Jaqueline Boysen: Herr Muschg, wir haben ja das Ende des Schillerjahres erreicht. Sie als Schriftsteller können sicherlich den Erfolg oder Misserfolg eines solchen PR-Events - um es ein bisschen platt zu sagen - bemessen. Bringt es etwas, diese Highlights so zu feiern, und ist das mehr als nur pure Unterhaltung? Popularisiert das vielleicht den Schriftsteller Schiller? Bringt das darüber hinaus noch etwas, was uns über den Tag hinaus und über das Event hinaus etwas gibt?
Adolf Muschg: Sie sprechen damit sozusagen meinen größten Weihnachtswunsch an, dass es so wäre. Die Medienlandschaft, wie sie heute strukturiert ist, verlangt offenbar Jahrestage, um eines Dichters zu gedenken. Es war zwar immer so, aber jetzt ist es nahezu ausschließlich so. Wir hatten ein Schiller-Jahr, jetzt kommt das Mozart-Jahr, wir hatten mal ein Schubert-Jahr. Also diese Fokussierung des Interesses an Hand von Daten ist offenbar notwendig, um das kulturelle Bild der Medien zu fokussieren. Was Schiller betrifft, hätte er ja sehr viel mehr zu sagen, als in diesem Jahr deutlich herausgekommen ist, und wir haben ...
Boysen: Was meinen Sie damit?
Muschg: Die ästhetische Erziehung des Menschen ist von gesellschaftlicher Natur. Es war damals die Antwort der Klassiker auf die französische Revolution. Und sie enthält eine Kerntatsache, mit der sich Schiller von seinem Lehrer Kant auch ein Stück absetzt, dass der Spieltrieb nicht nur, wie es im CDU-Wahlprogramm richtig heißt, ein Lebensmittel ist, sondern dass der Spieltrieb eine Schule auch der Vorstellungskraft und damit auch der politischen Phantasie wäre. Wer gut spielen gelernt hat, der lernt auch seine Einbildungskraft, seine Phantasie zu gebrauchen. Er hat buchstäblich gehirnphysiologisch mehr Optionen als derjenige, der dieses Spiel nicht gewohnt ist. Und das Muster eines großen Spiels ist die Kunst. Und an der Kunst und von der Kunst lernen, das gerade nicht heißt, eindeutig Botschaften lernen - die hat sie nicht mitzuteilen. Aber es heißt sich einzulassen auf Mehrdeutigkeit und in dieser Mehrdeutigkeit das Ständige, das Schöne, sogar das Wahre zu empfinden, das war eigentlich die Botschaft Schillers in seinen philosophischen Schriften. Und etwas viel Aktuelleres für die Akademie und - mit Verlaub - für das gesellschaftliche Selbstverständnis, nicht nur in Deutschland, kann ich mir kaum vorstellen. Das ist die wirkliche politische Komponente der Kultur, nicht das Unterschreiben von Aufrufen oder die Unterstützung noch so gut gemeinter Bürgerinitiativen, das ist alles auch gut ...
Boysen: ... aber wo ist denn, wenn ich Sie da unterbrechen darf, Herr Muschg, angesichts von Unfrieden, um nicht zu sagen Krieg und Gewalt in seiner neuen oder heftigen Ausprägung des Terrors, Platz für dieses, was Sie "Spieltrieb" nennen, für das, was man auch geistige Anregung nennen kann oder Inspiration?
Muschg: Das Entsetzen über die Guillotine in den 90er Jahren der Frühzeit der französischen Revolution war sicher nicht geringer, wenn man an die Proportionen des damaligen Nachrichtenwesens denkt, als die Erfahrungen des Terrorismus heute. Und ich musste oft daran erinnern, dass in Städten, wo Krieg herrschte - ich nehme das Beispiel Sarajewo -, ein unglaubliches Bedürfnis nach Kunst bestand. Susan Sontag ist damals hingegangen und hat dafür gesorgt, dass am Theater etwas gezeigt wurde, was das Kriegstheater eben nicht hergab. Und die Leute sind hingegangen unter Lebensgefahr. Und wenn Sie mir die Erinnerung an die deutsche Geschichte erlauben: Die Rückkehrer 1945-46 waren geradezu kunst- und bildungshungrig, das man natürlich näher analysieren müsste, um jetzt auch das zweideutige Barrang zu finden. Aber es existierte, man hat in Ruinen Theater gespielt. Das ist kein Widerspruch. Ich würde sagen, ganz im Gegenteil. So wie man Gastlichkeit eher bei armen, bescheidenen Völkern findet als bei satten und reichen, so findet man Kunstsinn bei einfachen Leuten eigentlich eher als bei solchen, die der Lebensstandard blind gemacht hat.
Boysen: Das ist das Plädoyer gegen die Kunst als Kommerzobjekt ...
Muschg: ... und für die Kunst als Lebensmittel, wenn das so einen Sinn haben soll. Wir brauchen sie dann, wenn uns die Stützen von Wert und Glauben und alles Mögliche abhanden kommen, dringender als sonst
Boysen: Sie sind in der vergangenen Woche mit einer Art Urknall vom Präsidentenamt der Akademie der Künste in Berlin zurückgetreten. Und nun erfasst die Akademie allerlei Nachbeben. Die Vorwürfe, die Sie erhoben haben, die Akademie blockiere in ihrer schwerfälligen Struktur notwendige Reformen - diese Vorwürfe werden jetzt mit einer kleinen Zeitverzögerung sozusagen zurückgegeben, umgedreht, verdreht. Wir wollen hier gar nicht richten, auch ist die Akademie nicht unser Thema. Wir wollen auch kein Öl ins Feuer gießen. Aber doch zu Anfang die wenig weihnachtliche Frage, ob es Sie eigentlich persönlich verletzt, dass da jetzt an Anwürfen von Ihren Akademiekollegen kommt.
Muschg: Ich glaube, die persönliche Seite der Verletzungen habe ich hinter mir. Da habe ich einiges von dem gekostet, was Sie den "Urknall" genannt haben. Ich glaube, es ist ein zu großes Wort für einen, der einfach eine Alarmglocke zieht, weil er findet, die Gesellschaft, die die Akademie trägt, hat Anspruch auf Rechenschaft, was sie treibt.
