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Multimediales Gesamtkunstwerk in Berlin

Mit Mega-Performances nahm Matthias Lilienthal seinen Abschied vom Berliner "Hebbel am Ufer" (HAU). Lilienthals Projekt am Ende seiner neunjährigen Intendanz erwies sich als Wagnis mit einigen künstlerischen Höhepunkten und etlichen Schwachstellen. Ein Event eben.

Von Hartmut Krug |
    Alles beginnt in den Umkleideräumen des Steffi-Graf-Tennis-Stadions im Grunewald zwischen Gymnastik- und Trainingsgeräten. Hier wird der drogensüchtige Hal mit seiner Mutter im textlastigen Spiel vorgestellt und zur Leistung getrieben. Dann geht es nach draußen, zu einem Devotionalien-Tisch für den Vater und Tennisakademie-Gründer James 0. Incandenza und zu Demonstrationen von Tennis-Training und –Kleidung.

    So vorbereitet, kann man auf den Rängen des Stadions Platz nehmen, die zu großen Teilen mit Väter-Attrappen besetzt sind. Die Gruppe Gob Squad präsentiert ein wunderbar komisches und präzises Spiel, zwar ohne Ball und Schläger, aber mit viel tieferer Bedeutung. Hier tritt das Individuum beim Leistungskampf gegen sich selber an, also kämpft myself gegen myself ,wobei beide pantomimisch Tennisspieler- Posen nachahmen. Der Schiedsrichter verkündet Spielthemen, und wir erfahren die Antworten der Spielerinnen über Kopfhörer. Themen sind Postfeminismus, Nietzsche, Erotik oder der Umgang mit Stress.

    Überforderung, so lautet ein Kampfbegriff von Frank Castorf. Doch was sein ehemaliger Chefdramaturg Matthias Lilienthal dem Publikum am Ende seiner neunjährigen Intendanz der drei Hau-Bühnen mit der Durchspielung des 1500 Seiten umfassenden Romans "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace während einer 24-Stunden Theaterreise durch den alten Westen Berlins zumutete, war mehr als das.

    Dieses Kulturevent ließ dem durchaus animierten beteiligten Publikum so anschaulich wie unfreiwillig fast die düstere Vision des Romans von einer Spaß- und Konsumgesellschaft durchaus realistisch erscheinen, in der die Menschen über ihre Unterhaltungsangebote und ihre Unterhaltungssucht alle leiblichen Bedürfnisse vergessen und zugrunde gehen.

    Es ist unmöglich, die vielen Erzählebenen und Bezüge von Fosters Roman aus dem Jahr 1996 auch nur kurz zu skizzieren. Die zwölf beteiligten Künstler oder Gruppen versuchen dies auch nicht, sondern sie umkreisen und versinnlichen einige Themen des Romans. Wie das Verhältnis von Überfülle und Überforderung, den Zusammenhang von Leistungsdruck und individueller Vereinsamung und den von Drogensucht und Depression.
    Alle Spielorte sind nicht nur geschichtsbelastet, sondern zugleich architektonische Utopien des alten Westberlins aus den 60er und 70er-Jahren.

    Aber nur selten schaffen es die Künstler, einen Bezug zwischen Spielort und Spielszene herzustellen. Zum Beispiel nicht, wenn zwei Schauspieler aus Richard Maxwells Truppe in den Rollen eines frankokanadischen Rollstuhl-Terroristen und einer Frau über die Freiheit des Individuums diskutieren. Beim ersten Mal, auf dem Teufelsberg in den Resten einer Radarkuppel der ehemaligen amerikanischen Abhörstation, lenkt der unendliche Blick über Berlin völlig von den Schauspielern ab. Und beim zweiten Mal, im Tiergarten vor dem Institut für Wasser- und Schifffahrtstechnik, verdrängt die Wirkung eines überdimensionalen roten Rohres für den Umlaufkanal die des Redespiels. Während die Szene aus der Drogen-Rehabilitationseinrichtung im Roman sehr gut in die aufgelassene Großküche eines Neuköllner Klinikums passt. Anna Viehbrock hat sie mit ihrem üblichen Altmöbeltrödel ausstaffiert und inszeniert darin eine Skurrilitäten-Schau halluzinierender Süchtigen.

    Als Konzert von Klängen und drei Sängerinnen versuchte Constanza Macras anschließend vergeblich, den Monolog einer depressiven Frau zu versinnlichen. Doch wie dann Chris Kondek in einem engen Flur die Schauspieler Hans Löw und Felix Knopp die Albträume von auf ihre Dealerin wartende Drogenabhängige zeigen lässt, das war herrlich sinnlich-surreales Theaters. Die beiden werden von Videobildern eines riesigen Insekts albtraumhaft bedrängt , während in angrenzenden Räumen skurrile Installationen von Drogensucht erzählen. Ein anderer Höhepunkt für das mit Verpflegungspaketen, Schirmen und Angelhockern in diesem perfekt organisierten Projekt umsorgte Publikum war im Betonklotz eines Instituts für Mikrobiologie zu erleben. Hier hatte Philippe Quesne in einem Hörsaal eine Videoleitung zum Wallace-Übersetzer Ulrich Blumenbach hergestellt, der die Fragen der Zuschauer so bereitwillig und wie klug beantwortete.

    Wild ging es nach achtstöckigem Aufstieg im Reinickendorfer Finanzamt bei Jan Klata zu, der uns beim Entwurf eines Werbespots zuschauen ließ und mit gelben Vermummungstüchern ausstaffierte, um uns für die Rollstuhl-Terroristengruppe der Quebecer Separatisten zu gewinnen.
    Bevor aber Samuel Finzi, Martin Butzke und Astrid Meyerfeld vor dem erschöpften Rest-Publikum im Hebbel Theater inmitten einer Flut blauer Tennisbälle den Schluss des Romans lasen, gab es im Fontane-Haus des Märkischen Viertels noch eine Auseinandersetzung von She She Pop mit der Fußnote 24 des Romans. In ihr geht es um Incandencas Filmografie und das Wesen des Witzes. Weshalb das müde Publikum sich in einem Videospiegel selbst vorgezeigt bekam. Und in einem schaurig-kitschigen Western-Saloon-Keller besang dann ein Transvestit in Glitter den Ich-Verlust durch Sucht.

    Insgesamt erwies sich Matthias Lilienthals Projekt als ein Wagnis mit einigen künstlerischen Höhepunkten und etlichen Schwachstellen. Ein Event eben. Das anstrengende Arbeit bedeutete, für die Künstler wie für das Publikum.