit der Umsatzsteuerfrage um? Auch da haben wir ja Sonderregelungen, die postbezogen sind. Ich sehe keine zwingende Korrelation zwischen dem Thema "Mindestlohn und Briefmonopol". Wir haben im Moment ja viele Anbieter im Bereich der Postzustellung, die nicht unter das Briefmonopol fallen. Und auch sie sollen ja in eine Mindestlohnvereinbarung einbezogen werden. Also sind das schon zwei verschiedene Schuhe.

    Kapern: Sie haben es eben schon durchblicken lassen, Sie haben Sympathie für eine Änderung der Pendlerpauschale-Regelung. Die Fahrten zur Arbeit können ja jetzt erst ab dem 21. Kilometer steuerlich geltend gemacht werden. Wie soll das Gesetz reformiert werden? Soll es jetzt reformiert werden? Und auch da stellt sich die Frage, wie soll es finanziert werden?

    Müller: Erstens natürlich war die jetzige gesetzliche Regelung schwierig begründbar. Ich kann nicht auf der einen Seite sagen, künftig gilt das Werktorprinzip, die Aufwendungen, die vor dem Werktor entstehen, können steuerlich nicht mehr geltend gemacht werden. Im Gegenzug ist im übrigen ja auch die Arbeitnehmerpauschale erhöht worden, das wird im Moment in der Debatte immer vergessen. Und gleichzeitig sage ich, alle Kosten für diejenigen, die mehr als 20 Kilometer vom Arbeitsort entfernt wohnen, können in vollem Umfang geltend gemacht werden. Vor dem Hintergrund sehe ich die Notwendigkeit unter Gleichheitsgesichtspunkten, eine Weiterentwicklung vorzunehmen. Zweitens: Der Zweck der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, der mit der Veränderung der Pendlerpauschale verbunden war, ist nicht entfallen. Deshalb glaube ich, dass der Bundesfinanzminister Recht hat, wenn er sagt, wenn wir eine Veränderung vornehmen um dem Gleichheitskriterium Rechnung zu tragen, dann muss es eine Veränderung sein, die am Ende kostenneutral ist.

    Kapern: Die könnte wie aussehen?

    Müller: Deshalb kann ich mir vorstellen, dass wir künftig die 20-Kilometer-Grenze nicht aufrecht erhalten, gleichzeitig aber den Betrag, der pro Kilometer geltend gemacht werden kann, absenken. Zumal, das möchte ich noch einmal betonen, die Erhöhung der Arbeitnehmerpauschale ja unverändert fortgilt.

    Kapern: Ein anderes Thema, das in dieser Woche für Schlagzeilen gesorgt hat, ist das Thema des Betreuungsgeldes. Das Familienministerium hat die Absicht, diese staatliche Wohltat ab 2013 zu zahlen, in den Gesetzentwurf für den Rechtsanspruch für einen Krippenplatz hineingeschrieben. SPD-Finanzminister Peer Steinbrück hat bereits sein Veto dagegen eingelegt. Wie bewerten Sie das Vorhaben an sich und das Vorgehen des Familienministeriums?

    Müller: Ich begrüße ausdrücklich, dass das Betreuungsgeld parallel mit dem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in dem Gesetz aufgenommen ist. Wenn wir es mit dem Grundsatz der Wahlfreiheit ernst meinen, wenn wir es ernst meinen mit der Vorstellung, jede Familie soll frei entscheiden, in welcher Art und Weise im Bereich von unter drei Jahren Kinder erzogen werden, zu Hause oder in einer Betreuungseinrichtung, gleiches gilt im übrigen für den Vorschulbereich, dann kann der Staat nicht nur Infrastrukturen schaffen für diejenigen, die die außerfamiliäre Betreuung bevorzugen, dann muss er die Erziehungsleistung in der Familie auch anerkennen. Und deshalb ist es richtig, wenn wir einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz etablieren, dann auch eine Leistung für diejenigen vorzusehen, die diesen Rechtsanspruch nicht in Anspruch nehmen. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, dass man eine entsprechende Regelung im Gesetz vorgesehen hat. Die Diffamierung des Betreuungsgeldes als eine Herdprämie ist nach meinem Dafürhalten die Diffamierung eines Lebensentwurfes, den Millionen von Frauen in dieser Republik mit hoher sozialer Verantwortung gelebt haben.

    Kapern: Gleichwohl bleibt doch festzuhalten, dass der Hintergrund dieser Idee der garantierten Krippenplätze derjenige war, dass man sich vorgenommen hat, gerade Kinder bildungsferner Milieus oder Kinder aus Migrantenfamilien mit schlechten Sprachkenntnissen in den Genuss einer frühkindlichen Betreuung kommen zu lassen. Das Betreuungsgeld kann dieses Ziel doch erst mal nicht erreichen.