Boysen: Wir erlauben uns ja, Herr Muschg, Ihren Ausbruch aus dem Apparat der Akademie zum Anlass für dieses Interview zu nehmen. Und da stellt sich die Frage, inwieweit das Geschehen an der Akademie vielleicht symptomatisch ist für die Unbeweglichkeit generell von Apparaten und Institutionen in diesem Land. Und wir können ja mal unseren Blick weg lenken vom Einzelfall. Sehen Sie auch anderenorts die Notwendigkeit, verkrustete Strukturen aufzubrechen, geistiges Neuland zu betreten oder es wenigstens einmal erst zu entdecken?
Muschg: Ich glaube, wenn Sie mir doch erlauben, mich wieder in der Akademie zu erden. Das, was Sie mich fragen, wäre ja gerade ein Thema der Akademie. Sie hat ja etwas wie einen Beratungsauftrag des Staates oder der Gesellschaft in kulturellen und kulturpolitischen Angelegenheiten, satzungsgemäß. Und den kann sie eigentlich nur wahrnehmen, wenn sie ihrerseits sensibel ist für die Erschütterungen der Gesellschaft, auch die unterschlagenen Erschütterungen, wenn nirgends ein Seismograph ist, der sie anmeldet, und Künstler müssten eigentlich diese Rolle spielen können, denn sie spüren es unter der eigenen Haut. Wenn auch niemand da ist, der sie nachhaltig verfolgt, einen Konflikt in der Gesellschaft zum Thema für die Gesellschaft machen kann, dann fehlt viel. Und man sollte, meine ich, eine Akademie danach richten oder beurteilen, ob etwas fehlen würde, wenn sie fehlte.
Boysen: Das war, glaube ich, das Diktum von Heiner Müller, der sich gefragt hat, wir sollten uns alle vor Augen führen - wir, die Akademiemitglieder -, was uns fehlen würde, hätten wir diese Akademie nicht. Wo sehen Sie denn diese Erschütterungen in der Gesellschaft, von denen Sie eben gesprochen haben?
Muschg: Jetzt bin ich ein bisschen borniert und käme gerne auf den Anlass zurück, weil man an ihm vielleicht illustrieren kann, was man darauf zu antworten hätte. Schauen Sie, wir haben ein, glaube ich, sehr schönes und brauchbares Gesetz ausgehandelt mit dem Bundeskulturministerium, Staatsministerium, unter der Leitung von Christina Weiß. Sie hat jetzt gewissermaßen ein weites Gewand geschneidert bekommen, in dem sie sich bewegen könnte und, wie ich meine, müsste, weil der Reformbedarf, der ja seit Jahrzehnten angemahnt wurde, ist ja nicht aus der Luft gegriffen. Und die Schwerbeweglichkeit der Institution könnte ja auch eine ganz große Tugend sein. Es könnte sein, dass gerade diese Institution, die 300 Jahre alt ist und viele nicht nur große Stunden der Weltgeschichte und der deutschen Geschichte mitgemacht hat, dass diese Akademie den nötigen Tiefgang mitbrächte, kraft ihres historischen Gewichtes. Im Grunde geht es darum, ihre konservative Komponente wirklich auszuspielen, von ihr Gebrauch zu machen. Insofern ist Reform in der Substanz gar nicht mein Anliegen, sondern mein Anliegen war immer, die unglaubliche Substanz, die die Akademie hat, und das Potential zur Geltung zu bringen. Und da steht sie sich eben selbst im Wege durch nicht geistigen, sondern Strukturkonservatismus. Und den sanft zu überwinden, wirklich sanft zu überwinden, war mir offenbar nicht gegeben. Darum ist es jetzt zu diesem Eklat gekommen.
Boysen: Sie haben immer gesagt, Sie vermissten einen geistigen Fahrplan bei den Reformversuchen der Akademie. Kann die Akademie eigentlich, obgleich sie natürlich das Dach eines Teils der geistigen und künstlerischen Elite sein soll, wirklich besser sein als die Gesellschaft? Verlangen Sie da vielleicht wirklich von der Akademie etwas, was auch in der Gesellschaft ein Problem darstellt?
Muschg: Vielleicht. Aber mir scheint, sie brauchte eigentlich nur sich selber treu zu sein, um auf diese Themen zu kommen. Ein ganz wichtiges wäre für mich der kulturelle, übrigens auch der historische Gedächtnisverlust, der mir in der deutschen Gesellschaft ausgeprägter erscheint, auch aus guten Gründen, aus ehrenwerten Gründen, als in vergleichbaren Ländern. Bei der Academie Francaise fragt niemand, ob sie sein soll und welchen Sinn sie hat. Die hat es gewissermaßen leicht, ihren historisch gewürdigten und unangefochtenen, jedenfalls von außen nicht anfechtbaren Standort zu bewahren. Die deutsche Akademie ist aber Teil historischer Erdbeben gewesen. Und sie hätte die Aufgabe, wenn sie Erdbeben wieder kommen sieht, das ist aber jetzt nur eine Funktion, die Warnfunktion, diese anzumelden. Viel, viel wichtiger wäre natürlich, dass sie eine Konsumtion hat, die ihr erlaubt, wirkungsvoll geistige Themen anzumelden. Europa ist ein kulturelles Thema, und es ist bei den Politikern und erst recht bei der Wirtschaft nicht ausreichend aufgehoben. Gerade die Frage der Vielfalt, wie lebt man zusammen mit Völkern und Staaten, die eine andere Geschichte haben, andere Geschwindigkeiten, andere Mentalitäten. Das wäre ein hervorragendes Thema für die Akademie, auch weil sie aus den meisten dieser europäischen Länder Mitglieder besitzt. Und es fehlt uns die Einrede oder die Information dieser Mitglieder ganz ungemein. Eigentlich ist ja eine Akademie keine Nationalinstitution, auch wenn sie jetzt diesen merkwürdigen Anspruch verpasst bekommen hat, sondern es ist eine kosmopolitische Institution. Seit dem 18. Jahrhundert denkt sie nicht nur über die Grenzen eines Staates hinaus, sondern sie hat, großspurig gesagt, einen Menschheitsauftrag im Sinne der Kantschen Kosmopolis, also diese Art von Akademie wäre ganz von selbst in der Lage, die Themen anzumelden, die für die Gesellschaft aktuell bleiben und brennend bleiben.
