Kulturen sind durchlässig, haben offene Grenzen, vermischen sich miteinander. Was selbstverständlich klingt, ist alles andere als selbstverständlich - schon darum, weil man daran gewohnt ist, Kulturen auf wenige Phänomene zu reduzieren und alles andere auszublenden.
Im Hinblick auf die arabische Welt - und damit auch den Maghreb - denken wir seit einiger Zeit zuerst und vor allem an die Religion. Genau dadurch übersehen wir aber alle andere Einflüsse und Tendenzen, die die arabische Welt prägen. Dieses Versäumnis, so der in Leipzig lehrende Romanist Alfonso de Toro, ist auch den politischen Beziehungen zwischen Europa und Nordafrika alles andere als förderlich.
"Es gibt da so viele Autoren aus dem Maghreb, die für eine plurale Gesellschaft sind, die für Demokratie, für Laizismus auftreten, die ihre Kultur sowohl respektieren, aber die sie in der Welt sehen wollen. Und das sind Autoren, die nicht erst seit gestern schreiben, das sind Autoren, die schon in den 70er-Jahren wirklich ein multikulturelles Konzept von Gesellschaft entwickelt haben. Und diese Konzepte - wie sie sich selber sehen, wie sie sich selber kritisieren, wie sie Europa sehen, wie sie selber Europa kritisieren… Wir wollen diesen Autoren eine Stimme geben und fragen, wie soll man heute, gegenüber den großen Migrationen, die niemand stoppen wird, die mit Leid und Gewalt zu tun haben, wie könnten wir diese Stimmen nutzen, um zumindest nach außen eine andere Vorstellung zu geben, von dem Zusammenleben zwischen dem Maghreb und Europa und Europa und der Welt?"
Den Maghreb prägten ganz unterschiedliche Kulturen: die Phönizier, die Römer, die Araber, die Türken, die Franzosen - und seit einigen Jahren auch die Chinesen, die in der Region ihren Rohstoffbedarf decken. Diese Kulturen haben ihre Spuren hinterlassen, so der mittlerweile in den USA lehrende Literaturwissenschaftler Hafid Gafaiti. Und diese Spuren sind nicht verschüttet, sondern bis heute konkrete, alltägliche Realität.
"Die meisten maghrebinischen Intellektuellen haben sie erlebt. Ich selbst hatte etwa das Glück, mit jüdischen und christlichen Kindern aufzuwachsen, mit Menschen ganz verschiedener kultureller Herkunft. Zu Hause sprachen wir arabisch, wir lernten Französisch. Einige von uns gebrauchten auch die Berbersprachen. Und dank der Popmusik lernten wir Englisch. Ich glaube, die Aufgabe von uns Intellektuellen ist es, die arabische Welt zu ermutigen, den Westen als Teil ihrer selbst zu begreifen - denn der Westen ist ein Teil des Orients. Und umgekehrt wollen wir dazu beizutragen, dass der Westen jenen Teil seiner selbst akzeptiert, der aus dem Orient stammt."
Aber ist das nicht zu romantisch gedacht? Der Maghreb ist vor allem ein muslimisches Land, so scheint es jedenfalls von außen. Die Frage ist nur: Können wir, die Europäer, uns auf unsere Wahrnehmung verlassen? Nicht ausgeschlossen, dass unsere Wahrnehmung auf Voraussetzungen beruht, die uns so selbstverständlich sind, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Tatsächlich, meint Hafid Gafaiti, wuchsen Europäer und Maghrebiner in Wahrnehmungstraditionen auf, die vor allem durch die Religion geprägt waren.
"Jan Assman hat in seinem Buch 'Die Mosaische Unterscheidung' beschrieben, wie sich die monotheistischen Religionen durch gegenseitige Abgrenzung voneinander definieren. Das Judentum definierte sich durch Abgrenzung gegenüber den altägyptischen Religionen, das Christentum gegen das Judentum und der Islam gegen beide. Jetzt aber stehen wir an einem Punkt, der dem Dialog sehr förderlich ist. Wir haben genügend Kenntnisse voneinander. Auch wir arabischen Intellektuellen pflegten lange Zeit eine Logik des Konflikts. Jetzt haben wir diesen Standpunkt aber hinter uns gelassen. Viele europäische Intellektuelle haben sich ebenfalls weiterentwickelt. Jetzt ist die Zeit des Dialogs und der gegenseitigen Öffnung gekommen; und sie müssen wir nun angehen."
