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Münchner Volkstheater
Angst vor schwarzen Haaren

Zwei gescheiterte Personen in Moers finden ein schwarzhaariges Kind in einer Mülltonne vor der Klinik, nehmen es auf und nennen es Abu Am Hamsa Hamed. Aufgrund seiner vermeintlichen Andersartigkeit steht es sofort bei allen unter Generalverdacht. Nora Abdel Maksoud hat diese Geschichte selbst geschrieben und inszeniert "Sie nannten ihn Tico" nun am Münchener Volkstheater.

Von Sven Ricklefs | 21.04.2016
    Der Haupteingang am Münchner Volkstheater am 12. Mai 2015 in München.
    Das Münchner Volkstheater (picture alliance / dpa / Tobias Hase)
    "Wenn Du frierst, zündet er sein Feuerchen für Dich an. Wenn Du hungerst, teilt er sein Brot und wenn Du dich fürchtest, streicht er Dir sanft über die Stirn. Er ist der Ritter der Barmherzigkeit."
    Nur, dass er nicht auftaucht dieser Tico, dieser Papa, dieser Ritter der Barmherzigkeit, den sich Lefty da zusammenfantasiert. Lefty, das ist ein Exjunkie, der mal zu Gast in "Wer wird Millionär" war und dann schon bei der 50 Eurofrage rausgeflogen ist. Und Lefty ist nun mit seinem ehemaligen Sozialarbeiter Pancho unterwegs, der auch längst arbeitslos und abgestürzt ist, in Moers ist man schnell am Rande der Gesellschaft, und deswegen sind die zwei auf Tour, in diesem Roadmovie, das sich Nora Abdel Maksoud als Regisseurin selbst geschrieben hat.
    Abu Am Hamsa Hamed aus der Mülltonne
    Dabei begegnen sie allem, dem man so heute begegnen kann in unserer aufgerührten Gesellschaft: Journalisten mit Abstiegsangst, CSU-Politikern die sich mit ihren Brüdern im Geiste vom rechten Rand Duelle liefern, liebestraurigem Security-Personal, sich kloppenden Talkshowteilnehmern oder der altfeministischen und ehemaligen Schwanz-ab-Erika, die nun für ein "Titten-und-Ärsche-Blatt" schreibt. Und: Lefty und Pancho finden das schwarzhaarige Kind, das sie Abu Am Hamsa Hamed nennen, das sie mit sich nehmen aus der Mülltonne einer Klinik und das durch seine vermeintliche Andersartigkeit sofort bei allen anderen unter Generalverdacht steht.
    "Können wir ihn bei Dir lassen?"
    "Nein."
    "Der hat schwarze Haare."
    "Sein Name ist übrigens: Abu Am Hamsa Hamed."
    "Da müsstest Du schon genauer hinschauen, welche Vorstellungen von Männlichkeit Du hier reinimportierst."
    "Er ist aus Moers."
    Eine Zeit des großen Fastens nennt Nora Abdel-Maksoud das, was uns erwartet oder vielleicht auch schon erreicht hat: eine Zeit der sozialen Kälte und der Angst. Dabei hat sie mit ihrem schräg in unsere Gegenwart hineingrätschenden Stück "Sie nannten ihn Tico" ein Szenen- und Typenpanoptikum entworfen und kurvt darin mit Tempo herum. Das tut sie mit einem großen Gespür für schrilles Timing und zusammen mit ihren beiden Hauptprotagonisten Lefty und Pancho. Hinreißend gespielt von Mehmet Sözer und Eva Bay behalten diese zwei im Verlauf der schnellen 90 Minuten ihre Rollenidentität, während drei weitere Schauspieler und auch die drei Livemusiker durch eine ganze Unzahl von Rollen rauschen, indem sie nur ihre bizarren Plastikperücken wechseln.
    Irrwitziges Tempo
    Gespielt wird dabei um eine Art Medieninstallation herum, die hochgetürmt aus alten Lautsprechern und noch älteren Radioapparaten ebenso Platz bietet für eine Würstchenbude wie auch für das Auftrittstor einer Gameshow. Es ist als habe unsere aus allen Röhren sendende und nach Öffentlichkeit gierende Gegenwart hier ihren prekären Ausdruck gefunden. Nora Abdel-Maksouds Stück "Sie nannten ihn Tico" hat unsere Gesellschaft trotz seines irrwitzigen Tempos genau im Blick, eine Gesellschaft, die sich in den letzten Monaten in einem mindestens ebenso irrwitzigen Tempo in weiten Teilen in eine Angstgesellschaft verwandelt hat. Wie sonst, wenn nicht mit einer überdrehten Haudrauf-Komik kann man noch einer hysterisierten Szenerie begegnen, die längst zur Realsatire verkommen ist. Und so könnte "Sie nannten ihn Tico" Kult werden, gerade auch für ein junges Publikum.