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Muscheln als Vorbild

Die Natur als Lehrmeister nutzen - das versuchen Materialwissenschaftler von der Montanuniversität Leoben im Labor. Sie analysieren auf Nanoebene - also im Bereich von Millionstel Millimetern - Knochen, Zähne, Holz und andere natürliche Materialien. Der Physiker Professor Ingomar Jäger vom Institut für Metallphysik hat sich unter anderem auch Muscheln genauer angeschaut und festgestellt, dass diese aus einem optimierten Verbund harter und weicher Stoffe bestehen.

Von Klaus Herbst |
    Der Effekt dieses Komposits ist, dass eine Muschelschale unglaublich zäh ist. Wenn die Muschelschale nur aus dem Kalk bestünde, dann wäre sie spröde wie ein Stück Tafelkreide. Wenn Sie es fallen lassen, zerbricht das. Das wäre für die Muschel tödlich. Muscheln leben unter anderem in Brandungszonen, wo sie vom Wasser herumgeworfen werden. Da gibt es Vögel, die essen gerne Muschelfleisch, und versuchen, da irgendwie hineinzukommen. Interessanterweise sind es bei Muschelschalen ungefähr fünf Prozent Polymer, und diese fünf Prozent machen den Unterschied zwischen einem total spröden, sozusagen Massivkalk und einem relativ zähen, Perlmutt in dem Fall, aus.

    Beim Knochen ist es aber anders als bei der Muschelschale. Der besteht aus viel mehr weicherem Material, dem Kollagen, und vergleichsweise weniger hartem Material, den Mineralien. Was passiert, wenn einem Knochen diese Mineralien entzogen werden, kann jeder mit einem einfachen Experiment sichtbar machen. Ingomar Jäger beschreibt es:

    Wenn Sie mal ein Grillhähnchen essen, dann nehmen Sie einen der verbliebenen Knochen, legen ihn übers Wochenende in verdünnte Salzsäure. Und nach dem Wochenende haben Sie dann so ein Ding, das die Gestalt des Knochens sehr schön wiedergibt, aber gummiartig weich ist. Das Kollagen muss sozusagen die durchlaufende Faser sein, und das Mineral muss offensichtlich in kleinen Einheiten angeordnet sein. Wenn das auch durchgehend wäre, dann hätten wir etwa so spröde Knochen wie ein Stück Kreide.

    Weiches Kollagen wird durch Mineralplättchen extrem hart und stoßfest - und zwar umso mehr je kleiner die mineralischen Partikel sind. Warum das so ist, das haben die Forscher nun in Experimenten und Computerberechnungen nun gezeigt.

    Wenn diese Mineralplättchen eine gewisse Größe unterschreiten, ganz deutlich unter tausendstel Millimetern, dann wird dieses Mineral, obwohl es eigentlich als Mineral ja ein sprödes Material ist, plötzlich sehr, sehr unanfällig gegen Anrisse. Das liegt darin, dass in einem so kleinen Kristall keine richtigen Fehlstellen mehr Platz haben. Wenn man nun eine Porzellantasse sehr, sehr dünn ausführen könnte, dann wäre sie eben frei von den Fehlern, von denen ausgehend sich dann Risse durch die Keramik fortpflanzen.

    Auch wenn man sie sich kaum vorstellen kann: Eine tausendstel Millimeter dünne Kaffeetasse wäre fast unzerstörbar. Eine technische Nutzung ergibt sich daraus noch nicht. Diese ist eher auf dem Gebiet der Medizin zu finden. Bei der verbreiteten Krankheit Osteoporose zum Beispiel deutet vieles darauf hin, als würde der Verlust an Knochenmasse durch einen höheren Mineralanteil ausgeglichen. Ingomar Jäger:

    Wir sind von einer Anwendung beispielsweise auf das Volksproblem Osteoporose zwar noch ziemlich weit entfernt, aber es gibt Ansätze. Momentan sieht es so aus, als würde die Natur den Verlust an Knochenmasse dadurch ein bisschen kompensieren, dass der restliche Knochen steifer wird, aber Leider Gottes damit auch spröder. Das heißt, die Natur versucht, die Tragfähigkeit des Knochens mit Mühe und Not noch herzustellen. Aber der Preis dafür ist, dass dieser Knochen eben stärker gegen heftige Beanspruchungen, Schläge, Stürze und so weiter anfällig ist.

    Freilich sind das bislang nur Hypothesen. Aber wenn sie sich als richtig erweisen, dann könnten die Leobener Materialforscher vielleicht einmal dazu beitragen, innovative Medikamente möglich zu machen, die das zeitliche Fenster zwischen dem Verlust von Knochenmasse und der Kompensation durch Steifheit möglichst lange offen halten.