Boysen: Umfragen belegen ja, dass in diesem Land eigentlich bei vielen ein Unsicherheitsgefühl da ist und dass bei vielen Bürgern auch - und das sind ja Künstler und Akademiemitglieder letztendlich auch - es eher einen Rückzug ins Private gibt. Sie haben diese Frage, die Sie eben auch gestellt haben, "Was ist europäisch?", in einer größeren Schrift beantwortet und plädieren für das, was Sie einen gastlichen Erdteil nennen. Da wollen Sie eben diesem Problem der Vielfalt, die uns auch schreckt, die uns auch das Fürchten lehrt, diesem Problem beikommen und es beschreiben. Was bedeutet denn so etwas eigentlich dann für geistige Identität, für nationale Identität?
Muschg: In erster Linie glaube ich, dass diese Identität sich zutrauen darf, reicher zu sein, als sie sich macht oder als sie von den Politikern gemacht wird. Jede menschliche Person hat eine Mehrfachidentität. Sie sind eine Frau, Sie sind eine Frau, die beim Rundfunk arbeitet, Sie sind eine Deutsche, Sie sind eine Europäerin, Sie sind befreundet möglicherweise mit so und so vielen Leuten aus ganz anderen Ländern, mit ganz anderen Hintergründen.
Boysen: Ich spreche mit einem Schweizer.
Muschg: Zum Beispiel. Und das alles beeinträchtigt Ihre Identität nicht nur nicht, sondern es macht sie erst aus. Und wenn wir auf das deutsche Beispiel kommen, Deutschland hätte, scheint mir, die Bundesrepublik, eine völlig einmalige und erstmalige Chance in der deutschen Geschichte. Hölderlin hat in einer späten Hymne von der Germania gesprochen, die wehrlos Rat gibt unter den Völkern. Und wir haben die Mittelmacht Deutschland, die ehemals gefürchtete, die sich auch vor Einkreisung fürchtete, endlich an einem geistigen Ort und in einer politischen Lage, dass sie die große Vermittlerin des neuen Europa, des anderen Europa sein könnte. Mein Vorgänger an der Akademie hat in dieser Richtung wundervoll gewirkt als ehemaliger Angehöriger der Dissidentenszene, als ungarischer Jude ...
Boysen: György Konrád.
Muschg: György Konrád - war es ihm möglich, sowohl aufgrund seiner Biografie die nationale Opposition zu entkräften und die Akademie zu öffnen. Das hat er - um mich jetzt doch wieder ein bisschen auf die aktuelle Lage zurück zu ziehen - tun können, weil er in der Akademie als Präsident eine Sonderstellung einnahm. Darum geht es eigentlich.
Boysen: Sie haben eben beschrieben, wie in dem Mikrokosmos der Akademie der Künste das Zusammenwachsen von West und Ost passiert ist oder wo die Schwierigkeiten sind. Können Sie aus dem, was in der Akademie los war, etwas über unsere Gesellschaft insgesamt sagen? Hat sich nach Ihrer Beobachtung etwas wie eine gemeinsame neue Identität in Deutschland entwickeln können?
Muschg: Die Akademie wäre ein hervorragendes Versuchslaboratorium für genau dieses Zusammenwachsen, das teilweise sehr gelungen ist, teilweise erkennbar noch nicht, in Würdigung der Konfliktnotwendigkeit.
Boysen: Herr Muschg, lassen Sie uns einmal versuchen, die Akademie zu verlassen.
Muschg: Gut. Es ist schwer, es fällt mir schwer, das zu glauben.
Boysen: Ja, das verstehe ich gut. Sie sind sehr oft in Berlin und Sie reisen durch Deutschland. Sie lesen deutschsprachige, auch deutsche Zeitungen, verfolgen möglicherweise Radio- und Fernsehsendungen. Spüren Sie da ein Bedürfnis nach Anregung und Debatten, nach geistiger Nahrung, wie sie eben von Künstlern kommen kann?
Muschg: Ich muss mit mehreren Stimmen antworten. Ich spüre dieses Bedürfnis sehr, wenn ich als Autor durch die Lande reise. Und die Gespräche nach den Lesungen, die im Saal und diejenigen nachher in der Kneipe sind voller Neugier, voller Bewusstsein auch des Problems, von dem wir reden. Ich gestehe aber auch gerne oder ungerne ein, dass die Problembereitschaft im großen Ganzen und für das große Ganze, für das Gemeinwesen, schwächer geworden ist. Der Ausgang der letzten Bundestagswahl ist ein Beispiel für die Unentschiedenheit auch des Wahlvolkes. Und es sieht so aus und ich hoffe es, dass die jetzige Regierung nicht nur das Beste, sondern etwas Gutes aus dieser Unentschiedenheit machen kann. Aber wir haben gesehen, wie schwer sich die Republik auch damit getan hat, diese Unsicherheit anzuerkennen. Es war gleich von Krise die Rede, dabei war das eigentlich ein denkbar normaler demokratischer Vorgang, dass die Stimmung eines in sich an ganz neuen Fronten geteilten, eines verunsicherten Gemeinwesens ihrerseits keine gewaltig schlüssige Mehrheit ergibt. Das ist doch eigentlich sehr gut. Das bin ich natürlich jetzt in der Schweiz permanent gewohnt. Es gibt bei uns ja eine permanente große Koalition, die jetzt, weil das Harmoniebedürfnis und die Harmoniefähigkeit der Schweiz auch an eine bestimmte Grenze geraten ist, jetzt auch allmählich einer deutlichen Strukturierung nationaler Parteien Platz macht. Es ist noch nicht ein Zwei-Parteien-System, aber es geht in die Richtung. Also, warum macht man eine Krise aus etwas, was normal ist? Und die Erfahrung, die die Deutschen jetzt mit ihrer jetzigen Regierung machen, das ist noch sehr kurzfristig, um darüber schlüssig zu reden, aber jedenfalls geht doch ein gewisses Aufatmen durch die Republik: Es geht ja doch, man kann mit Parteien, die ihr Profil behalten, aber getrennt zu marschieren gewohnt waren, die können auch zusammen etwas anstellen. Sie haben ganz Recht, ich bin im Augenblick auf die Akademie fixiert, darum belege ich das jetzt gerade mit einem Beispiel aus dem Krisenleben dieser Institution. Als ich kommen sah, dass es zwei Konzepte dieser Satzung geben würde, da war mein Vorschlag, wir stellen der Mitgliederversammlung, unserem Souverän, diese beiden Versionen zur Debatte. Und dann wurde mir gesagt, das ist hier nicht möglich. Es muss da eine korporative Identität geben, die verlangt, dass der Senat sich einigt. Das sehe ich bis heute nicht ein. Ich hätte es wunderbar gefunden, wir hätten jetzt statt einer außerordentlichen Mitgliederversammlung und einem großen Krach im Haus zwei Satzungen und eine ausgiebige Diskussion. Man hat sehr, sehr viel unter dem Deckel gehalten, weil man das Gefühl hatte, wir dürfen die Institution nicht dem Licht der Öffentlichkeit preisgeben oder wir dürfen unsere schmutzige Wäsche nicht öffentlich waschen. Schmutzige Wäsche nicht, aber Sachfragen von solcher Tragweite, die muss man vor die Mitglieder bringen. Denn sie tragen auch Mitverantwortung dann für den Ausgang.