    Müller: Die Möglichkeit, diese Infrastruktur in Anspruch zu nehmen, die Möglichkeit, Betreuungsplätze in Anspruch zu nehmen, ist ja unbenommen, völlig unbenommen von der Frage, gibt es ein Betreuungsgeld oder gibt es keins.

    Kapern: Aber wie lässt sich sicherstellen, dass Kinder bildungsferner Familien auch tatsächlich dieses Angebot wahrnehmen und dieses Geld nicht einfach so in die Haushaltskasse einfließt?

    Müller: Zunächst einmal ist doch die Frage, wie wir unsere Politik im Ausgangspunkt definieren. Gehen wir aus von dem Problemfall, den es gibt, dem Problemfall, dass elterliche, erzieherische Verantwortung unzureichend wahrgenommen wird, oder gehen wir aus von dem Normalfall, der nach wie vor in der Bundesrepublik Deutschland gegeben ist, dass Eltern mit ihrer erzieherischen Verantwortung sehr verantwortlich umgehen? Ich wehre mich dagegen, dass wir unsere Systeme nur noch an dem Fall ausrichten, dass Eltern erzieherischer Verantwortung nicht nachkommen, dass das Kindergeld nicht den Kindern zugute kommt, sondern dass das Kindergeld eingesetzt wird, um zweifelhafte Genüsse in der Familie zu finanzieren. Wenn dieser Ansatz richtig wäre, dass wir sagen, wir schaffen nur noch die Infrastrukturen und sorgen dafür, dass die Kinder die Infrastrukturen in Anspruch nehmen, aber wir entlasten die Eltern nicht mehr durch unmittelbare finanzielle Leistungen, dann müssten wir auch das Kindergeld abschaffen. Dann dürfte es auch kein Kindergeld mehr geben.

    Kapern: Sie sehen also keine Notwendigkeit, dann zumindest auch wirklich sicherzustellen, dass das Betreuungsgeld auch wirklich den Kindern zugute kommt?

    Müller: Selbstverständlich hat der Staat ein Wächteramt, was die Wahrnehmung erzieherischer Verantwortung anbetrifft, und er muss diesem Wächteramt Rechnung tragen. Das ist beispielsweise der Grund, warum wir in diesem Bundesland, im Saarland, die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder verpflichtend gemacht haben und überall dort, wo dieser Pflicht nicht Rechnung getragen wird, künftig auch kontrolliert wird, was ist los in dieser Familie. Also, der Staat kann seinem Wächteramt sicherlich Rechnung tragen und trotzdem Familien, die die Erziehungsaufgabe anständig wahrnehmen, dafür auch materiell entlohnen, dieses materiell anerkennen.

    Kapern: Aber das Betreuungsgeld an eine spezielle Regelung zu koppeln, die sicherstellt, dass Kinder auch wirklich etwas haben vom Betreuungsgeld, halten Sie nicht für nötig?

    Müller: Ich gehe davon aus, dass im Regelfall das Betreuungsgeld, wenn es dann irgendwann gezahlt wird, auch den Kindern zugute kommt. Weit über 90 Prozent der Eltern werden sich so verhalten. Das muss die Grundlage der Regelung sein. Dann kann es Missbrauchsfälle geben, denen muss man nachgehen. Aber deshalb darf man das Betreuungsgeld nicht abschaffen.

    Kapern: Herr Ministerpräsident, wir haben jetzt über eine ganze Reihe von Gesetzesvorhaben gesprochen, die zweierlei gemeinsam haben. Erstens sind sie im Detail unter den Koalitionspartnern umstritten, und zweitens kosten sie Geld. Täuscht der Eindruck, dass im Moment im Hochgefühl des Wirtschaftsaufschwungs gerade die haushaltspolitische Vernunft verloren geht?

    Müller: Ich glaube, dass Haushaltskonsolidierung unverändert oberste Maxime auch des politischen Handelns sein muss. Deshalb sehe ich auch den Raum nicht, dass sozusagen nur noch über die Erhöhung der Ausgaben unter Nichtberücksichtigung der Entwicklung der Einnahmen gesprochen wird. Deshalb bin ich für kostenneutrale Regelungen, sowohl bei der Verlängerung des Arbeitslosengeldes I als auch bei der Frage der Pendlerpauschale. Das Konsolidierungsziel jetzt aufzugeben wäre fatal.

    Kapern: Besteht die Gefahr eines Dammbruchs?

    Müller: Ich habe den Eindruck, dass das Signal des SPD-Parteitags genau dieses Signal war. Das war ein Signal, wir können wieder mit vollen Händen Geld ausgeben, mehr Arbeitslosengeld I für Ältere ohne Einschränkung der Leistung für andere, Erhöhung des Schonvermögens bei Harz IV, Erhöhung der Bedarfssätze bei Harz IV, Pendlerpauschale ohne Gegenfinanzierung und vieles andere mehr. Wer so handelt, handelt nicht verantwortlich. Und deshalb werden Christdemokraten diesen Weg nicht mitgehen.

