Archiv


Müntefering für umfassenden Risikoausgleich bei Krankenkassen

Im Streit um die Gesundheitsreform hat sich Vizekanzler Franz Müntefering für einen umfassenden Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen ausgesprochen. "Kassen, die viele mitversicherte Kinder haben, Kassen, die viele chronisch Kranke haben, die haben natürlich eine andere Ausgangslage als andere, und das muss ausgeglichen werden", sagte der SPD-Politiker. Auch zwischen den Ländern müssten unterschiedliche Belastungen kompensiert werden.

Moderation: Klaus Remme |
    Klaus Remme: In den nächsten Minuten werden wir über die Gesundheitsreform reden. Ja, ich weiß, viele von Ihnen können das nicht mehr hören. Und auch bei uns, den Sendungsmachern, geht mitunter ein leises Stöhnen um. Ich will es selbst bei den beteiligten Politikern nicht ganz ausschließen. Doch es hilft nichts: Als Beitragszahler und als Patienten sind wir alle betroffen - umso ärgerlicher, wenn uns die Politiker nach monatelangem Streit versichern, eine grundlegende Reform sei dies nun auch wieder nicht, und es Ministerpräsidenten gibt, die den ganzen Sinn des Vorhabens nicht sehen.

    Das Wort Überforderungsklausel erscheint in mehrfacher Hinsicht passend. Heute nun will der Koalitionsausschuss in einem Spitzengespräch die ausstehenden Fragen klären. Am Telefon ist Vizekanzler Franz Müntefering (SPD). Guten Morgen!

    Franz Müntefering: Guten Morgen, Herr Remme!

    Müntefering: Herr Müntefering, bevor wir Einzelaspekte erörtern, was verbessert diese Reform konkret im Vergleich zu den herrschenden Zuständen?

    Müntefering: Eine Reform ist unverzichtbar, das Gesundheitswesen hat Dynamik. Und wer die Vorstellung hat, die Alternative wäre, gar nichts zu machen, der irrt sich sehr. Wer will, dass die Qualität des Gesundheitswesens hoch bleibt, das heißt, der, der Krank ist, kriegt eine gute Versorgung in Deutschland, der will, dass alle versichert sind, und der will, dass die Menschen frei wählen dürfen, wo sie sich versichern, der kann mit dem, was wir jetzt tun, zufrieden sein.

    Remme: Was würde denn passieren, wenn wir nichts tun?

    Müntefering: Das sehen wir ja im nächsten Jahr. Die Beiträge steigen, weil im System natürlich hinreichend Dynamik ist. Und das, was wir jetzt tun, heißt, in den nächsten Jahren wird gespart, etwa zwei Milliarden pro Jahr. Der Wettbewerb könnte ruhig noch intensiver sein. Und es wird dann auch konkret einiges verbessert, was den Risikostrukturausgleich und die steuerliche Finanzierung des Gesundheitswesens angeht.

    Remme: Die Beiträge steigen aber auch mit der Reform.

    Müntefering: Nein, sie steigen vorher. Die Reform beginnt 2008. Die Steigerungen sind im Jahre 2007. Sie haben auch zum Ziel - das ist zugegeben - dass die Kassen sich entschulden. Das ist auch mal nötig. Das heißt, die Kassen stellen sich jetzt erst mal auf null. Und in der ganzen Anlage zur Reform steckt der Zwang für die Kassen, ihre eigene Ausgabepolitik zu überprüfen und dafür zu sorgen, dass sie im Jahre 2008 mit dem gleichen Beitragssatz starten können. Das ist ein großer Druck auf die Kassen, ihre Potenziale an Sparmöglichkeiten zu nutzen.

    Remme: Einer der Hauptstreitpunkte ist die so genannte Überforderungsklausel, die Begrenzung eines Zusatzbeitrages, die Not leidende Kassen über den Beitrag hinaus erheben dürfen. Bleibt es auch nach dem Gespräch heute Abend bei der Grenze von einem Prozent des Haushaltseinkommens, so wie Sie das wollen?

    Müntefering: Na ja, erst mal muss man vielleicht sagen, wir wollen ja nicht, dass dieser Zusatzbeitrag genommen wird. Ich hoffe, alle wollen das nicht. Sondern wir wollen, dass die Kassen auskommen mit dem Beitrag, den sie dann bekommen.

    Remme: Aber Sie wollen die Grenze.

