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Müntefering: Im Fall El Masri zunächst die Fakten klären

Vizekanzler Franz Müntefering hat in der Debatte um die Entführung des Deutsch-Libanesen El Masri durch den US-Geheimdienst CIA vor voreiligen Schlüssen gewarnt. Zunächst müsse festgestellt werden, was wirklich passiert sei, sagte der SPD-Politiker. Eine Entführung deutscher Staatsbürger sei jedoch in jedem Fall inakzeptabel.

Moderation: Wolfgang Labuhn |
    Wolfgang Labuhn: Herr Müntefering, die große Koalition ist heute genau 20 Tage im Amt. Das ist natürlich viel zu früh für eine Zwischenbilanz, aber vielleicht ausreichend, um schon einmal erste Erfahrungen zu schildern. Wie entwickelt sich aus Ihrer Sicht das Arbeitsklima jetzt zwischen SPD und Union in dieser ersten großen Koalition auf Bundesebene seit fast vier Jahrzehnten?

    Franz Müntefering: Ja, es ist ein besonderes Ereignis natürlich für uns alle. Ich denke, der Start war in Ordnung. Wir sind sofort rein, da gab es keine Schonfrist - außenpolitisch, innenpolitisch. Wir sprechen in aller Sorgfalt über die Probleme, die wir haben. Wir haben uns viel vorgenommen, und ich glaube, es wird uns auch gelingen. Ich glaube, dass so etwas wie die Bereitschaft im Lande doch gewachsen ist, mitzuhelfen und dafür zu sorgen, dass Deutschland jetzt in dieser großen Koalition das tun kann, um gut nach vorne zu gehen. Und das wollen wir auch miteinander.

    Labuhn: Die Koalition hat sich mit Elan an die Arbeit gemacht. Was waren für Sie die bisher wichtigsten Kabinettsbeschlüsse?

    Müntefering: Das waren Entscheidungen, die bei mir gefallen sind. Da ging es um verschiedene Arbeitsmarktmaßnahmen, die wären zum 31.12. dieses Jahres ausgelaufen. Die sind verlängert worden. Wir haben vorbereitet Maßnahmen für das Wachstum. Da geht es um verbesserte Abschreibungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen, da geht es um haushaltsnahe Dienstleistungen und da geht es um Instandhaltung und Modernisierung an Gebäuden, an Wohnungen, an Grundstücken. Da soll privates Kapital mobilisiert werden. Das sind alles Maßnahmen, die sich vor allen Dingen richten auf besseres Wachstum und damit auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

    Labuhn: Es gab auch schon einige erste Missklänge. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla etwa machte direkt vor der ersten Sitzung des Koalitionsausschusses die, wie er sagte, rot-grüne Vorgängerregierung dafür verantwortlich, dass die große Koalition nun einen so harten Sparkurs fahren müsse. Rotgrün habe einen riesigen Schuldenberg - das ist ein Zitat von Herrn Pofalla - hinterlassen, der nun zu schmerzhaften Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen zwinge. Was sagen Sie zu solcher Begleitmusik Ihrer Arbeit?

    Müntefering: (Das) ist nicht besonders klug, man könnte natürlich unsererseits die alten Geschichten vom Bundesrat erzählen, der ausgebremst hat, der das Steuervergünstigungsabbau-Gesetz ausgehebelt hat und der damit dafür gesorgt hat, dass weniger Geld bei den Kommunen und den Ländern angekommen ist. Ich empfehle sehr, wir lassen das hinter uns und konzentrieren uns auf die Dinge, die jetzt zu tun sind. Nicht nur der Bund, sondern auch die Länder sind hoch verschuldet, ein Großteil der Länder hat keinen verfassungsgemäßen Haushalt mehr. Und wir müssen wirklich dafür sorgen, dass sowohl Bund, Länder als auch Gemeinden in die Lage versetzt werden, ihrer sozialen Verpflichtung nachzukommen, aber auch dafür zu sorgen, dass Wachstum ist und dass vor allen Dingen die Substanz vor Ort nicht kaputt geht. Das heißt, wir müssen uns sehr darauf konzentrieren, das zweifellos zu wenige Geld so einzusetzen, dass es wachstumsrelevant ist, wachstumsfördernd ist.

