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Murakami-Stoff auf der Bühne

In "Afterdark" beschreibt der japanische Erfolgsautor Haruki Murakami Szenen einer Großstadtnacht vom Datumswechsel bis zum Morgengrauen und vom Supermarkt bis zum Bordell. Der Roman ist streckenweise wie ein Film geschrieben. Und was dem Kino recht ist, kann dem Theater billig sein, dachte man sich beim Schauspielhaus Bochum und brachte den Roman in einer selbstgemachten Fassung auf die Bühne.

Von Christiane Enkeler | 21.10.2006
    "Druck raus, Humor rein!" - möchte man den Darstellern auf der Bochumer Kammerspielbühne in den ersten Minuten zurufen, zumindest, wenn man Haruki Murakamis Buch zur Uraufführung gelesen hat: "Afterdark", ein episodenartiger Großstadtroman mit wenigen Figuren, der vor allem dann ausdrücklich die filmische Perspektive einnimmt, wenn die überirdisch schöne Schwester von Mari, einer der Hauptfiguren, hinter dem Rauschen in einem Fernseher in der unendlichen Einsamkeit verschwindet, eingeschlossen in ihren leblosen Schlaf.

    Der beobachtende Erzähler in "Afterdark" balanciert auch schon mal auf der Grenze zum Kitsch - allerdings zu einem, in den man sich gern fallen lässt, weil er die Figuren nicht nur in ihrer Sehnsucht beschreibt, sondern auch in ihrer Einsamkeit, nicht nur Zwänge und verschiedene Abhängigkeiten, sondern auch Befreiungsversuche, und zwar in alltäglichen Begegnungen und phantastischen Passagen - und bestimmt nicht immer positiv besetzt: Das Gleichgewicht stimmt also, und in den Dialogen des Romans kann man oft auch einen tiefen, schönen Witz sehen, der in der Dramatisierung von Holger Weimar noch mehr im Vordergrund steht. Holger Weimar ist auch der Regisseur des Stücks - aber wo ist der leichte Ton auf der Bühne geblieben?

    Die Darsteller nehmen ihre Figuren ernst, und das ist gut so. Aber indem die gesamte Inszenierung so derart ernst - oder besser: "dramatisiert" - angelegt ist, verschenkt sie auch Möglichkeiten, Akzente zu setzen, zum Beispiel die Annäherung von Takahashi an Mari auch mal anders zu gestalten als ein wechselseitiges Vor-sich-Herschieben einer unsichtbaren Wand: Man wünscht sich zwischendurch einen Tisch für die beiden, vorne.

    Die Sitzmöglichkeiten, die Julia Ströder auf die Bühne gestellt hat, sind eher der "Wartesaal" für die Figuren zwischen den Szenen: zwei mit den Rücken aneinander gestellte Stuhlreihen hinten vor der Leinwand, was zur Zwischenraum-Stimmung passt. Passend ist auch die Zusammenlegung der schönen, einsamen Eri und der chinesischen Prostituierten - schon im Buch Parallelfiguren - in einer Darstellerin.

    Auf einer riesigen Leinwand im Hintergrund sehen wir immer wieder ihr Gesicht in schwarz-weiß, leicht bewegte Bilder, von einer Stadt, von Strukturen, der Bühne von oben, und man hört fast durchgehend eine mal jazzige, mal spannungsgeladene Musik: "Afterdark" heißt das Buch nach einem Jazztitel.

    Was ist aus der filmischen Perspektive geworden? Martin Rentzsch spricht den einleitenden "Zoom" auf die Stadt, den ersten Ort des Geschehens aus der Beobachterperspektive, schiebt sich dabei aber ins Blickfeld: Erst nach einer ganzen Weile sind wir so weit "drin", dass Erzählertext und Film atmosphärisch zueinander passen. Das mag am schnarrenden Ton liegen, den der Darsteller dann schließlich mit seiner Figur zusammenlegen kann. Das mag auch daran liegen, dass später die Schauspieler oft vor den Mikrophonen seitlich vorn stehen, wenn sie als Erzähler sprechen. Sonst könnte man sich auch fragen, welche Funktion die beiden Mikrophone haben, außer, dass sie hin und wieder als Fluchtpunkt dienen.

    Manche Darsteller berauben sich in ihrer Konsequenz, an einer Grundhaltung festzuhalten, auch ihrer Entwicklungsmöglichkeiten: Was zum Teufel hält Christian Pütthoff die meiste Zeit imaginär in seiner rechten Hand so fest, wenn seine Figur Takahashi doch in der Nacht des ganzen Geschehens sein Leben ändert? Und ist es nicht Takahashi, der sich Mari gegenüber wortreich öffnet? Mari, die in der Gestalt von Agnes Riedl, mit stacheligen Haaren, hoch gezogenen Schultern, aber hängenden Armen, ein bisschen zu leidend wirkt dafür, dass es so lange dauert und so viele Anstöße braucht, bis sie etwas von sich preisgibt?

    Was fehlt, ist öfter mal ein Abstand zur Figur, wie er sich erst ab der fünften Szene ergibt, wenn Mari mit Claude de Demo als Kaoru auf den Stuhllehnen sitzt und raucht, nachdem Mari in Kaorus Love-Hotel zwischen ihr und der blutig geschlagenen Chinesin gedolmetscht hat: zum ersten Mal eine entspannte Szene, und der Witz ergibt sich schlicht durch die richtig gesetzten Pausen.

    Was fehlt, ist öfter mal eine Innerlichkeit wie die, mit der Maja Beckmann als "Grille", die im Love-Hotel arbeitet, von Erinnerungen spricht und dabei in kindlichen Vorstellungen versinkt. Sehnsucht ist nicht gleich Verzweiflung und eben auch nicht nur Weg-, sondern auch Hin-Wollen.

    Die nahezu eindreiviertel Stunden ohne Pause werden nicht langweilig. Was man aber bräuchte, um Tiefe und drohende Fallhöhe wirklich spüren zu können, wären mehr Wechsel zwischen Humor und beladenen Szenen, mehr Nähe oder: mehr zarte Stellen, und ein mutigeres Heraustreten der Darsteller aus ihrer Grundhaltung, unterstützt durch eine Regie, die Entspannung zulässt. Sonst lassen einen die zeitweise überhöhte Verzweiflung und Schwere etwas ratlos zurück, auch wenn dafür Ansätze im Roman gegeben sind. Aber der Roman lebt wesentlich von seiner beobachtenden Perspektive, von seinem Abstand zu den Figuren.