    Kapern: Seit dem SPD-Parteitag scheint das Koalitionsklima deutlich rauer geworden zu sein. Der SPD-Arbeitsmarktexperte Brandner wirft der Union vor, beim Thema Postmindestlohn mit dem Feuer zu spielen, Franz Müntefering attestiert der CDU ein Gegacker auf dem Hühnerhaufen, CSU-Chef Huber zieht die Vertragstreue der SPD in Zweifel. Wir beurteilen Sie die Kooperationsfähigkeit und Kooperationswilligkeit der Koalitionäre zur Hälfte der Legislaturperiode?

    Müller: Parteitage sind das eine, die Debatten nach Parteitagen auch, die konkrete Politik ist etwas anders. Natürlich haben Parteitage Raumschiffatmosphäre, und natürlich definiert sich eine Partei wie die SPD auch in Abgrenzung zum Koalitionspartner. Dafür habe ich Verständnis. Das muss man mit Gelassenheit hinnehmen.

    Kapern: Sie sehen keine nachhaltige Verschlechterung des Koalitionsklimas?

    Müller: Ich glaube, dass in der Koalition unverändert die Vernunft eine deutlich größere Rolle spielen wird, als dies beim SPD-Parteitag der Fall war. Und deshalb bin ich ganz gelassen, dass man in der Koalition auch weiter vernünftig zusammen arbeiten wird. Vieles, was gut wäre, ist mit der SPD nicht zu machen. Aber alles in allem wird diese Koalition ihre Arbeit weiterführen.

    Kapern: Der CSU-Landesgruppenchef Ramsauer hat gesagt, je weniger heute Abend bei den Koalitionsgesprächen vereinbart wird, desto besser sei dies für Deutschland. Wenn das stimmt, wäre es dann nicht doch an der Zeit, die Koalition zu beenden?

    Müller: Ich sehe die Notwendigkeit zur Beendigung der Koalition überhaupt nicht. Große Koalition heißt immer Kompromisse machen, große Kompromisse machen, Kompromisse, die weh tun. Das gilt für beide Partner. Die Union hat in dieser Koalition große Kröten schlucken müssen. Die SPD hat den Eindruck, dass ihr das auch abverlangt worden ist. Gleichwohl haben beide die Verpflichtung, den insgesamt erfolgreichen Weg - wir haben die absolute Rekordzahl an Erwerbstätigen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt -, den insgesamt erfolgreichen Weg fortzusetzen.

    Kapern: Ein letztes Thema, Herr Ministerpräsident. Die SPD hat ihr neues Grundsatzprogramm. Die CDU will ihres Anfang Dezember verabschieden. Etliche Kreisverbände der Union wollen jetzt darin verankern, dass die Türkei definitiv nicht und niemals EU-Mitglied werden kann. Findet das Ihre Unterstützung?

    Müller: Also, Aussagen für die Ewigkeit sind immer problematisch. Das gilt in diesem Fall auch. Ich denke, die Union ist gut beraten, zwei Dinge zu markieren. Erstens: Wir sind vertragstreu, und vertragstreu heißt, wir haben uns verpflichtet auf europäischer Ebene, ergebnisoffen mit der Türkei über einen möglichen Beitritt zur Europäischen Union zu verhandeln. Dem muss Rechnung getragen werden. Zweitens: Die Union hat eine klare politische Präferenz, was das Wünschbare ist, und das ist die privilegierte Partnerschaft. Wir glauben nicht, dass insbesondere dann, wenn die Europäische Union sich nicht übernehmen will, wenn sie ihre eigene Identität nicht in Zweifel ziehen will, kurz- und mittelfristig die Vollmitgliedschaft der Türkei das Anzustrebende ist. Die privilegierte Partnerschaft ist das deutlich bessere Modell. Dafür setzen wir uns ein, dafür werben wir, und das werden wir beim Parteitag auch beschließen.

    Kapern: Aber prinzipiell bleibt die Tür der EU für ein Vollmitglied Türkei geöffnet?

    Müller: Das ist Gegenstand der vertraglichen Vereinbarungen, die mit der Türkei auf europäischer Ebene getroffen sind, und deshalb wird dieses auch nicht in Frage gestellt. Aber das schließt ja nicht aus, dass im Zuge dieser Verhandlungen das sicher sinnvollere Konzept der privilegierten Partnerschaft mit vertreten wird.

    Kapern: Herr Ministerpräsident, ich bedanke mich für das Gespräch.

    Müller: Bitte schön.