    Labuhn: Andererseits haben Unionspolitiker mangelnde Kommunikation kritisiert, nachdem Gesundheitsministerin Ulla Schmidt von der SPD ja einen Gesetzentwurf für Milliardeneinsparungen bei Arzneien vorgestellt und auch öffentlich über die Angleichung von Ärztehonoraren für Privat- und für Kassenpatienten nachgedacht hatte. Was ist da schiefgelaufen?

    Müntefering: Die Arzneimittel-Einsparungsbemühungen, die stehen im Koalitionsvertrag drin. Das ist völlig korrekt, was die Gesundheitsministerin da angeschoben hat. Es wird immer wieder so sein, dass man in der konkreten Umsetzung unterschiedliche Meinungen hat. Da empfehle ich, dass wir alle noch lernen, solche unterschiedlichen Positionen dann intern abzugleichen und zu klären, auch zu Kompromissen zu kommen. Öffentliche Begleitmusik dazu ist denkbar ungeeignet. Jedenfalls hat die Gesundheitsministerin sehr recht, wenn sie sagt, wir müssen voran machen, damit wir die 2-Milliarden-Einsparung, die wir uns vorgenommen haben in dem Bereich, dann auch erreichen im nächsten Jahr.

    Labuhn: Herr Müntefering, die große Koalition hat sich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgenommen, die Sanierung der Staatsfinanzen, die Belebung der Wirtschaft - das alles bei Bewahrung sozialer Gerechtigkeit. Und das wird nun alles überlagert vom Fall el-Masri, also vom Fall des Deutsch-Libanesen Khaled el-Masri, der Ende Dezember 2003 von der CIA entführt, nach Afghanistan gebracht wurde, dort fünf Monate lange verhört, möglicherweise auch gefoltert wurde, bis er wieder frei kam. Wann haben Sie zum ersten Mal davon erfahren?

    Müntefering: Nach meiner Erinnerung in den letzten Tagen, in den Zeitungen, in den Medien, das hat vorher keine Rolle gespielt. Was man jetzt gehört hat, führt dazu, zu sagen: Nun lasst die vernünftigen Vorbereitungen für eine Aufklärung des Falles so weit wie möglich voranschreiten. Das Kontrollgremium des Deutschen Bundestages wird sich mit der Sache zu befassen haben. Und dann wird man wissen, wie viel davon auch in öffentlicher Debatte im Bundestag und in der Öffentlichkeit generell angesprochen werden kann. Die Sache muss aufgeklärt werden, das ist ganz eindeutig. Das kann man nicht hinnehmen, eine solche Sache. Aber das ist etwas, was auf dem normalen Weg im Deutschen Bundestag in dem Kontrollgremium angesprochen werden muss.

    Labuhn: In der Öffentlichkeit werden schon weitergehende Fragen gestellt, nämlich Fragen, wie: Haben deutsche Sicherheitskreise der CIA etwa den Namen von Khaled el-Masri weitergegeben? Waren die Amerikaner informiert? Konnten sie ihn gezielt festnehmen? Mit anderen Worten: Ist es auszuschließen, dass beispielsweise der Bundesnachrichtendienst schon vor dem offiziellen Bekanntwerden der Sache Ende Mai, Anfang Juni vergangenen Jahres davon gewusst hat?

    Müntefering: Das sind alles Spekulationen, die da laufen. Ich finde das nicht seriös, denn entweder weiß man, was Sache war, dann muss man keine Untersuchungsausschüsse mehr ankündigen oder in geheime Kontrollgremien gehen, dann kann man da offen drüber sprechen. Aber offensichtlich wissen alle nicht Bescheid und spekulieren da rum. Unter zum Teil parteipolitischen Gesichtspunkten läuft das Ganze, mit dem Versuch, den Außenminister da in besonderer Weise anzusprechen. Ich bin dafür, dass alle sich zurückhalten im Augenblick und abwarten, was denn das Ergebnis der Untersuchungen, der Gespräche im Kontrollgremium ist. Und dann wird man weiter sehen, wie es denn wirklich gewesen ist. Im Moment ist das alles Spekulation.

    Labuhn: Der jetzige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier war zum Zeitpunkt dieser Entführung Kanzleramtschef der rot-grünen Regierung. Er hatte vermutlich über den Geheimdienstkoordinator durchaus Zugang zu Geheimdienstinformationen. Was müsste geschehen, wenn sich herausstellen sollte, dass Herr Steinmeier früher als andere über die Sache informiert war?