Boysen: Ist das vielleicht etwas, was man als typisch deutsch bezeichnen kann?
Muschg: Ich hüte mich vor solchen Verallgemeinerungen, denn es gibt ja sehr viele, wunderbar funktionierende Beispiele des demokratischen Verfahrens in Deutschland. Aber es gibt wohl in der Tat in einer politischen Kultur wie der deutschen, wo man mit dem fehlenden Widerspruch ja auch schreckliche Erfahrungen gemacht hat, mit dem Konformismus und so weiter, da gibt es noch keine Gewohnheit mit diesem Faktum, dass man im gutem Treuen verschiedener Meinung sein kann und dann im guten Treuen diese verschiedenen Meinungen auch zur Diskussion stellen, diese Tradition gibt es vielleicht ein bisschen weniger. Wenn ich an 1968 und die Folgen denke, dann war das ein extrem angemahnter Widerspruch, der im Grunde auch schon wieder autoritäre Züge trug und diese sehr deutlich zur Geltung gebracht hat, denn im Umgang mit Institutionen, da wünschte ich mir etwas, was im Angelsächsisch so wunderbar common sense heißt. Das heißt ja auch Gemeinsinn, und es heißt gewöhnlicher, gesunder Menschenverstand.
Boysen: Weihnachten ist der Beginn des Kirchenjahres, und mit dem recht nah an den Jahreswechsel gerückten ja doch turbulenten Regierungswechsel in Deutschland scheint etwas Neues begonnen zu haben. Sie haben schon über die Hoffnungen, die Sie daran knüpfen, gesprochen. Haben Sie einen Wunsch, einen Appell an diese Regierung, wo eigentlich der Kern dieses Neuen, über das Sie sprachen, steckt?
Muschg: Ich glaube, ein bisschen visionäre Selbstachtung könnte nichts schaden. Es ist wunderbar und nötig, dass man jetzt viele Probleme sachlicher und weniger ideologisch ansieht, ganz einfach weil die Doppelbeleuchtung von, traditionell gesprochen, links und rechts jetzt hier die Eindeutigkeit verbietet. Man muss tatsächlich Kompromisse machen und man wird auf diesem Wege wahrscheinlich weiter kommen, als wenn man zum Fenster hinaus politisiert. Aber ganz ohne Vision geht es nicht. Und wenn man so große Realisten wie Adenauer oder auf seine Weise auch de Gaulle ansieht, dann waren sie Pragmatiker im höchsten Grade. Aber sie hatten - auch Herr Kohl übrigens - eine hartnäckige Vision. Und der treu bleibend sind sie Staatsmänner geworden. Diesen Nachweis ist die jetzige Bundesrepublik noch schuldig und ich glaube, es gibt Leute darunter, die ihn nicht schuldig zu bleiben brauchen. Wenn Deutschland eine Vision hätte, so wie auch ein Selbstbild, ein Bild, was es kann, was es soll, dann wäre zwar die Arbeitslosigkeit nicht behoben, aber man würde ganz anders mit der eigenen Not umgehen. Es ist in der Tat ein kulturelles Problem. Um es ganz schlicht zu sagen - das ist sehr unweihnachtlich, was ich hier anmerke - aber dass man zum Beispiel weniger braucht und mit weniger Unterhaltung sich besser unterhält, das sind einfache Dinge, die wieder ins Bewusstsein rücken sollten und nicht nur unter dem Zeichen der Armut, des Defizits und der Benachteiligung, sondern es gibt einen Stolz auf das wenig Brauchen, und es ist vielleicht auch angesagt im Hinblick auf die weltwirtschaftliche Ökonomie. Mit Wachstum allein ist ja nicht gedient, denn Wachstum kann auch bösartig sein. Das wissen wir aus der Medizin.
Boysen: Sehen Sie oder erwarten Sie von dem neuen Kulturstaatsminister Bernd Neumann, dass er Ihnen folgt in diesen Punkten? Geben Sie ihm eine Chance oder haben Sie einen Wunsch, den Sie ihm mit auf den Weg geben können?
Muschg: Gott sei Dank brauchen die Autoren oder die Künstler keine Gefolgschaft in der Politik. Wir sind ja schon dankbar, wenn die Anerkennung der Mehrdeutigkeit des Gewerbes, das wir betreiben, sensibel genug ist um zu sagen: Ja, die Künstler sind Narren und ja, sie haben uns etwas zu sagen. Das geht zusammen und ich sehe sie eben immer noch gerne im Bild des Hofnarren, der ja keine nur lustige Person ist sondern die Verkörperung des Schattens einer Gesellschaft. Und keine Regierung, egal welcher Couleur, fällt es leicht, zuzugeben, dass sie Schatten wirft, jetzt auch im Sinne davon, dass es blinde Flecken gibt, dass es Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens gibt oder des geistigen Lebens, die sie nicht sieht. Und wenn ihr eine Akademie nützen kann, ihre Sicht zu verbessern, dann ist das ein derart ungeheurer Schritt und zugleich eigentlich ein ganz kleiner, denn jeder kann ihn auch als Leser, zur Not sogar als Fernsehzuschauer vollziehen. Das wünsche ich mir auch vom neuen Kulturstaatsminister.
Boysen: Herr Muschg, jetzt sind Sie im Laufe unseres Gespräches immer wieder auf die Akademie der Künste zurückgekommen. Jetzt erlaube ich mir, dasselbe zu tun. Auch da beginnt ja nun etwas Neues. Ich würde Ihnen gerne die abschließende Frage stellen nach der Zukunft der Akademie, der Sie ja weiter als Schriftsteller angehören. Wen würden Sie sich als Nachfolger wünschen?
Muschg: Also, ich werde mich zur Person nicht äußern. Aber diese Aufmerksamkeit, die die Akademie jetzt hat, muss sie nützen um zu sagen, hier geht es nicht um einen geliebten oder ungeliebten Präsidenten. Hier geht es tatsächlich um eine Richtung, um eine Orientierung. Ich sage es mit einem großen Wort: Es geht um den geistigen Auftrag der Akademie.
