Musik ist Nahrung für die Seele. Mit diesem Satz empfängt uns der junge lettische Dirigent Andris Nelsons auf seiner Internet-Seite. Musik ist aber auch harte Arbeit. Zumindest wenn man wie er, statt in die Ferien zu fahren, in kurzer Zeit neben zwei kompletten großen Opern noch etwa 15 weitere Werke "drauf" haben muss – für den sommerlichen Festival-Betrieb und als Gast verschiedener erstklassiger Orchester. Denn gerade hat Nelsons am Royal Opera House in London ein halbes Dutzend mal Puccinis "Madame Butterfly" dirigiert, im August bestimmt die Wiederaufnahme des "Lohengrin" in Bayreuth seinen Kalender, dann ist Ende August, Anfang September das Königliche Konzertgebouw Orchester an der Reihe mit Konzerten im eigenen Haus in Amsterdam und anschließender Tournee nach Bremen, Frankfurt, Dortmund, Luzern und Grafenegg. Und erst nach zwei Konzerten in Berlin mit den dortigen Philharmonikern wird Nelsons sich Ende September wieder seinem eigenen Orchester widmen, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, mit dem er beim Label Orfeo unlängst weitere Werke von Tschaikowsky und – ganz frisch auf dem Markt – von Richard Strauss eingespielt hat.
"Peter Tschaikowsky
Sinfonie Nr. 6 h-moll, op. 74 "Pathétique", erster Satz
City of Birmingham Symphony Orchestra
Track 1"
Es war die 18 Jahre dauernde Führung durch den anfangs erst 25-jährigen Simon Rattle, die das Sinfonieorchester der britischen Stadt Birmingham in den 80er- und 90er-Jahren in den Rang eines internationalen Spitzenorchesters beförderte. Dieser Erfolg setzte sich, wenn auch weniger spektakulär, unter dem gleichfalls jungen finnischen Dirigenten Sakari Oramo fort. Die so schon fast zur Tradition gewordene Ernennung sehr junger Dirigenten fand dann ihre Fortsetzung, als im September 2008 der damals 30-jährige Andris Nelsons das Amt des Music Directors antrat. Von seinem Wirken dort kann man sich inzwischen anhand mehrerer CD-Aufnahmen einen gewissen Eindruck verschaffen, auch ohne nach Birmingham zu fahren: Strawinskys "Feuervogel" und die "Psalmensinfonie", Tschaikowskys 5. Sinfonie und das "Heldenleben" von Richard Strauss liegen bereits vor. Jetzt kommen Tschaikowskys "Pathétique" und die "Alpensinfonie" von Strauss hinzu: Das Label Orfeo und das Orchestermanagement sehen offenbar bei Nelsons eine besondere Affinität zu dieser hochromantisch aufgeladenen Musik. Und in der Tat scheint der junge Lette kein zurückhaltend-kühler Zeichengeber, sondern eher ein Feuerkopf zu sein, der keine Angst vor Emotionen hat. Sein Dirigierstil jedenfalls ist äußerst gestenreich und suggestiv; stets steht er in gespanntem Kontakt mit seinen Musikern. Immer auf der Suche nach dem Sinn des Komponierten widmet er sich intensiv jedem Motiv, jeder Linie, sorgt mit großen Gebärden für die richtige Klangbalance, die angemessene Lautstärke und für eine reichhaltige Farbpalette. Im Gespräch erklärt er, dass für ihn die Beschäftigung mit den Lebensumständen eines Tonschöpfers zur Zeit der Komposition unbedingt auch mit zur Vorbereitung einer Interpretation gehört, und er hat kein Problem damit, die einzelnen Sätze beispielsweise von Tschaikowskys "Pathétique" anhand dieser Sekundärliteratur wie Programmmusik zu deuten. So bemerkt er schon im 1. Satz dieser 6. Sinfonie deutliche Zeichen der Resignation bei ihrem Schöpfer Tschaikowsky, der bei aller Schönheit seiner Melodien weiß, dass die Träume seiner idealistischen Weltsicht niemals Wirklichkeit werden. Im 3. Satz, der oft als Spiegel des bunten, prallen Lebens gedeutet wird, tendiert Nelsons eher zu der düsteren Sichtweise, dass das berühmte Marschthema für den unerbittlichen, alles niederwalzenden Siegzug des Todes steht. Bei aller Emotionalität, die Nelsons zulässt und unterstützt, bleibt seine Interpretation doch insgesamt wohltuend sachlich: voller Gefühl, aber nicht larmoyant, temperamentvoll, aber nicht gehetzt, romantisch, aber nicht verkitscht. So gerät auch der 2. Satz, nach Nelsons Meinung ein Rückblick des Komponisten auf Kindheit und glückliche Momente, eher unbeschwert-heiter als wehmütig und damit deutlich schneller im Tempo als in anderen Einspielungen.