    Müntefering: Das ist eine Frage mit zweimal "wenn". Frank-Walter Steinmeier hat klargemacht, dass er informiert worden ist über den Fall, als der sozusagen beendet war und dass er seine Erkenntnis dann der Staatsanwaltschaft zugeordnet hat. Und mehr kann man darüber im Moment auch nicht sagen. Er hat sich bereit erklärt, natürlich mit dem Kontrollgremium zu sprechen. Andere werden das ganz sicher auch tun. Und dann wird man den ganzen Fall da zu rekonstruieren haben. Alles andere ist jetzt Spökenkiekerei.

    Labuhn: Ein weiteres heikles Thema sind die geheimen Gefangenenflüge der CIA, die offenbar auch über US-Stützpunkte in Deutschland oder vielleicht auch über deutsche Flughäfen abgewickelt wurden oder noch werden. Was sagt die Bundesregierung dazu?

    Müntefering: Dazu wird es in der nächsten Woche - in den nächsten Wochen, in dieser Woche und in den nächsten Wochen - sicher öffentliche Diskussionen geben, auch im Deutschen Bundestag, das ist ja angekündigt. Dass es Flüge gibt von Geheimdiensten, darüber sollte sich keiner aufregen oder so tun, als ob man sich darüber aufregt, denn natürlich gibt es die, was denn eigentlich sonst? Und was die Notwendigkeit angeht, das zu tun, will ich das auch für völlig unbestreitbar - meinerseits zumindest - erklären. Wir sind mit einem Terrorismus konfrontiert, der international unterwegs ist. Und das kann man nicht dadurch beantworten, dass man so tut, als ob man nicht die geheimen Dienste auch weltweit unterwegs hätte. Also, wenn es solche Flüge generell gibt, wird mich das nicht verwundern. Es würde mich eher verwundern, wenn manche so tun, als ob man das nicht wissen könnte. Die Gefangenen an bestimmten Stellen werden ja nicht dahin geschwommen sein, sondern die werden geflogen sein. Das wissen wir alle miteinander, und das kann auch für niemanden neu sein. Etwas ganz anderes ist die Frage: Wie gehen wir auf dieser Welt um mit Folter? Das trifft nicht nur die USA und andere westliche Länder, sondern viele, viele andere Länder auch. Und da finde ich es sehr gut, dass die amerikanische Regierung in den letzten Tagen durch ihre Außenministerin wiederholt deutlich gemacht hat: Sie akzeptieren das internationale Völkerrecht, sie akzeptieren die Genfer Konventionen, da gehen wir nicht auseinander. Und das ist eine gute Botschaft, die allerdings auch ganz ernst genommen werden muss. Folter ist nicht akzeptabel, in welcher Situation auch immer.

    Labuhn: Die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice hat das allerdings nur ausgeschlossen für amerikanische Behörden und amerikanisches Personal - jetzt auch im Ausland, wie sie sagte. Sie hat nicht ausgeschlossen, dass beispielsweise Sicherheitskräfte, Sicherheitseinrichtungen anderer Staaten im Auftrag der CIA oder amerikanischer Stellen so etwas tun könnten. Müsste sich nicht die Bundesregierung auch dagegen verwehren?