Boysen: Vielen Dank, Herr Muschg. Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.
Muschg: Ich danke Ihnen.
Adolf Muschg: Sie sprechen damit sozusagen meinen größten Weihnachtswunsch an, dass es so wäre. Die Medienlandschaft, wie sie heute strukturiert ist, verlangt offenbar Jahrestage, um eines Dichters zu gedenken. Es war zwar immer so, aber jetzt ist es nahezu ausschließlich so. Wir hatten ein Schiller-Jahr, jetzt kommt das Mozart-Jahr, wir hatten mal ein Schubert-Jahr. Also diese Fokussierung des Interesses an Hand von Daten ist offenbar notwendig, um das kulturelle Bild der Medien zu fokussieren. Was Schiller betrifft, hätte er ja sehr viel mehr zu sagen, als in diesem Jahr deutlich herausgekommen ist, und wir haben ...
Boysen: Was meinen Sie damit?
Muschg: Die ästhetische Erziehung des Menschen ist von gesellschaftlicher Natur. Es war damals die Antwort der Klassiker auf die französische Revolution. Und sie enthält eine Kerntatsache, mit der sich Schiller von seinem Lehrer Kant auch ein Stück absetzt, dass der Spieltrieb nicht nur, wie es im CDU-Wahlprogramm richtig heißt, ein Lebensmittel ist, sondern dass der Spieltrieb eine Schule auch der Vorstellungskraft und damit auch der politischen Phantasie wäre. Wer gut spielen gelernt hat, der lernt auch seine Einbildungskraft, seine Phantasie zu gebrauchen. Er hat buchstäblich gehirnphysiologisch mehr Optionen als derjenige, der dieses Spiel nicht gewohnt ist. Und das Muster eines großen Spiels ist die Kunst. Und an der Kunst und von der Kunst lernen, das gerade nicht heißt, eindeutig Botschaften lernen - die hat sie nicht mitzuteilen. Aber es heißt sich einzulassen auf Mehrdeutigkeit und in dieser Mehrdeutigkeit das Ständige, das Schöne, sogar das Wahre zu empfinden, das war eigentlich die Botschaft Schillers in seinen philosophischen Schriften. Und etwas viel Aktuelleres für die Akademie und - mit Verlaub - für das gesellschaftliche Selbstverständnis, nicht nur in Deutschland, kann ich mir kaum vorstellen. Das ist die wirkliche politische Komponente der Kultur, nicht das Unterschreiben von Aufrufen oder die Unterstützung noch so gut gemeinter Bürgerinitiativen, das ist alles auch gut ...
Boysen: ... aber wo ist denn, wenn ich Sie da unterbrechen darf, Herr Muschg, angesichts von Unfrieden, um nicht zu sagen Krieg und Gewalt in seiner neuen oder heftigen Ausprägung des Terrors, Platz für dieses, was Sie "Spieltrieb" nennen, für das, was man auch geistige Anregung nennen kann oder Inspiration?
Muschg: Das Entsetzen über die Guillotine in den 90er Jahren der Frühzeit der französischen Revolution war sicher nicht geringer, wenn man an die Proportionen des damaligen Nachrichtenwesens denkt, als die Erfahrungen des Terrorismus heute. Und ich musste oft daran erinnern, dass in Städten, wo Krieg herrschte - ich nehme das Beispiel Sarajewo -, ein unglaubliches Bedürfnis nach Kunst bestand. Susan Sontag ist damals hingegangen und hat dafür gesorgt, dass am Theater etwas gezeigt wurde, was das Kriegstheater eben nicht hergab. Und die Leute sind hingegangen unter Lebensgefahr. Und wenn Sie mir die Erinnerung an die deutsche Geschichte erlauben: Die Rückkehrer 1945-46 waren geradezu kunst- und bildungshungrig, das man natürlich näher analysieren müsste, um jetzt auch das zweideutige Barrang zu finden. Aber es existierte, man hat in Ruinen Theater gespielt. Das ist kein Widerspruch. Ich würde sagen, ganz im Gegenteil. So wie man Gastlichkeit eher bei armen, bescheidenen Völkern findet als bei satten und reichen, so findet man Kunstsinn bei einfachen Leuten eigentlich eher als bei solchen, die der Lebensstandard blind gemacht hat.
Boysen: Das ist das Plädoyer gegen die Kunst als Kommerzobjekt ...
Muschg: ... und für die Kunst als Lebensmittel, wenn das so einen Sinn haben soll. Wir brauchen sie dann, wenn uns die Stützen von Wert und Glauben und alles Mögliche abhanden kommen, dringender als sonst
Boysen: Sie sind in der vergangenen Woche mit einer Art Urknall vom Präsidentenamt der Akademie der Künste in Berlin zurückgetreten. Und nun erfasst die Akademie allerlei Nachbeben. Die Vorwürfe, die Sie erhoben haben, die Akademie blockiere in ihrer schwerfälligen Struktur notwendige Reformen - diese Vorwürfe werden jetzt mit einer kleinen Zeitverzögerung sozusagen zurückgegeben, umgedreht, verdreht. Wir wollen hier gar nicht richten, auch ist die Akademie nicht unser Thema. Wir wollen auch kein Öl ins Feuer gießen. Aber doch zu Anfang die wenig weihnachtliche Frage, ob es Sie eigentlich persönlich verletzt, dass da jetzt an Anwürfen von Ihren Akademiekollegen kommt.
Muschg: Ich glaube, die persönliche Seite der Verletzungen habe ich hinter mir. Da habe ich einiges von dem gekostet, was Sie den "Urknall" genannt haben. Ich glaube, es ist ein zu großes Wort für einen, der einfach eine Alarmglocke zieht, weil er findet, die Gesellschaft, die die Akademie trägt, hat Anspruch auf Rechenschaft, was sie treibt.
Boysen: Wir erlauben uns ja, Herr Muschg, Ihren Ausbruch aus dem Apparat der Akademie zum Anlass für dieses Interview zu nehmen. Und da stellt sich die Frage, inwieweit das Geschehen an der Akademie vielleicht symptomatisch ist für die Unbeweglichkeit generell von Apparaten und Institutionen in diesem Land. Und wir können ja mal unseren Blick weg lenken vom Einzelfall. Sehen Sie auch anderenorts die Notwendigkeit, verkrustete Strukturen aufzubrechen, geistiges Neuland zu betreten oder es wenigstens einmal erst zu entdecken?