"Peter Tschaikowsky
Sinfonie Nr. 6 h-moll, op. 74 "Pathétique"
City of Birmingham Symphony Orchestra
Track 3"
Anders als noch bei Tschaikowsky stand im Orchester-Schaffen von Richard Strauss nicht mehr die Sinfonie oder das Solokonzert im Vordergrund, sondern die sinfonische Dichtung. Seine Stoffe bezog Strauss dabei aus der Weltliteratur oder aus der eigenen Erfahrung, was für "Ein Heldenleben", die "Symphonia domestica" oder die "Alpensinfonie" gilt.
Im deutschen Sprachraum, wo man sich mit schildernder, Geschichten erzählender Musik traditionell schwerer tut als in den romanischen Ländern, löste und löst gerade die Alpensinfonie mit ihrem teilweise recht derben Naturalismus bei Kritik und Wissenschaft immer wieder Diskussionen aus. Doch neben der vordergründigen Schilderung einer Bergbesteigung hat das Werk noch einen anderen, philosophischen Hintergrund. Zwischen den ersten Skizzen und der Uraufführung 1915 lagen 15 Jahre - für den eigentlich eher zügig komponierenden Strauss eine ungewöhnlich lange Schaffenszeit. Ein Grund hierfür war wohl, dass Strauss gerade nicht eine naturalistische Bergsinfonie schreiben wollte, sondern sich an der Gedankenwelt von Franz Liszts sinfonischer Dichtung "Was man auf dem Berge hört" orientierte. Liszt schilderte hier die Reinheit der Natur, der er die Verdorbenheit des Menschen gegenüberstellte. Diesem typisch romantischen Denken wollte Strauss sein eigenes, von Friederich Nietzsche und der Gründerzeit geprägtes Naturverständnis entgegensetzen: In den frühen Skizzen zur Alpensinfonie folgt auf die Bergbesteigung eine "Pastorale Szene" und im Kontrast dazu ein Abschnitt mit "Träumen und Gespenstern", und für den Schluss hatte Strauss einen Teil vorgesehen, der eine "Vision des neuen Menschen der Tatkraft" darstellen sollte. 1911 schrieb Strauss in sein Tagebuch: "Ich will meine Alpensinfonie: der Antichrist nennen, als da ist: sittliche Befreiung durch Arbeit, Anbetung der ewigen, herrlichen Natur." "Arbeit" ist so wie "Bergbesteigung" offensichtlich etwas Heroisches, Abenteuerliches, höchst Gefährliches. Diese Arbeitsethik war für Richard Strauss selbst wie für den Bürger der Gründerzeit allgemein das zentrale Lebensprinzip, das vorher für undenkbar gehaltene, gerade auch technische Erfolge und Abenteuer ermöglichte: Eisenbahn, Ozeanriesen, beginnender Flugverkehr. Strauss und seine Zeitgenossen meinten, durch heftiges Arbeiten zu "Übermenschen" im Sinne Nietzsches werden und sich so von der Enge und den Zwängen des Christentums befreien zu können. Angesichts der Großartigkeit der Natur jedoch, die sich dem Wanderer auf dem Gipfel in voller Pracht bietet, erklingt in der Alpensinfonie dann aber kein prahlerischer Freudentanz, sondern eine "Anbetung der ewigen, herrlichen Natur".
"Richard Strauss
Alpensinfonie: Vision
City of Birmingham Symphony Orchestra
Track 14"
Der Abstieg vom Berg wird in einem Zug geschildert, schneller und dramatischer als der in Szenen unterteilte Aufstieg. Die Natur ist schließlich doch stärker als der fleißigste Mensch, denn ein Gewitter, komponiert als chaotische Katastrophe, jagt ihn vom Gipfel. Auch der "Übermensch" des jungen 20. Jahrhunderts ist also trotz aller Erfindungen und Erfolge schwächer als die Natur, die nicht mehr als Idyll, sondern als potenzielle Gewalt begriffen wird. Strauss komponierte zwei Tondichtungen, die sich mit Nietzsches Philosophie beschäftigen: "Zarathustra" und "Eine Alpensinfonie". In der einen steigt der Philosoph vom Berg zu den Menschen hinab, in der anderen versuchen die Menschen, den Gipfel zu erklimmen, der im übertragenen Sinne auch für geistige Höhenflüge, Leichtigkeit des Denkens, Abgehobensein über die Niederungen des Menschlichen verstanden werden kann. Doch die Bergwanderer werden aus der Höhe in die Tiefe getrieben, der Elan und die Höhenflüge der Gründerjahre zerbrechen an den verheerenden Material- und Menschenschlachten des 1. Weltkriegs.