    Müntefering: Das hat ja die NATO miteinander gemacht, sie hat ja die NATO besucht, und die Außenminister der NATO haben zusammengesessen und haben darüber diskutiert am Donnerstag der letzten Woche. Alle haben im Nachhinein festgestellt, das war ein befriedigendes Gespräch. Sie hat deutlich gemacht, im Rahmen der Verantwortung, die sie übernehmen kann und die die USA übernehmen können, respektieren sie und akzeptieren sie das Folterverbot. Und sie halten sich auch international daran. Das heißt nicht, dass man blauäugig sein und glauben dürfte, dass es auf der Welt nicht irgendwo Folter gäbe. Aber dagegen muss man vorgehen, dagegen muss man einschreiten, und das muss man versuchen, so weit wie möglich zu reduzieren. Aber das ist eine Aufgabe, die richtet sich an viele auf der Welt. Bei all dem dürfen wir nicht vergessen, dass wir mit aller Energie kämpfen gegen die, die mit Terrorismus diese Welt überziehen wollen. Und die erreicht man nicht dadurch, dass man abwartet, was da passiert, sondern man muss präventiv arbeiten, man muss vorsorgen dafür, dass Menschen nicht von denen verletzt und in den Tod gerissen werden können. Das ist eine Situation, in der wir sind, die wir uns alle bewusst machen müssen. Die Aufgabe, mit einem solchen Angriff von Terroristen fertig zu werden, ist nicht einfach, und deshalb hoffe ich, dass diese Debatten, die wir jetzt führen, ein bisschen dazu beitragen, dass Mehreres erreicht wird: Ganz klar ein "Nein" zur Folter jeder Art, aber auch die Bereitschaft, mit aller Energie und Entschlossenheit denen zu sagen: Wir schützen die Menschen in unserem Land, wir sorgen dafür, dass sie nicht Freiwild werden. Und wir machen das auch vorbeugend, wir warten nicht ab, bis etwas passiert ist. Das ist keine so leichte Aufgabe.

    Labuhn: Hier ist immerhin ein deutscher Staatsbürger entführt worden, man könnte das auch "Freiheitsberaubung" nennen. Laut Bundeskanzlerin Merkel hat die amerikanische Seite dies als Fehler eingestanden. Wäre nicht zumindest eine Entschuldigung der Amerikaner fällig?

    Müntefering: In diesen Wortstreit will ich mich nicht einmischen. Und ich empfehle nochmal, dass wir abwarten, was die Kontrollgremien des Deutschen Bundestages dazu wirklich letztendlich feststellen. Natürlich ist (eine) Entführung deutscher Staatsbürger nicht akzeptabel für uns, und das muss auch entsprechende Reaktionen haben. Aber ich bitte doch sehr darum, dass wir zunächst einmal feststellen, was denn da wirklich passiert ist.

    Labuhn: Wenden wir uns erfreulicheren Themen zu. Im Koalitionsausschuss ist am Donnerstag beschlossen worden, Teil 1 der Föderalismusreform sehr zügig, nämlich schon im Februar, ins Parlament einzubringen. Wie bewerten Sie jetzt insgesamt die Chancen auf eine erfolgreiche umfassende Föderalismusreform?

    Müntefering: Ja, ich glaube, dass das, was wir jetzt vorbereitet haben, was ja dem Koalitionsvertrag sehr konkret anhängt - das sind ja schon Gesetzestexte -, dass wir dieses beschließen werden, sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat. Es waren ja viele Ministerpräsidenten mit am Tisch. Wir brauchen dafür eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die gibt es, und eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat - die gibt es nicht ohne weiteres. Da wird man noch werben müssen. Und deshalb wird das noch eine Aufgabe sein in den nächsten Wochen und Monaten. Aber ich denke, das, was jetzt aufgeschrieben ist und was da vereinbart ist - also die Zuordnung der Kompetenzen so, dass es weniger zustimmungsbedürftige Gesetze gibt und verschiedene finanzpolitische Dinge, aber auch Dinge, die für den Bereich der Hochschulpolitik, für die Vertretung Deutschlands in Europa und für die innere Sicherheit wichtig sind, das versteckt sich ja alles darin - das sind Dinge, die meines Erachtens im nächsten Sommer beschlossen sein sollten, endgültig. Und dann geht es an den Teil 2, nämlich an die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Das ist etwas, was ja eine Zeit dauern wird. Dafür wird man sicher zwei Jahre brauchen.
    Labuhn: Sie sind nicht nur Vizekanzler, sondern auch Ressortchef, und als Bundesminister für Arbeit und Soziales haben Sie den Kommunen jetzt im Streit um die Finanzierung der Wohnungskosten von Langzeitarbeitslosen ein ziemlich teures Angebot gemacht. Sie wollen den Kommunen nun auch 2006 den gleichen Bundesanteil zahlen wie in diesem Jahr. Warum der Sinneswandel, der den Bund ja insgesamt Kosten von ungefähr 3,5 Milliarden Euro beschert?