Muschg: Ich glaube, wenn Sie mir doch erlauben, mich wieder in der Akademie zu erden. Das, was Sie mich fragen, wäre ja gerade ein Thema der Akademie. Sie hat ja etwas wie einen Beratungsauftrag des Staates oder der Gesellschaft in kulturellen und kulturpolitischen Angelegenheiten, satzungsgemäß. Und den kann sie eigentlich nur wahrnehmen, wenn sie ihrerseits sensibel ist für die Erschütterungen der Gesellschaft, auch die unterschlagenen Erschütterungen, wenn nirgends ein Seismograph ist, der sie anmeldet, und Künstler müssten eigentlich diese Rolle spielen können, denn sie spüren es unter der eigenen Haut. Wenn auch niemand da ist, der sie nachhaltig verfolgt, einen Konflikt in der Gesellschaft zum Thema für die Gesellschaft machen kann, dann fehlt viel. Und man sollte, meine ich, eine Akademie danach richten oder beurteilen, ob etwas fehlen würde, wenn sie fehlte.
Boysen: Das war, glaube ich, das Diktum von Heiner Müller, der sich gefragt hat, wir sollten uns alle vor Augen führen - wir, die Akademiemitglieder -, was uns fehlen würde, hätten wir diese Akademie nicht. Wo sehen Sie denn diese Erschütterungen in der Gesellschaft, von denen Sie eben gesprochen haben?
Muschg: Jetzt bin ich ein bisschen borniert und käme gerne auf den Anlass zurück, weil man an ihm vielleicht illustrieren kann, was man darauf zu antworten hätte. Schauen Sie, wir haben ein, glaube ich, sehr schönes und brauchbares Gesetz ausgehandelt mit dem Bundeskulturministerium, Staatsministerium, unter der Leitung von Christina Weiß. Sie hat jetzt gewissermaßen ein weites Gewand geschneidert bekommen, in dem sie sich bewegen könnte und, wie ich meine, müsste, weil der Reformbedarf, der ja seit Jahrzehnten angemahnt wurde, ist ja nicht aus der Luft gegriffen. Und die Schwerbeweglichkeit der Institution könnte ja auch eine ganz große Tugend sein. Es könnte sein, dass gerade diese Institution, die 300 Jahre alt ist und viele nicht nur große Stunden der Weltgeschichte und der deutschen Geschichte mitgemacht hat, dass diese Akademie den nötigen Tiefgang mitbrächte, kraft ihres historischen Gewichtes. Im Grunde geht es darum, ihre konservative Komponente wirklich auszuspielen, von ihr Gebrauch zu machen. Insofern ist Reform in der Substanz gar nicht mein Anliegen, sondern mein Anliegen war immer, die unglaubliche Substanz, die die Akademie hat, und das Potential zur Geltung zu bringen. Und da steht sie sich eben selbst im Wege durch nicht geistigen, sondern Strukturkonservatismus. Und den sanft zu überwinden, wirklich sanft zu überwinden, war mir offenbar nicht gegeben. Darum ist es jetzt zu diesem Eklat gekommen.
Boysen: Sie haben immer gesagt, Sie vermissten einen geistigen Fahrplan bei den Reformversuchen der Akademie. Kann die Akademie eigentlich, obgleich sie natürlich das Dach eines Teils der geistigen und künstlerischen Elite sein soll, wirklich besser sein als die Gesellschaft? Verlangen Sie da vielleicht wirklich von der Akademie etwas, was auch in der Gesellschaft ein Problem darstellt?
Muschg: Vielleicht. Aber mir scheint, sie brauchte eigentlich nur sich selber treu zu sein, um auf diese Themen zu kommen. Ein ganz wichtiges wäre für mich der kulturelle, übrigens auch der historische Gedächtnisverlust, der mir in der deutschen Gesellschaft ausgeprägter erscheint, auch aus guten Gründen, aus ehrenwerten Gründen, als in vergleichbaren Ländern. Bei der Academie Francaise fragt niemand, ob sie sein soll und welchen Sinn sie hat. Die hat es gewissermaßen leicht, ihren historisch gewürdigten und unangefochtenen, jedenfalls von außen nicht anfechtbaren Standort zu bewahren. Die deutsche Akademie ist aber Teil historischer Erdbeben gewesen. Und sie hätte die Aufgabe, wenn sie Erdbeben wieder kommen sieht, das ist aber jetzt nur eine Funktion, die Warnfunktion, diese anzumelden. Viel, viel wichtiger wäre natürlich, dass sie eine Konsumtion hat, die ihr erlaubt, wirkungsvoll geistige Themen anzumelden. Europa ist ein kulturelles Thema, und es ist bei den Politikern und erst recht bei der Wirtschaft nicht ausreichend aufgehoben. Gerade die Frage der Vielfalt, wie lebt man zusammen mit Völkern und Staaten, die eine andere Geschichte haben, andere Geschwindigkeiten, andere Mentalitäten. Das wäre ein hervorragendes Thema für die Akademie, auch weil sie aus den meisten dieser europäischen Länder Mitglieder besitzt. Und es fehlt uns die Einrede oder die Information dieser Mitglieder ganz ungemein. Eigentlich ist ja eine Akademie keine Nationalinstitution, auch wenn sie jetzt diesen merkwürdigen Anspruch verpasst bekommen hat, sondern es ist eine kosmopolitische Institution. Seit dem 18. Jahrhundert denkt sie nicht nur über die Grenzen eines Staates hinaus, sondern sie hat, großspurig gesagt, einen Menschheitsauftrag im Sinne der Kantschen Kosmopolis, also diese Art von Akademie wäre ganz von selbst in der Lage, die Themen anzumelden, die für die Gesellschaft aktuell bleiben und brennend bleiben.
Boysen: Umfragen belegen ja, dass in diesem Land eigentlich bei vielen ein Unsicherheitsgefühl da ist und dass bei vielen Bürgern auch - und das sind ja Künstler und Akademiemitglieder letztendlich auch - es eher einen Rückzug ins Private gibt. Sie haben diese Frage, die Sie eben auch gestellt haben, "Was ist europäisch?", in einer größeren Schrift beantwortet und plädieren für das, was Sie einen gastlichen Erdteil nennen. Da wollen Sie eben diesem Problem der Vielfalt, die uns auch schreckt, die uns auch das Fürchten lehrt, diesem Problem beikommen und es beschreiben. Was bedeutet denn so etwas eigentlich dann für geistige Identität, für nationale Identität?