"Richard Strauss
Alpensinfonie: Gewitter und Abstieg
City of Birmingham Symphony Orchestra
Track 18"
Die Neue Platte – heute mit zwei jüngst beim Label Orfeo erschienenen CDs des jungen Dirigenten Andris Nelsons und seines City of Birmingham Symphony Orchestra mit Musik von Peter Tschaikowsky und Richard Strauss. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die Tschaikowsky-CD neben der 6. Sinfonie auch noch die Tondichtung "Romeo und Julia" und die Strauss-CD noch den "Tanz der sieben Schleier" aus der Oper "Salome" enthält. Im Studio verabschiedet sich Ludwig Rink.
"Peter Tschaikowsky
Sinfonie Nr. 6 h-moll, op. 74 "Pathétique", erster Satz
City of Birmingham Symphony Orchestra
Track 1"
Es war die 18 Jahre dauernde Führung durch den anfangs erst 25-jährigen Simon Rattle, die das Sinfonieorchester der britischen Stadt Birmingham in den 80er- und 90er-Jahren in den Rang eines internationalen Spitzenorchesters beförderte. Dieser Erfolg setzte sich, wenn auch weniger spektakulär, unter dem gleichfalls jungen finnischen Dirigenten Sakari Oramo fort. Die so schon fast zur Tradition gewordene Ernennung sehr junger Dirigenten fand dann ihre Fortsetzung, als im September 2008 der damals 30-jährige Andris Nelsons das Amt des Music Directors antrat. Von seinem Wirken dort kann man sich inzwischen anhand mehrerer CD-Aufnahmen einen gewissen Eindruck verschaffen, auch ohne nach Birmingham zu fahren: Strawinskys "Feuervogel" und die "Psalmensinfonie", Tschaikowskys 5. Sinfonie und das "Heldenleben" von Richard Strauss liegen bereits vor. Jetzt kommen Tschaikowskys "Pathétique" und die "Alpensinfonie" von Strauss hinzu: Das Label Orfeo und das Orchestermanagement sehen offenbar bei Nelsons eine besondere Affinität zu dieser hochromantisch aufgeladenen Musik. Und in der Tat scheint der junge Lette kein zurückhaltend-kühler Zeichengeber, sondern eher ein Feuerkopf zu sein, der keine Angst vor Emotionen hat. Sein Dirigierstil jedenfalls ist äußerst gestenreich und suggestiv; stets steht er in gespanntem Kontakt mit seinen Musikern. Immer auf der Suche nach dem Sinn des Komponierten widmet er sich intensiv jedem Motiv, jeder Linie, sorgt mit großen Gebärden für die richtige Klangbalance, die angemessene Lautstärke und für eine reichhaltige Farbpalette. Im Gespräch erklärt er, dass für ihn die Beschäftigung mit den Lebensumständen eines Tonschöpfers zur Zeit der Komposition unbedingt auch mit zur Vorbereitung einer Interpretation gehört, und er hat kein Problem damit, die einzelnen Sätze beispielsweise von Tschaikowskys "Pathétique" anhand dieser Sekundärliteratur wie Programmmusik zu deuten. So bemerkt er schon im 1. Satz dieser 6. Sinfonie deutliche Zeichen der Resignation bei ihrem Schöpfer Tschaikowsky, der bei aller Schönheit seiner Melodien weiß, dass die Träume seiner idealistischen Weltsicht niemals Wirklichkeit werden. Im 3. Satz, der oft als Spiegel des bunten, prallen Lebens gedeutet wird, tendiert Nelsons eher zu der düsteren Sichtweise, dass das berühmte Marschthema für den unerbittlichen, alles niederwalzenden Siegzug des Todes steht. Bei aller Emotionalität, die Nelsons zulässt und unterstützt, bleibt seine Interpretation doch insgesamt wohltuend sachlich: voller Gefühl, aber nicht larmoyant, temperamentvoll, aber nicht gehetzt, romantisch, aber nicht verkitscht. So gerät auch der 2. Satz, nach Nelsons Meinung ein Rückblick des Komponisten auf Kindheit und glückliche Momente, eher unbeschwert-heiter als wehmütig und damit deutlich schneller im Tempo als in anderen Einspielungen.
"Peter Tschaikowsky
Sinfonie Nr. 6 h-moll, op. 74 "Pathétique"
City of Birmingham Symphony Orchestra
Track 3"
Anders als noch bei Tschaikowsky stand im Orchester-Schaffen von Richard Strauss nicht mehr die Sinfonie oder das Solokonzert im Vordergrund, sondern die sinfonische Dichtung. Seine Stoffe bezog Strauss dabei aus der Weltliteratur oder aus der eigenen Erfahrung, was für "Ein Heldenleben", die "Symphonia domestica" oder die "Alpensinfonie" gilt.