Dass Wahrnehmung sprachgebunden ist, dass unser Weltbild auf Sprache beruht und darum auch veränderlich ist - diesen Gedanken hat in der westlichen Welt ganz wesentlich ein Philosoph populär gemacht, der als Jude in Algerien geboren wurde, den größten Teil seines Lebens aber in Frankreich verbrachte: Jacques Derrida. So steht die multikulturelle Existenz am Anfang eines Werkes, das die zeitgenössische Philosophie beeinflusst hat wie kein zweites. Die Frage des Ursprungs darf keine Rolle spielen, meint auch die in Casablanca lehrende Literaturwissenschaftlerin Zohra Mezgueldi - und zwar auch nicht bei der Frage der Menschenrechte.
"Ich selbst frage mich nicht mehr, wer diese Werte erfunden hat. Ich erkenne mich in diesen Werten wieder und ich teile sie. In Marokko wollen wir auf allen Ebenen der Gesellschaft in Richtung dieser Werte gehen. Wir wollen sie teilen und in unserem Alltag verwirklichen. Mit kultureller Identität hat das nichts zu tun. Identität entwickelt sich ständig. Sie kommt nie zum Abschluss. Die Menschen der westlichen und der arabischen Welt begegnen sich, sie diskutieren miteinander und entwickeln sich dadurch. Natürlich gibt es in Marokko Menschen, die diese Identitätssuche sehr intensiv betreiben, ihre Identität in gewissen Symbolen suchen. Aber die meisten Marokkaner betreiben sie auf Grundlage kultureller Vielfalt."
Wer den Maghreb einmal besucht hat, weiß, wovon Mezgueldi spricht. Die meisten Menschen sind mindestens zweisprachig, beherrschen Arabisch und Französisch, oft genug auch noch eine Berbersprache. Vor allem sind sie aber in zwei Kulturen zu Hause, der arabischen und der westlichen. Gut möglich darum, meint Alfonso de Toro, der Leiter der Tagung,…
"… dass die Maghrebiner viel besser vorbereitet sind - trotz einer muslimischen Religion -, als wir, die Globalisierung anzunehmen. Zunächst ist es eine Region, die seit 2000 Jahren durch unterschiedliche Ethnien bevölkert ist. Wenn man von Identität spricht, von den kulturellen Merkmalen in der Region, muss man sagen: Da leben Traditionen, die aus der jüdischen Kultur kommen, aus der spanischen, andalusischen Kultur, aus der Berberkultur, aus der französischen Kultur, aus der arabischen Kultur, aus der christlichen Kultur. Das sind so viele Traditionen. Und das ist mit der Sprache verbunden. Das heißt, sie sind sprachlich wie auch intellektuell und kulturell [bereit], diese Globalisierung anzunehmen."
Im Hinblick auf die arabische Welt - und damit auch den Maghreb - denken wir seit einiger Zeit zuerst und vor allem an die Religion. Genau dadurch übersehen wir aber alle andere Einflüsse und Tendenzen, die die arabische Welt prägen. Dieses Versäumnis, so der in Leipzig lehrende Romanist Alfonso de Toro, ist auch den politischen Beziehungen zwischen Europa und Nordafrika alles andere als förderlich.
"Es gibt da so viele Autoren aus dem Maghreb, die für eine plurale Gesellschaft sind, die für Demokratie, für Laizismus auftreten, die ihre Kultur sowohl respektieren, aber die sie in der Welt sehen wollen. Und das sind Autoren, die nicht erst seit gestern schreiben, das sind Autoren, die schon in den 70er-Jahren wirklich ein multikulturelles Konzept von Gesellschaft entwickelt haben. Und diese Konzepte - wie sie sich selber sehen, wie sie sich selber kritisieren, wie sie Europa sehen, wie sie selber Europa kritisieren… Wir wollen diesen Autoren eine Stimme geben und fragen, wie soll man heute, gegenüber den großen Migrationen, die niemand stoppen wird, die mit Leid und Gewalt zu tun haben, wie könnten wir diese Stimmen nutzen, um zumindest nach außen eine andere Vorstellung zu geben, von dem Zusammenleben zwischen dem Maghreb und Europa und Europa und der Welt?"
Den Maghreb prägten ganz unterschiedliche Kulturen: die Phönizier, die Römer, die Araber, die Türken, die Franzosen - und seit einigen Jahren auch die Chinesen, die in der Region ihren Rohstoffbedarf decken. Diese Kulturen haben ihre Spuren hinterlassen, so der mittlerweile in den USA lehrende Literaturwissenschaftler Hafid Gafaiti. Und diese Spuren sind nicht verschüttet, sondern bis heute konkrete, alltägliche Realität.
