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Multiple Sklerose ist nur ein Erscheinungsbild für zwei unterschiedliche Krankheiten

Sie ist die häufigste neurologische Erkrankung bei jungen Erwachsenen: Multiple Sklerose. Allein in Deutschland leiden 120.000 Menschen unterschiedlich schwer. Die Ursachen sind noch immer nicht klar, die Behandlungserfolge lassen zu wünschen übrig. Nur 30 Prozent aller Behandelten profitieren beispielsweise von einer Interferontherapie. Ist Heilung so schwer, weil Multiple Sklerose nur ein beliebiger Begriff ist, hinter dem eigentlich zwei unterschiedliche Krankheiten stecken? Zu diesem Aufsehen erregenden Ergebnis kommt ein Wissenschaftsteam aus den USA, Österreich und Deutschland.

William Vorsatz |
    Es können Monate oder gar Jahre vergehen, bis die Diagnose eindeutig fest steht - Multiple Sklerose. die ersten Symptome sind unspezifisch: Sehstörungen, Taubheitsgefühle, Lähmungen... Und die Prognosen ungewiss. Das Nervensystem entzündet sich, wird geschädigt, die Mediziner sprechen von Läsionen. Stutzig geworden ist ein internationales Team, weil die Entzündungen im Kernspintomographen so unterschiedlich aussehen. Deuten verschiedene Muster auf eigenständige Krankheiten hin? Professor Wolfgang Brück von der Berliner Charité:

    Man hat lange Zeit angenommen, dass die Multiple Sklerose eine Autoimmunerkrankung ist, bei der sich das körpereigene Immunsystem gegen die Hüllen der Nervenfasern im Gehirn richtet, unsere Untersuchungen zeigen, dass die Autoimmunreaktion eine Möglichkeit ist, wie diese Läsionen entstehen, dass es aber auch noch andere Formen gibt, bei denen die Zellen, die diese Hüllen um die Nervenfasern bilden, im Rahmen eines degenerativen Prozesses zerstört werden, wo das Immunsystem keine oder nur eine sekundäre Rolle spielt.

    Systematisch hat das Forscherteam zahlreiche Gewebeproben gecheckt. Fazit: ca. 30 bis 40 Prozent der Patienten leiden unter der bisher unbekannten, degenerativen Form. Die Erwartungen für den künftigen Verlauf sind hier besonders schlecht. Bisher gibt es keine geeigneten Therapien. Interferon beispielsweise kann den Gesundheitszustand sogar verschlechtern. Versuche mit Ratten zeigen, dass Viren die Schädigungen auslösen können. Andere Experimente verfolgen die Wirkungen von Toxinen, die die Umhüllungen der Nervenzellen, so genannte Markscheiden, zerstören. Wolfgang Brück:

    Es gibt jetzt Hinweise darauf, das Glutamat möglicherweise eine Rolle spielt und es wird in diesem Jahr noch eine Studie aufgelegt werden bei der Multiplen Sklerose mit Glutamatanatgonisten, um zu zeigen, dass die dort wirksam sind.

    Glutamat spielt bei der Informationsübertragung im Nervensystem eine Rolle und kann die Zellen schädigen. Chemische Gegenspieler können diese toxischen Wirkung wahrscheinlich verhindern.

    Man muss abwarten, wie die Glutamatantagonistenstudie abläuft, sollte sich da ein positiver Effekt ergeben, wird man in ca. 3 bis 5 Jahren damit rechnen können, dass sich da ein breiteres Spektrum an Medikamenten anbietet, was auch bei diesem degenerativen Entmarkungstyp dann eingesetzt werden kann.

    Momentan interessieren sich die Forscher vor allem für die einfache und schnelle Diagnose der unterschiedlichen Krankheitstypen. Antikörper gegen Markscheidenbestandteile im Serum von Patienten verraten beispielsweise eine Autoimmunreaktion. Und der degenerative Typ lässt sich durch ein Protein im Nervenwasser nachweisen. Auch wenn die Wissenschaft bei den Ursachen der MS weiter rätselt: Ende letzten Jahres sind endlich auch in Deutschland zwei Medikamente zugelassen worden, die besonders bei irreversiblen Verläufen Linderung versprechen. Copaxone ist ein Gemisch aus drei Aminosäuren. Frühzeitig und langfristig eingesetzt, verhindert es die dauerhafte und für die Betroffenen besonders verheerende Zerstörung der Nervenzellfortsätze. Und auch Mitoxantron, ein schweres Geschütz aus der Krebstherapie, soll bei bisher hoffnungslosen Verläufen helfen. Heilung ist sobald nicht in Sicht. Doch Aufhalten lässt sich Multiple Sklerose immer besser.