    Müntefering: Ja, das ist bei mir kein Sinneswandel, sondern das ist geschuldet der Tatsache, dass man hier Prioritäten setzen musste. Der entscheidende Punkt für mich ist, dass zum 1. Januar 2006 weiter gezahlt werden kann, dass weiter im Sinne der Arbeitslosen vermittelt werden kann, qualifiziert werden kann, eingegliedert werden kann, dass da keine Strecke entsteht, auf der Unklarheit entsteht, wer denn eigentlich jetzt noch etwas da an der Stelle tun kann und tun muss. Also, das war das überwiegende, übergreifende, dominierende Element. Das, was wir jetzt vorschlagen zu tun ist eine großzügige Regelung aus Sicht des Bundes. Bei dem was wir an Zahlen haben, bei dem, was wir da an Positionen haben glaube ich, ist das, was wir da zahlen, mehr als bei den Kommunen an Lücke entsteht. Aber es gibt dazu eben unterschiedliche Meinungen. Die konnten nicht bereinigt werden, weil die Entlastungshöhe, die es bei den Kommunen gibt in dem Zusammenhang, einem Schätzwert unterliegt und es ist ganz schwierig, da Beweis zu führen. Also, wir haben zum guten Schluss gesagt: Im Interesse der Arbeitslosen, die darauf vertrauen können müssen, dass Bund, Länder und Gemeinden sich nicht in solchem Streit verhaken, machen wir das. Das ist ein gutes Zeichen für die Arbeitslosen und ein befriedigendes Zeichen für die Städte und Gemeinden. Aber ich muss auch sagen, das ist ein schwieriges Zeichen für die Arbeitsfähigkeit dieser Koalition und der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Ich bin enttäuscht darüber, dass die Länder an dieser Stelle versucht haben und (es) zum guten Schluss auch geschafft haben, in hohem Maße dem Bund Lasten hin zu drücken. Das sind allerdings nicht 3,5 Milliarden, die zusätzlich an Kosten entstehen, sondern etwa eine Größenordnung von 1,2 bis 1,3 Milliarden. Denn dass wir überhaupt das zahlen mussten, das war ja schon klar. Die 19 Prozent wären nur eben ein Drittel weniger gewesen als das, was wir jetzt zu zahlen haben.

    Labuhn: Passt aber dieses großzügige Weihnachtsgeschenk für die Kommunen, über das ja der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück nicht glücklich gewesen sein soll, zum rigorosen Sparkurs der großen Koalition?

    Müntefering: Nein, das passt nicht dazu. Insofern bin ich enttäuscht, dass die Länder an der Stelle keine Bereitschaft gezeigt haben, wirklich ehrlich zu rechnen und dazu beigetragen haben, dass der Bund jetzt zu einer zusätzlichen Herausforderung steht. Natürlich werden wir nicht neue Schulden machen können, und das wird die Bundesregierung insgesamt als Konfrontation in den Haushaltsberatungen wiedersehen.

    Labuhn: Sie haben unlängst im Bundestag erklärt, zu menschenwürdiger Arbeit gehörten existenzsichernde Löhne. Ein Arbeitnehmer müsse so viel in der Tasche haben, dass er sich und seine Familie ernähren könne. Sie wollen deshalb eine Diskussion über die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne. CDU-Generalsekretär Pofalla erwartet von der SPD, dem Unionsmodell für so genannte Kombilöhne mit staatlichen Lohnzuschüssen zuzustimmen, um dadurch Langzeitarbeitslosen den Einstieg in Niedriglohnjobs zu erleichtern. Könnten Sie sich dazu durchringen?

    Müntefering: Richtig ist, dass im Bereich der existenzsichernden Löhne, im unteren Bereich, es ein ziemliches Durcheinander in Deutschland gibt, die Kraft der Gewerkschaften da sehr gering ist, dass es Minimallöhne gibt, von denen Menschen nicht leben können, dass es inzwischen 700.000 Aufstockerfälle gibt, das heißt Menschen, die mit ihrer Arbeit so wenig im Portemonnaie haben am Monatsende, dass sie noch zusätzlich Arbeitslosengeld II beantragen müssen. Und darum müssen wir uns kümmern. Und wir haben nun vereinbart in der Koalition, dass wir im ersten Halbjahr 2006 in einer Kombination von Kombilohn, Entsendegesetz und Mindestlohn klären, was man zum Nutzen existenzsichernder Löhne tun kann. Da kann keiner erwarten, dass der andere einfach das macht, was man sich wünscht, sondern wir werden daraus einen guten, vernünftigen Mix machen. Das bedarf aber noch einer gründlichen Diskussion in den nächsten Monaten.