Im deutschen Sprachraum, wo man sich mit schildernder, Geschichten erzählender Musik traditionell schwerer tut als in den romanischen Ländern, löste und löst gerade die Alpensinfonie mit ihrem teilweise recht derben Naturalismus bei Kritik und Wissenschaft immer wieder Diskussionen aus. Doch neben der vordergründigen Schilderung einer Bergbesteigung hat das Werk noch einen anderen, philosophischen Hintergrund. Zwischen den ersten Skizzen und der Uraufführung 1915 lagen 15 Jahre - für den eigentlich eher zügig komponierenden Strauss eine ungewöhnlich lange Schaffenszeit. Ein Grund hierfür war wohl, dass Strauss gerade nicht eine naturalistische Bergsinfonie schreiben wollte, sondern sich an der Gedankenwelt von Franz Liszts sinfonischer Dichtung "Was man auf dem Berge hört" orientierte. Liszt schilderte hier die Reinheit der Natur, der er die Verdorbenheit des Menschen gegenüberstellte. Diesem typisch romantischen Denken wollte Strauss sein eigenes, von Friederich Nietzsche und der Gründerzeit geprägtes Naturverständnis entgegensetzen: In den frühen Skizzen zur Alpensinfonie folgt auf die Bergbesteigung eine "Pastorale Szene" und im Kontrast dazu ein Abschnitt mit "Träumen und Gespenstern", und für den Schluss hatte Strauss einen Teil vorgesehen, der eine "Vision des neuen Menschen der Tatkraft" darstellen sollte. 1911 schrieb Strauss in sein Tagebuch: "Ich will meine Alpensinfonie: der Antichrist nennen, als da ist: sittliche Befreiung durch Arbeit, Anbetung der ewigen, herrlichen Natur." "Arbeit" ist so wie "Bergbesteigung" offensichtlich etwas Heroisches, Abenteuerliches, höchst Gefährliches. Diese Arbeitsethik war für Richard Strauss selbst wie für den Bürger der Gründerzeit allgemein das zentrale Lebensprinzip, das vorher für undenkbar gehaltene, gerade auch technische Erfolge und Abenteuer ermöglichte: Eisenbahn, Ozeanriesen, beginnender Flugverkehr. Strauss und seine Zeitgenossen meinten, durch heftiges Arbeiten zu "Übermenschen" im Sinne Nietzsches werden und sich so von der Enge und den Zwängen des Christentums befreien zu können. Angesichts der Großartigkeit der Natur jedoch, die sich dem Wanderer auf dem Gipfel in voller Pracht bietet, erklingt in der Alpensinfonie dann aber kein prahlerischer Freudentanz, sondern eine "Anbetung der ewigen, herrlichen Natur".
"Richard Strauss
Alpensinfonie: Vision
City of Birmingham Symphony Orchestra
Track 14"
Der Abstieg vom Berg wird in einem Zug geschildert, schneller und dramatischer als der in Szenen unterteilte Aufstieg. Die Natur ist schließlich doch stärker als der fleißigste Mensch, denn ein Gewitter, komponiert als chaotische Katastrophe, jagt ihn vom Gipfel. Auch der "Übermensch" des jungen 20. Jahrhunderts ist also trotz aller Erfindungen und Erfolge schwächer als die Natur, die nicht mehr als Idyll, sondern als potenzielle Gewalt begriffen wird. Strauss komponierte zwei Tondichtungen, die sich mit Nietzsches Philosophie beschäftigen: "Zarathustra" und "Eine Alpensinfonie". In der einen steigt der Philosoph vom Berg zu den Menschen hinab, in der anderen versuchen die Menschen, den Gipfel zu erklimmen, der im übertragenen Sinne auch für geistige Höhenflüge, Leichtigkeit des Denkens, Abgehobensein über die Niederungen des Menschlichen verstanden werden kann. Doch die Bergwanderer werden aus der Höhe in die Tiefe getrieben, der Elan und die Höhenflüge der Gründerjahre zerbrechen an den verheerenden Material- und Menschenschlachten des 1. Weltkriegs.
"Richard Strauss
Alpensinfonie: Gewitter und Abstieg
City of Birmingham Symphony Orchestra
Track 18"
Die Neue Platte – heute mit zwei jüngst beim Label Orfeo erschienenen CDs des jungen Dirigenten Andris Nelsons und seines City of Birmingham Symphony Orchestra mit Musik von Peter Tschaikowsky und Richard Strauss. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die Tschaikowsky-CD neben der 6. Sinfonie auch noch die Tondichtung "Romeo und Julia" und die Strauss-CD noch den "Tanz der sieben Schleier" aus der Oper "Salome" enthält. Im Studio verabschiedet sich Ludwig Rink.