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Musée sentimental

Als die Worpsweder Malerin Paula Modersohn-Becker 1907 im Alter von erst 31 Jahren im Kindbett starb, hinterließ sie über 700 Gemälde und etwa 1000 Zeichnungen, die nur der Familie und den engsten Freunden bekannt waren. Nach einer ersten öffentlichen Ausstellung im Jahre 1899 in der Kunsthalle Bremen, die von dem Maler und Kunstpapst Arthur Fitger in der Bremer Zeitung unflätig verrissen worden war, mied Paula öffentliche Auftritte und arbeitete ganz zurückgezogen. Erst Jahre später gewann sie ihr malerisches Selbstvertrauen wieder. Doch zu ihren Lebzeiten kam es nicht mehr zu einer Ausstellung. Seither ist die Malerin weltberühmt geworden, ihre Bedeutung für die Kunstgeschichte wurde in vielen Retrospektiven gewürdigt. Rainer Stamm, Direktor des Paula Modersohn-Becker Museums in der Bremer Böttcherstraße, über die neue Auswahl aus dem Nachlass:

Von Rainer Bertold Schossig |
    Der Unterschied zu einer Retrospektive ist, den Begriff 'Nachlass’, der viele Besucher immer wieder interessiert, sichtbar zu machen, in dieser Heterogenität zwischen Gemälden, Zeichnungen, Dingen des persönlichen Leben, die uns helfen, die Genese eines Werkes zu rekonstruieren. Meistens treten die Spuren, die zu einem Werk hinführen erst dann in Erscheinung, wenn die Forschung abgeschlossen ist; die Mannigfaltigkeit eines Nachlasses, das ist Thema dieser Ausstellung, dass sich diese Werke und Gegenstände uns sowohl in Verständnis des Werkes als auch des Lebens wechselseitig erhellen.

    "Worpswede! – Versunkene-Glocke-Stimmung!" - Im Geiste dieses berühmten Tagebuchzitats sind viele von Paulas Werken, als sie noch eines der "Worpsweder Malweiber" war, entstanden. Doch gerade eine quer durch den Nachlass gesehene Auswahl zeigt, wie präzise sie an einzelnen Themen arbeitete, sich nicht mit gefühliger Stimmungsmalerei zufrieden gab. Sie schuf ganze Serien von Birkenalleen oder Moorteichen zwischen Sanddünen, wo Wasser, Bäume und Moorkaten schließlich zu abstrakten Versatzstücken jener eigentümlichen Bildarchitekturen werden, die den Ruf der Malerin begründeten.

    Durch die Fülle des Materials, die unterschiedlichen Stadien und Vollendungsgrade der Werke, sehen wir, wie die Künstlerin an bestimmten Bildthemen gearbeitet, Varianten geschaffen hat, wie sie die Lust an der Variation auch kultiviert hat.

    So macht die Ausstellung zwischen den Zeilen deutlich, wie sich Paula nach und nach von den Doktrinen des Worpsweder Naturlyrismus freimacht. Sie liebäugelt mit der französischen Malerei, fährt immer wieder nach Paris, wo sie an verschiedenen Akademien studiert. In einem wahren Schaffensrausch entsteht während ihres letzten Parisaufenthalts 1906/07 eine Reihe großer Bildkompositionen, gleichsam eine endgültige Vision ihrer reifen künstlerischen Vorstellungen. Dass die historische Bedeutung dieser Pariser Gemälde erst nach ihrem Tode erkannt wurde, ist von heute aus kaum mehr vorstellbar. Und geradezu tragisch, dass die Worpsweder Künstlerin zeitlebens – selbst von so sensiblen Freunden und Beobachtern wie Rainer Maria Rilke – völlig unterschätzt wurde. Umso versöhnlicher stimmen dagegen viele der noch nie ausgestellten Paula-Devotionalien, nicht nur Flachware, wie Briefe und Fotos, auch ihre Bernsteinkette, ihre Palette und eine Haarlocke. Wolfgang Werner von der Paula Modersohn-Becker Stiftung:

    Das Neue dieser Nachlassbesichtigung ist, wir zeigen den Gesamt-Nachlass, zum Künstlernachlass gehören auch Bilder der Freunde, Briefwechsel, Fotos, die Gegenstände, die Sie auf den Stillleben finden. Wir haben z.B. – mit Möbeln und Geschirr – einen Wohnraum wieder einrichten können, wie er sich im Jahr 1908 nach Paulas Tod sich vorgefunden hat.

    Solche Erinnerungsstücke machen die Ausstellung in der Böttcherstraße wirklich zu einem kleinen "musée sentimental" auf Zeit. Doch selbst bei der volkstümlichen Paula sind auch heute noch echte Entdeckungen zu machen, vor allem bei dem nur teilweise erschlossenen zeichnerischen Werk, das zuletzt in den 70er Jahren zwischen Hamburg, Zürich und Köln in Ausschnitten gezeigt wurde. Wolfgang Werner sieht hier noch Arbeitsbedarf bis zum Jubiläumsjahr 2007:

    Das zeichnerische Werk hat bis heute nicht die Verbreitung gefunden, die das malerische Werk hat. Insofern ist hier, wo wir einmal mal Zeichnungen nach verschiedenen Werkgruppen ausgebreitet haben und die Skizzenbücher zeigen, ist der Anreiz da, hiervon mehr zu wissen. Eine Zeichnungsausstellung steht sicher an und es gibt auch bedeutende Museen, die das gerade überlegen, das zu machen: eine reine Zeichnungsausstellung.