    Labuhn: Welches Mindestlohnmodell wäre Ihnen persönlich am liebsten?

    Müntefering: Ja, ich sage, es wird eine Kombination von diesen Dingen sein. Es ist nur so, dass es in den allermeisten europäischen Ländern eine solche Mindestlohnregelung gibt. Die fahren damit auch ganz ordentlich. Aber wir wollen jetzt keine Vorentscheidung treffen in diesem Stadium, sondern sagen, wir machen das, was wir in der Koalition vereinbart haben: Im ersten Halbjahr 2006 eine vernünftige Lösung suchen.

    Labuhn: Es gibt einige Politikfelder, deren Bewältigung man aus dem Koalitionsvertrag vorerst ausgeklammert hat, weil sie sachlich sehr schwierig sind, weil auch die Zeit fehlte, das im Einzelnen zu erörtern, etwa die Reform des Gesundheitswesens, die angepackt werden soll. Es gibt bekanntlich zwei Modelle, das der Bürgerversicherung, der Vorschlag der SPD, und das einer Gesundheitsprämie für alle. Kann es da einen Kompromiss geben, kann es da eine Mischform geben, ist das vorstellbar oder wie kann hier eine Lösung gefunden werden?

    Müntefering: Ja, das ist bei der Gesundheit so wie bei den eben besprochenen existenzsichernden Löhnen. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man das machen kann und nun muss man sich an eine Debatte heran machen. Dabei darf es keine faulen Kompromisse geben, irgendwo was dazwischen, sondern man muss Kompromisse machen, die auch tragfähig sind. Es wird aber gut sein, wenn wir das im ersten Halbjahr 2006 hinbekommen. Das wird schwer, aber ich glaube, dass das geht. Wir sind uns bewusst in der Koalition, dass wir sowohl im Bereich der existenzsichernden Löhne als auch im Bereich Gesundheit etwas hinbekommen müssen, das den Menschen Sicherheit gibt und Vertrauen gibt, dass die Löhne stabil sind und hinreichend und dass die Sozialsysteme auch stabil und hinreichend sind für die kommenden Jahre und Jahrzehnte. Das ist die Aufgabe, die wir im ersten Halbjahr 2006 uns vorgenommen haben. Und es ist vernünftiger gewesen, dafür sich jetzt etwas Zeit zu nehmen und das mal nicht eben mit einem Schnellschuss zu machen, sondern sich ein paar Monate Frist zu lassen, bis man zu Ergebnissen kommt. Diese Zeit müssen wir jetzt allerdings auch nutzen.

    Labuhn: Da gibt es einige konkrete Fragen, etwa: Sollen private Krankenkassen erhalten bleiben, soll die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen verringert werden? Bisher haben wir ja über 300 davon.

    Müntefering: Ja, davon gab es auch mal über 1000. Das ist schon dabei, sich zu reduzieren. Das hat eine gewisse natürliche Auslese gegeben, weil die zum Teil zu klein gewesen sind. Das werden auch in den nächsten Jahren weniger werden, da bin ich ganz sicher. Also das ist nicht der Punkt. Dass es private Krankenkasse geben wird, auch in Zukunft, davon gehe ich aus. Das ist von uns auch nicht bestritten worden, auch nicht mit der Bürgerversicherung. Die Frage ist nur: Kann man erreichen, dass wirklich alle versichert sind? Und wie kommt man zu einer Situation, in der klar ist, das Gesundheitswesen ist hochqualifiziert, hochleistungsfähig und es gibt jedem, unabhängig davon, wie stark er ist in seinem Portemonnaie oder auf seinem Bankkonto, die selben Chancen, im Falle einer gesundheitlichen Belastung dann auch die nötigen Angebote zu bekommen.

    Labuhn: Eine große Koalition hat die Chance, große Reformen in Angriff zu nehmen, zum Beispiel die Länge unserer Legislaturperiode in Deutschland. Zur Zeit sind es vier Jahre. Es gibt viele Stimmen, angefangen vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, die meinen, man sollte einmal über eine Verlängerung auf fünf Jahre nachdenken. Was ist Ihre Haltung dazu?