Muschg: In erster Linie glaube ich, dass diese Identität sich zutrauen darf, reicher zu sein, als sie sich macht oder als sie von den Politikern gemacht wird. Jede menschliche Person hat eine Mehrfachidentität. Sie sind eine Frau, Sie sind eine Frau, die beim Rundfunk arbeitet, Sie sind eine Deutsche, Sie sind eine Europäerin, Sie sind befreundet möglicherweise mit so und so vielen Leuten aus ganz anderen Ländern, mit ganz anderen Hintergründen.
Boysen: Ich spreche mit einem Schweizer.
Muschg: Zum Beispiel. Und das alles beeinträchtigt Ihre Identität nicht nur nicht, sondern es macht sie erst aus. Und wenn wir auf das deutsche Beispiel kommen, Deutschland hätte, scheint mir, die Bundesrepublik, eine völlig einmalige und erstmalige Chance in der deutschen Geschichte. Hölderlin hat in einer späten Hymne von der Germania gesprochen, die wehrlos Rat gibt unter den Völkern. Und wir haben die Mittelmacht Deutschland, die ehemals gefürchtete, die sich auch vor Einkreisung fürchtete, endlich an einem geistigen Ort und in einer politischen Lage, dass sie die große Vermittlerin des neuen Europa, des anderen Europa sein könnte. Mein Vorgänger an der Akademie hat in dieser Richtung wundervoll gewirkt als ehemaliger Angehöriger der Dissidentenszene, als ungarischer Jude ...
Boysen: György Konrád.
Muschg: György Konrád - war es ihm möglich, sowohl aufgrund seiner Biografie die nationale Opposition zu entkräften und die Akademie zu öffnen. Das hat er - um mich jetzt doch wieder ein bisschen auf die aktuelle Lage zurück zu ziehen - tun können, weil er in der Akademie als Präsident eine Sonderstellung einnahm. Darum geht es eigentlich.
Boysen: Sie haben eben beschrieben, wie in dem Mikrokosmos der Akademie der Künste das Zusammenwachsen von West und Ost passiert ist oder wo die Schwierigkeiten sind. Können Sie aus dem, was in der Akademie los war, etwas über unsere Gesellschaft insgesamt sagen? Hat sich nach Ihrer Beobachtung etwas wie eine gemeinsame neue Identität in Deutschland entwickeln können?
Muschg: Die Akademie wäre ein hervorragendes Versuchslaboratorium für genau dieses Zusammenwachsen, das teilweise sehr gelungen ist, teilweise erkennbar noch nicht, in Würdigung der Konfliktnotwendigkeit.
Boysen: Herr Muschg, lassen Sie uns einmal versuchen, die Akademie zu verlassen.
Muschg: Gut. Es ist schwer, es fällt mir schwer, das zu glauben.
Boysen: Ja, das verstehe ich gut. Sie sind sehr oft in Berlin und Sie reisen durch Deutschland. Sie lesen deutschsprachige, auch deutsche Zeitungen, verfolgen möglicherweise Radio- und Fernsehsendungen. Spüren Sie da ein Bedürfnis nach Anregung und Debatten, nach geistiger Nahrung, wie sie eben von Künstlern kommen kann?
Muschg: Ich muss mit mehreren Stimmen antworten. Ich spüre dieses Bedürfnis sehr, wenn ich als Autor durch die Lande reise. Und die Gespräche nach den Lesungen, die im Saal und diejenigen nachher in der Kneipe sind voller Neugier, voller Bewusstsein auch des Problems, von dem wir reden. Ich gestehe aber auch gerne oder ungerne ein, dass die Problembereitschaft im großen Ganzen und für das große Ganze, für das Gemeinwesen, schwächer geworden ist. Der Ausgang der letzten Bundestagswahl ist ein Beispiel für die Unentschiedenheit auch des Wahlvolkes. Und es sieht so aus und ich hoffe es, dass die jetzige Regierung nicht nur das Beste, sondern etwas Gutes aus dieser Unentschiedenheit machen kann. Aber wir haben gesehen, wie schwer sich die Republik auch damit getan hat, diese Unsicherheit anzuerkennen. Es war gleich von Krise die Rede, dabei war das eigentlich ein denkbar normaler demokratischer Vorgang, dass die Stimmung eines in sich an ganz neuen Fronten geteilten, eines verunsicherten Gemeinwesens ihrerseits keine gewaltig schlüssige Mehrheit ergibt. Das ist doch eigentlich sehr gut. Das bin ich natürlich jetzt in der Schweiz permanent gewohnt. Es gibt bei uns ja eine permanente große Koalition, die jetzt, weil das Harmoniebedürfnis und die Harmoniefähigkeit der Schweiz auch an eine bestimmte Grenze geraten ist, jetzt auch allmählich einer deutlichen Strukturierung nationaler Parteien Platz macht. Es ist noch nicht ein Zwei-Parteien-System, aber es geht in die Richtung. Also, warum macht man eine Krise aus etwas, was normal ist? Und die Erfahrung, die die Deutschen jetzt mit ihrer jetzigen Regierung machen, das ist noch sehr kurzfristig, um darüber schlüssig zu reden, aber jedenfalls geht doch ein gewisses Aufatmen durch die Republik: Es geht ja doch, man kann mit Parteien, die ihr Profil behalten, aber getrennt zu marschieren gewohnt waren, die können auch zusammen etwas anstellen. Sie haben ganz Recht, ich bin im Augenblick auf die Akademie fixiert, darum belege ich das jetzt gerade mit einem Beispiel aus dem Krisenleben dieser Institution. Als ich kommen sah, dass es zwei Konzepte dieser Satzung geben würde, da war mein Vorschlag, wir stellen der Mitgliederversammlung, unserem Souverän, diese beiden Versionen zur Debatte. Und dann wurde mir gesagt, das ist hier nicht möglich. Es muss da eine korporative Identität geben, die verlangt, dass der Senat sich einigt. Das sehe ich bis heute nicht ein. Ich hätte es wunderbar gefunden, wir hätten jetzt statt einer außerordentlichen Mitgliederversammlung und einem großen Krach im Haus zwei Satzungen und eine ausgiebige Diskussion. Man hat sehr, sehr viel unter dem Deckel gehalten, weil man das Gefühl hatte, wir dürfen die Institution nicht dem Licht der Öffentlichkeit preisgeben oder wir dürfen unsere schmutzige Wäsche nicht öffentlich waschen. Schmutzige Wäsche nicht, aber Sachfragen von solcher Tragweite, die muss man vor die Mitglieder bringen. Denn sie tragen auch Mitverantwortung dann für den Ausgang.