    Müntefering: Nein, es geht erst mal nur um die Ausnahme. In der Regel sollen die Kassen auskommen mit den Beiträgen, die sie nehmen dürfen. Deshalb machen wir ja einen einheitlichen Beitrag. Und nur solche Kassen, die, weil sie schlecht organisiert sind, zusätzliches Geld brauchen, dürfen zusätzliche Beiträge nehmen. Und da darf es eben nur bis zu einem Prozent des Einkommens des jeweiligen versicherten Mitglieds sein. Das Mitglied kann natürlich auch im nächsten Jahr dann in die andere Kasse gehen. Das heißt, alle Kassen werden sich zunächst mal hüten davor, solche Zusatzbeiträge zu nehmen. Und das ist das eigentliche Ziel der ganzen Operation.

    Remme: Und auf dieser Deckelung beharren Sie?

    Müntefering: Ja, das ist ja vernünftig. Es kommt ja darauf an, dass da nicht beliebig irgendwo zusätzliches Geld genommen werden kann, sondern das soll begrenzt bleiben. Noch mal, in aller Regel sollen die Ausgaben der Kassen gedeckt werden durch die Beiträge, die sie nehmen dürfen und zwar alle Kassen gleich viel. Vor diesem Zusatzbeitrag geht es ja zunächst einmal um die Frage, ob es einen vernünftigen Risikostrukturausgleich gibt. Das heißt, wird zwischen den Kassen so ausgeglichen, dass die Kasse mit den größeren Risiken, also mit den mehr Älteren, mit den mehr Kranken, dass die einen Ausgleich bekommen, so dass sie nicht höhere Beiträge nehmen müssen als die anderen. Das ist ja heute sehr ungleich verteilt.

    Remme: Kommen wir zu dem Ausgleich im Anschluss an die nächste Frage. Ich will bei der Ein-Prozent-Regelung noch bleiben. Denn es gibt ja die Befürchtung, dass diese Regelung zwar die Geringverdiener schützt, manche Kasse aber dadurch in den Ruin getrieben wird. Sagen Sie, na gut, die haben halt schlecht gewirtschaftet und insofern ist das dann ein nützlicher Nebeneffekt?

    Müntefering: Wir glauben nicht, dass das der Effekt sein wird, sondern wir glauben, dass alle Kassen sich verdammt anstrengen werden, damit sie erst mit dem Beitrag, den Sie nehmen dürfen, auskommen. Und ein Prozent ist ja nicht wenig, wenn man das zusätzlich nehmen darf. Aber wollen, tun wir das nicht. Es sollte möglichst da ohne sein.

    Remme: Bei dem Finanzausgleich hat man sich teilgeeinigt, wie es am Montag hieß. Einer Absprache zufolge sollen jetzt offenbar die Kosten von 50 Krankheiten umverteilt werden. Herr Lauterbach, Frau Nahles, Herr Fiedler kritisieren das schon wieder. Das klingt nicht nach einer Einigung.

    Müntefering: Das wird man heute Abend erst im Detail sehen, aber ich bin froh, dass es eine Verständigung gegeben hat an der Stelle. Das war nicht so ganz einfach. Ich bin dafür, dass so komplett wie möglich dieser Ausgleich stattfindet. Das ist so, dass die Kassen unterschiedliche Risiken haben und das muss man natürlich berücksichtigen. Kassen, die viele mitversicherte Kinder haben, Kassen, die viele chronisch Kranke haben, die haben natürlich eine andere Ausgangslage als andere, und das muss ausgeglichen werden. Auch zwischen den Ländern gibt es unterschiedliche Belastungen. Und da darf kein Land sich zu Lasten der anderen Länder gesund rechnen.

    Remme: Natürlich denken Roland Koch, Edmund Stoiber und Christian Wulff an ihre Wahlen im Jahr 2008, wenn diese Reform greift. Zeigt sich hier einmal mehr der Fluch des permanenten Wahlkampfes im föderalen System?

    Müntefering: Soweit würde ich nicht gehen, und ich würde den Beteiligten auch mal unterstellen, dass sie hinreichend objektiv sind in der Wahrnehmung der Interessen. Wir haben ja schon bisher einen gewissen Risikostrukturausgleich gehabt. Der soll verbessert werden, der soll perfektioniert werden. Und ich hoffe, dass auch Bayern mit dem einverstanden sein kann, was jetzt beschlossen wird.

