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Müssen wir wissen wollen, was wir wissen können?

Merkel meide das Risiko, Westerwelle sei aggressiv und eitel. Diese Urteile von US-Diplomaten sind im "Spiegel" zu lesen. Und das Nachrichtenmagazin hat sie von der Internetplattform WikiLeaks bekommen. Aber wie viel Geheimes darf in einer Demokratie ausgeplaudert werden?

Von Arno Orzessek | 29.11.2010
    Merkel meide das Risiko, Westerwelle sei aggressiv und eitel. Diese Urteile von US-Diplomaten sind im "Spiegel" zu lesen. Und das Nachrichtenmagazin hat sie von der Internetplattform WikiLeaks bekommen. Aber wie viel Geheimes darf in einer Demokratie ausgeplaudert werden?

    "Wie Amerika die Welt sieht" – das weiß die Welt, auch ohne in den Spiegel zu sehen oder die von den WikiLeaks erbeutete Diplomaten-Post zu studieren.

    Die USA sind ihren Verbündeten oft genug hochfahrend und misstrauisch begegnet und haben mit ihren Feinden oft per Krieg kommuniziert. So viel weiß jeder, der Zeitung lesen und Radio hören kann.

    Der aktuelle Spiegel-Titel, der so auch die Bild-Zeitung schmücken könnte, enthüllt vor allem, dass das Magazin sich nicht scheut, auf dem Boden des Boulevards zu agieren, der Personalisierung, Emotionalisierung und das Waschen schmutziger Wäsche liebt.

    Der neue Coup von WikiLeaks und den Medien, die nun die Dokumente gefiltert und veröffentlicht haben, ist nicht deshalb bedeutsam, weil man erfährt, dass auch die amerikanische Botschaft Dirk Niebels Beförderung zum Entwicklungshilfe-Minister als "schräge Wahl" deklariert ... im Grunde eine diplomatische Formulierung, wenn man bedenkt, dass es sich um internen Klartext handelt, und sich vor Augen hält, was über Dirk Niebel sonst so verlautbar wurde.

    Bedeutend ist vielmehr, dass die Plattform WikiLeaks, die sich selbst "unzensierbar" nennt, erneut ihre, jenseits jeglicher Verfahren erworbene, Macht demonstriert – nur dieses Mal, anders als bei der Präsentation belastender Dokumente zum Irak-Krieg der USA, kaum ein übergeordnetes Interesse in Anspruch nehmen kann.

    Während bei der Dokumentation verschwiegener Kriegsverbrechen der Enthüllungszweck die dunklen Mittel der Materialbeschaffung moralisch und nach allen journalistischen Gepflogenheiten rechtfertigt, hat das Ausspionieren tendenziöser Diplomaten-Depeschen etwas Schmuddeliges und Sensationsgieriges ... davon abgesehen, dass die politische Wirkung nur rein destruktiv sein kann.

    Indem WikiLeaks die US-Diplomatie und deren weltweite Beobachtungsobjekte von medialen Vollstreckern durch den Nachrichtenzirkus zerren lässt, riskiert die Plattform ihren Ruf als ernsthafte, von keiner Regierung domestizierbare Aufklärungsinstanz. Und wirft so die Frage nach ihrer eigenen Legitimation und ihrer eigenen Ziele auf.

    Vom heimischen PC aus Datenbanken zu hacken und dann mitzuzocken im globalen Machtpoker, mag der Traum übergeschnappter Nerds sein und womöglich als basisdemokratischer Akt verklärt werden. Politisch gesehen ist es eine kindische Fahrlässigkeit und rechtlich gesehen zumindest ein Verstoß gegen Post- und Fernmeldegeheimnis.

    Wenn jegliche Kommunikation, die digitale Spuren hinterlässt, morgen bei WikiLeaks und übermorgen im "Spiegel" erscheinen kann, ist das ja nicht das Ende der Vertuschung und der Anfang der Teilhabe aller Bürger an der Macht, sondern das Ende der digitalen Kommunikation beziehungsweise der Anfang neuen Verschlüsselungswahns. Von reiner Mündlichkeit wird sich hoffentlich keiner das Heil versprechen. Historisch gesehen waren es meistens die übelsten Regenten, die von ihren Gesprächen und Entscheidungen kein schriftliches Zeugnis angelegt wissen wollten.

    Man wünscht sich, dass die Veröffentlichungspraxis von WikiLeaks nicht willkürlich wird – denn dann wird sie anmaßend, wird selbst eine black box der Macht, obwohl sie angetreten ist, die black boxes – aus guten Gründen – zu knacken.

    Was nun die aktuellen Enthüllungen angeht, kann man einmal mit Silvio Berlusconi paktieren. Als der italienische Partyhengst mit dem Zeugnis konfrontiert wurde, das ihm die US-Diplomaten ausgestellt haben, hat er das richtige getan: Er hat gelacht.