Boysen: Ist das vielleicht etwas, was man als typisch deutsch bezeichnen kann?
Muschg: Ich hüte mich vor solchen Verallgemeinerungen, denn es gibt ja sehr viele, wunderbar funktionierende Beispiele des demokratischen Verfahrens in Deutschland. Aber es gibt wohl in der Tat in einer politischen Kultur wie der deutschen, wo man mit dem fehlenden Widerspruch ja auch schreckliche Erfahrungen gemacht hat, mit dem Konformismus und so weiter, da gibt es noch keine Gewohnheit mit diesem Faktum, dass man im gutem Treuen verschiedener Meinung sein kann und dann im guten Treuen diese verschiedenen Meinungen auch zur Diskussion stellen, diese Tradition gibt es vielleicht ein bisschen weniger. Wenn ich an 1968 und die Folgen denke, dann war das ein extrem angemahnter Widerspruch, der im Grunde auch schon wieder autoritäre Züge trug und diese sehr deutlich zur Geltung gebracht hat, denn im Umgang mit Institutionen, da wünschte ich mir etwas, was im Angelsächsisch so wunderbar common sense heißt. Das heißt ja auch Gemeinsinn, und es heißt gewöhnlicher, gesunder Menschenverstand.
Boysen: Weihnachten ist der Beginn des Kirchenjahres, und mit dem recht nah an den Jahreswechsel gerückten ja doch turbulenten Regierungswechsel in Deutschland scheint etwas Neues begonnen zu haben. Sie haben schon über die Hoffnungen, die Sie daran knüpfen, gesprochen. Haben Sie einen Wunsch, einen Appell an diese Regierung, wo eigentlich der Kern dieses Neuen, über das Sie sprachen, steckt?
Muschg: Ich glaube, ein bisschen visionäre Selbstachtung könnte nichts schaden. Es ist wunderbar und nötig, dass man jetzt viele Probleme sachlicher und weniger ideologisch ansieht, ganz einfach weil die Doppelbeleuchtung von, traditionell gesprochen, links und rechts jetzt hier die Eindeutigkeit verbietet. Man muss tatsächlich Kompromisse machen und man wird auf diesem Wege wahrscheinlich weiter kommen, als wenn man zum Fenster hinaus politisiert. Aber ganz ohne Vision geht es nicht. Und wenn man so große Realisten wie Adenauer oder auf seine Weise auch de Gaulle ansieht, dann waren sie Pragmatiker im höchsten Grade. Aber sie hatten - auch Herr Kohl übrigens - eine hartnäckige Vision. Und der treu bleibend sind sie Staatsmänner geworden. Diesen Nachweis ist die jetzige Bundesrepublik noch schuldig und ich glaube, es gibt Leute darunter, die ihn nicht schuldig zu bleiben brauchen. Wenn Deutschland eine Vision hätte, so wie auch ein Selbstbild, ein Bild, was es kann, was es soll, dann wäre zwar die Arbeitslosigkeit nicht behoben, aber man würde ganz anders mit der eigenen Not umgehen. Es ist in der Tat ein kulturelles Problem. Um es ganz schlicht zu sagen - das ist sehr unweihnachtlich, was ich hier anmerke - aber dass man zum Beispiel weniger braucht und mit weniger Unterhaltung sich besser unterhält, das sind einfache Dinge, die wieder ins Bewusstsein rücken sollten und nicht nur unter dem Zeichen der Armut, des Defizits und der Benachteiligung, sondern es gibt einen Stolz auf das wenig Brauchen, und es ist vielleicht auch angesagt im Hinblick auf die weltwirtschaftliche Ökonomie. Mit Wachstum allein ist ja nicht gedient, denn Wachstum kann auch bösartig sein. Das wissen wir aus der Medizin.
Boysen: Sehen Sie oder erwarten Sie von dem neuen Kulturstaatsminister Bernd Neumann, dass er Ihnen folgt in diesen Punkten? Geben Sie ihm eine Chance oder haben Sie einen Wunsch, den Sie ihm mit auf den Weg geben können?
Muschg: Gott sei Dank brauchen die Autoren oder die Künstler keine Gefolgschaft in der Politik. Wir sind ja schon dankbar, wenn die Anerkennung der Mehrdeutigkeit des Gewerbes, das wir betreiben, sensibel genug ist um zu sagen: Ja, die Künstler sind Narren und ja, sie haben uns etwas zu sagen. Das geht zusammen und ich sehe sie eben immer noch gerne im Bild des Hofnarren, der ja keine nur lustige Person ist sondern die Verkörperung des Schattens einer Gesellschaft. Und keine Regierung, egal welcher Couleur, fällt es leicht, zuzugeben, dass sie Schatten wirft, jetzt auch im Sinne davon, dass es blinde Flecken gibt, dass es Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens gibt oder des geistigen Lebens, die sie nicht sieht. Und wenn ihr eine Akademie nützen kann, ihre Sicht zu verbessern, dann ist das ein derart ungeheurer Schritt und zugleich eigentlich ein ganz kleiner, denn jeder kann ihn auch als Leser, zur Not sogar als Fernsehzuschauer vollziehen. Das wünsche ich mir auch vom neuen Kulturstaatsminister.
Boysen: Herr Muschg, jetzt sind Sie im Laufe unseres Gespräches immer wieder auf die Akademie der Künste zurückgekommen. Jetzt erlaube ich mir, dasselbe zu tun. Auch da beginnt ja nun etwas Neues. Ich würde Ihnen gerne die abschließende Frage stellen nach der Zukunft der Akademie, der Sie ja weiter als Schriftsteller angehören. Wen würden Sie sich als Nachfolger wünschen?
Muschg: Also, ich werde mich zur Person nicht äußern. Aber diese Aufmerksamkeit, die die Akademie jetzt hat, muss sie nützen um zu sagen, hier geht es nicht um einen geliebten oder ungeliebten Präsidenten. Hier geht es tatsächlich um eine Richtung, um eine Orientierung. Ich sage es mit einem großen Wort: Es geht um den geistigen Auftrag der Akademie.
Boysen: Vielen Dank, Herr Muschg. Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.
Muschg: Ich danke Ihnen.