    Remme: Insbesondere von dort gibt es offenbar beträchtliches Misstrauen gegenüber Ministerin Schmidt. Ist es eigentlich zu viel verlangt, Herr Müntefering, wenn in München ein schriftlicher Entwurf seitens des Gesundheitsministeriums als Voraussetzung erwartet wird?

    Müntefering: Der Gesetzesentwurf richtet sich an den Bundestag und an die Bundesregierung. Und das ist ein Problem, was in dem ganzen Vorgang so richtig offensichtlich geworden ist. Der Bundesrat ist dran, wenn Bundesregierung und Bundestag ihre Beschlüsse gefasst haben. Der bayerische Ministerpräsident hat mit am Tisch gesessen als wir Anfang Juli die Eckpunkte beschlossen haben, die nicht so schlecht waren. Denn sie werden da jetzt ziemlich genau auch so Gegenstand des Gesetzes werden. Und ein bisschen irritiert bin ich darüber, dass im Nachhinein vor allen Dingen öffentlich so viel geredet worden ist. Ich glaube, der ganze Prozess ist eigentlich ganz normal, den wir jetzt erlebt haben. Man streitet um die Details. Nicht normal ist die Art und Weise, wie einige der Beteiligten glauben das in der Öffentlichkeit austragen zu müssen. Das können die doch alle in ihren Präsidien und Vorständen oder am Telefon untereinander machen. Das ist normal. Aber diese demonstrative öffentliche Distanzierung von manchen Sachen, die war nicht hilfreich, und die sollte zu Ende sein.

    Remme: Wen meinen Sie?

    Müntefering: Wenn Sie keinen gehört haben, den ich gemeint haben könnte, dann will ich es Ihnen auch nicht verraten. Aber die meisten haben ganz sicher gewusst, auf wen sich das jetzt bezog.

    Remme: Herr Müntefering, wie lange wird diese Reform halten? Mit anderen Worten: Wann kommt die Reform der Reform?

    Müntefering: Das ist ein Anspruch, der da gestellt wird, dass die Reform zu Ende sein sollte. Ich glaube, dass die sozialen Sicherungssysteme von Zeit zu Zeit immer weiterentwickelt werden müssen, weil die äußeren Bedingungen sich verändern. Wir wissen nicht, wie viele neue Medikamente, wir wissen nicht, wie viele neue Techniken es gibt, wir wissen nicht, ob wir in Sachen Forschung was gegen Altersdemenz und Krebs und Aids finden, wo wir alle drum kämpfen. Das Gesundheitswesen ist die größte Branche überhaupt. Über vier Millionen Menschen sind da beschäftigt, und es werden eher mehr werden. Das heißt, das ganze System hat eine ganze Menge Dynamik. Ich glaube, dass immer so alles Jahrzehnt einmal man im größeren Maße hier neu organisieren muss. Trotzdem ist das, was wir jetzt machen, eine Entscheidung, die auch die Zukunft ist, weil sie die Risiken besser verteilt, als das vorher der Fall gewesen ist.

    Remme: Drohen die Bemühungen um eine Gesundheitsreform andere möglicherweise ebenso wichtige Themen wie zum Beispiel den Mindestlohn zu ersticken?
    Müntefering: Ich hoffe, dass alle gelernt haben davon, dass man in der Sache streiten darf um den richtigen Weg, keiner hat von Anfang an die Wahrheit auf seiner Seite, aber es muss dann auch möglich sein, das intern zu machen, und das nicht zu kleinen machtpolitischen Spielchen zu nutzen. Wir werden morgen eine Anhörung haben zum Mindestlohn, zum gesetzlichen, zum tariflichen. Dass in Deutschland die Löhne an verschiedenen Stellen dramatisch absinken und unkontrolliert niedrig werden bis an die Sittenwidrigkeit hinan, das ist richtig. Leute, die 4 Euro, 3,50 Euro die Stunde bekommen für eine ordentliche Arbeit, das ist nicht in Ordnung. Und da muss die Politik auch aufstehen und dafür sorgen, dass dies wieder in Ordnung gebracht wird. Und ich hoffe, dass wir da Anfang nächsten Jahres so weit sind.

    Remme: Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering von der SPD. Herr Müntefering, vielen Dank für das Gespräch.

    Müntefering: Bitteschön, Herr Remme. Tschüss.