"Die meisten maghrebinischen Intellektuellen haben sie erlebt. Ich selbst hatte etwa das Glück, mit jüdischen und christlichen Kindern aufzuwachsen, mit Menschen ganz verschiedener kultureller Herkunft. Zu Hause sprachen wir arabisch, wir lernten Französisch. Einige von uns gebrauchten auch die Berbersprachen. Und dank der Popmusik lernten wir Englisch. Ich glaube, die Aufgabe von uns Intellektuellen ist es, die arabische Welt zu ermutigen, den Westen als Teil ihrer selbst zu begreifen - denn der Westen ist ein Teil des Orients. Und umgekehrt wollen wir dazu beizutragen, dass der Westen jenen Teil seiner selbst akzeptiert, der aus dem Orient stammt."
Aber ist das nicht zu romantisch gedacht? Der Maghreb ist vor allem ein muslimisches Land, so scheint es jedenfalls von außen. Die Frage ist nur: Können wir, die Europäer, uns auf unsere Wahrnehmung verlassen? Nicht ausgeschlossen, dass unsere Wahrnehmung auf Voraussetzungen beruht, die uns so selbstverständlich sind, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Tatsächlich, meint Hafid Gafaiti, wuchsen Europäer und Maghrebiner in Wahrnehmungstraditionen auf, die vor allem durch die Religion geprägt waren.
"Jan Assman hat in seinem Buch 'Die Mosaische Unterscheidung' beschrieben, wie sich die monotheistischen Religionen durch gegenseitige Abgrenzung voneinander definieren. Das Judentum definierte sich durch Abgrenzung gegenüber den altägyptischen Religionen, das Christentum gegen das Judentum und der Islam gegen beide. Jetzt aber stehen wir an einem Punkt, der dem Dialog sehr förderlich ist. Wir haben genügend Kenntnisse voneinander. Auch wir arabischen Intellektuellen pflegten lange Zeit eine Logik des Konflikts. Jetzt haben wir diesen Standpunkt aber hinter uns gelassen. Viele europäische Intellektuelle haben sich ebenfalls weiterentwickelt. Jetzt ist die Zeit des Dialogs und der gegenseitigen Öffnung gekommen; und sie müssen wir nun angehen."
Dass Wahrnehmung sprachgebunden ist, dass unser Weltbild auf Sprache beruht und darum auch veränderlich ist - diesen Gedanken hat in der westlichen Welt ganz wesentlich ein Philosoph populär gemacht, der als Jude in Algerien geboren wurde, den größten Teil seines Lebens aber in Frankreich verbrachte: Jacques Derrida. So steht die multikulturelle Existenz am Anfang eines Werkes, das die zeitgenössische Philosophie beeinflusst hat wie kein zweites. Die Frage des Ursprungs darf keine Rolle spielen, meint auch die in Casablanca lehrende Literaturwissenschaftlerin Zohra Mezgueldi - und zwar auch nicht bei der Frage der Menschenrechte.
"Ich selbst frage mich nicht mehr, wer diese Werte erfunden hat. Ich erkenne mich in diesen Werten wieder und ich teile sie. In Marokko wollen wir auf allen Ebenen der Gesellschaft in Richtung dieser Werte gehen. Wir wollen sie teilen und in unserem Alltag verwirklichen. Mit kultureller Identität hat das nichts zu tun. Identität entwickelt sich ständig. Sie kommt nie zum Abschluss. Die Menschen der westlichen und der arabischen Welt begegnen sich, sie diskutieren miteinander und entwickeln sich dadurch. Natürlich gibt es in Marokko Menschen, die diese Identitätssuche sehr intensiv betreiben, ihre Identität in gewissen Symbolen suchen. Aber die meisten Marokkaner betreiben sie auf Grundlage kultureller Vielfalt."
Wer den Maghreb einmal besucht hat, weiß, wovon Mezgueldi spricht. Die meisten Menschen sind mindestens zweisprachig, beherrschen Arabisch und Französisch, oft genug auch noch eine Berbersprache. Vor allem sind sie aber in zwei Kulturen zu Hause, der arabischen und der westlichen. Gut möglich darum, meint Alfonso de Toro, der Leiter der Tagung,…
"… dass die Maghrebiner viel besser vorbereitet sind - trotz einer muslimischen Religion -, als wir, die Globalisierung anzunehmen. Zunächst ist es eine Region, die seit 2000 Jahren durch unterschiedliche Ethnien bevölkert ist. Wenn man von Identität spricht, von den kulturellen Merkmalen in der Region, muss man sagen: Da leben Traditionen, die aus der jüdischen Kultur kommen, aus der spanischen, andalusischen Kultur, aus der Berberkultur, aus der französischen Kultur, aus der arabischen Kultur, aus der christlichen Kultur. Das sind so viele Traditionen. Und das ist mit der Sprache verbunden. Das heißt, sie sind sprachlich wie auch intellektuell und kulturell [bereit], diese Globalisierung anzunehmen."