    Müntefering: Das ist im Koalitionsvertrag nicht festgehalten. Im Koalitionsvertrag steht aber wohl drin, dass wir prüfen, ob wir nicht stärker als bisher plebiszitäre Elemente, also die Form direkter Demokratie, auch einführen sollen. Ich glaube, dass wir im Ernst über die Verlängerung der Legislaturperiode nur sprechen können in Deutschland, wenn wir vorher den Menschen mehr Gelegenheit geben, zwischen den Wahlen mitzuentscheiden. Man kann nicht einfach sagen, das Wahlrecht, das verschieben wir jetzt, jetzt vier Jahre, dann fünf Jahre, dann dürft ihr eben seltener entscheiden. Das kann man nur sagen, wenn man gleichzeitig dafür sorgt, dass in Form von Bürgerbegehr und Bürgerentscheid die Menschen zwischen solchen Wahlen die Möglichkeit haben, zu ganz konkreten Dingen ihre Meinung zu sagen und auch Entscheidungen mitzuprägen. Also, diese beiden Dinge, die sollten wir zusammen halten und nicht voneinander getrennt. Man kann ja mal beginnen und muss ja nicht gleich das ganz komplett machen, so wie wir uns das vorgestellt haben. Aber erste Schritte muss man gehen. Und noch mal: Es ist auch nach meiner Sicht die Voraussetzung dafür, dass man über die Länge von Legislaturperiode redet.

    Labuhn: Herr Müntefering, mehrere Dutzend SPD-Abgeordnete haben Angela Merkel bei der Wahl zur Bundeskanzlerin offenbar die Stimme versagt. Wäre das nach Ihrer Einschätzung heute nach dem allgemein als erfolgreich eingeschätzten Start der großen Koalition anders?

    Müntefering: Also, wer sie da nicht gewählt hat, das weiß man ja so genau nicht. Das war ja eine geheime Wahl. Das kann man ja nur unterstellen. Aber ich lasse das mal so stehen. Ich glaube, dass es ganz klar war, dass nach dem ganzen Vorspiel eine hundertprozentige Zustimmung da nicht zu erwarten war. Die Zustimmung ist trotzdem respektabel hoch gewesen. Frau Merkel hat das auch positiv aufgenommen insgesamt. Und ich glaube, dass wir auf dem Weg sind, dass wir besser verstehen auf beiden Seiten in der Koalition, dass wir nur miteinander die Dinge in Deutschland voranbringen können. Wir sind als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten daran interessiert, dass diese Koalition erfolgreich ist. Und dazu werden wir unseren Beitrag leisten. Nicht weil wir die anderen so liebten, sondern weil wir glauben, dass es für das Land wichtig und richtig ist.

    Labuhn: Bedauern Sie es eigentlich jetzt in der großen Koalition, nicht mehr das, wie Sie einmal sagten, "schönste Amt neben Papst" zu haben, also nicht mehr an der Spitze der SPD zu stehen?

    Müntefering: Na ja, die Sache ist entschieden. Ich habe das gerne gemacht. Aber das hat keinen Sinn, da jetzt zurück zu gucken. Ich habe jetzt eine Aufgabe, die auch wichtig ist und die anspruchsvoll ist und wo ich mich voll hineinbegeben kann. Und dass ich das immer tue auch als Sozialdemokrat, der der sozialen Idee, dem demokratischen und sozialen Bundesstaat verpflichtet ist, das ist ganz klar. Also: Wenn ich auch in meiner Partei keine Funktion mehr habe, glaube ich, kann ich doch noch für sie arbeiten und der sozialdemokratischen Idee ein Stückchen voran helfen bei uns im Land, ich hoffe auch, in Europa. Ich glaube, dass das, was wir in Deutschland jetzt tun als Sozialdemokraten und als Regierung, auch ganz wichtig ist für die Entwicklung in Europa insgesamt. Und da steht die große Frage an: Wird dies ein Europa sein, das der Grundidee des Sozialen entspricht und ihm genügt, oder wie wird das sein? Und ich hoffe, dass ich da nicht nur in Deutschland, sondern über Deutschland hinaus mit unserer Politik auch dazu einen Beitrag leisten kann.

    Labuhn: Vielen Dank für das Gespräch.

    Müntefering: Bitte schön.