Samstag, 11. Mai 2024

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"Musik und kulturelle Identität"

Holger Noltze: In Weimar geht der Kongress der Gesellschaft für Musikforschung mit dem Thema "Musik und kulturelle Identität" zu Ende, der immerhin 600 Fachleute aus 30 Ländern in die Klassikerstadt zog, und wenn man in diesen Tagen Weimar hört, denkt man natürlich gleich an die Bilder der brennenden Bibliothek und an die Nachricht, dass vor allem die Musikaliensammlung der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek betroffen ist. War das ein Thema Frieder Reininghaus?

Moderation: Holger Noltze | 20.09.2004
    Frieder Reininghaus: Auch ich bin natürlich zu dieser Unfallstelle gepilgert, aber das ist ja nicht so weit von der Weimarhalle, in der die Musikologen tagen. Das ist wirklich nur ein Katzensprung. Man sieht von außen nichts mehr außer dem Notdach natürlich und man riecht noch die Spuren dieser Katastrophe.

    Noltze: Da hingen viele Musikalien in der Luft.

    Reininghaus: Da hingen viele Musikalien in der Luft und ich glaube, um abschätzen zu können, was da verloren gegangen ist, was rekonstruierbar ist, das wird nicht in ein paar Wochen gehen. Das wird Jahre dauern.

    Noltze: Was können Wissenschaftler, Bibliothekare anderes tun als weinen?

    Reininghaus: Sie können heute versuchen, ein Fach wie die Musikwissenschaft, das in den Universitäten sehr an den Rand gedrängt worden ist und das auch bei den Sparmaßnahmen in vielen Städten ganz oben ansteht, wieder versuchen, in das Zentrum wissenschaftlicher Debatten zu steuern. Ich denke, dass es nicht nur ein geschickter Schachzug ist, sondern eine kluge Komposition war, dass dieser große Kongress, der ja nur alle paar Jahre statt findet, in Weimar veranstaltet wurde und ganz bewusst zum Schluss des neu formatierten Weimarer Kunstfestes Pèlerinages. Man konnte also als Wissenschaftler auch die letzten musikalischen Highlights dieses Festivals erleben, zum Beispiel András Schiff, der da ein riesiges Schumannprogramm noch mal aufgeboten hat und sich gleichzeitig zum Beispiel auch in Richtung der neueren deutschen Philologie orientierten, denn am Sonntag früh musste sich Durs Grünbein, der Berliner Schriftsteller, die Frage stellen lassen: Wo liegt Weimar? und natürlich mehr sagen, als dass es nur an der Ilm liegt.

    Noltze: Sind Musik und kulturelle Identität ein Gummithema, um 600 Experten drunter zu kriegen?

    Reininghaus: Ja, natürlich ein Gummithema, aber der Kern dieses Themas war ernst gemeint, es geht wirklich darum, die Wissenschaft neu zu formatieren, sie aus ihrem Spezialistentum, diesem fast krähwinkligen, herauszuführen und Professor Doktor Detlef Altenburg, der Präsident der altwürdigen Gesellschaft für Musikforschung, selbst Ordinarius in Weimar und verantwortlich für diesen Kongress, der hat auch die Zielsetzung sehr klar umrissen:

    Detlef Altenburg: Wofür tun wir das eigentlich und in welchem Kontext steht eigentlich unser Gebiet Musik, unser Gegenstand Musik, der Blick auf das Gebiet Kultur auf den gesamten Kontext Kultur ist das ja eigentlich, was uns interessiert im Zusammenhang mit der Musikwissenschaft, und dazu muss man einen gewissen Mut haben. Der Mut zur Lücke und der Mut auch, dabei zu sehr kontroversen Diskussionen zu kommen.

    Reininghaus: Historiker, Germanisten, Ethnologen, Kunstgeschichtler wurden eingeladen, um nicht nur methodisch Anregungen zu geben, sondern haben in der Regel sehr viel prägnanter gesprochen als die Musikforscher. Die Musikforschung selbst besteht eigentlich aus drei Disziplinen, die miteinander irgendwie nichts zu tun haben und es ist nie gelungen, die historische Musikforschung, die systematische Musikwissenschaft und die Ethno-Musikologie ernsthaft zu vernetzen. Die reden immer aneinander vorbei und das war natürlich auch in Weimar so. Die meisten Referenten muss ich leider sagen, ich konnte natürlich nur vielleicht 40 Referate von diesen 350 hören, das war doch weithin noch befangen in diesem Spezialistentum, auch in den Diskussionen. Wenn zum Beispiel Historiker dann angeboten haben, zu einem spannenden Thema wie Verhältnis Musik und Nationenbildung im 19. Jahrhundert da was aufzubrechen, dass das vonseiten der Musikologen eigentlich kaum angenommen wird dieses Angebot.

    Noltze: Ist man denn dem Punkt "kulturelle Identität" irgendwie näher gekommen? Denn methodisch ist ja wohl das Problem, dass Musik heute vor allem da stark identitätsbildend ist, wo die Musikwissenschaft nicht so gerne hinguckt, die lieber Beethovens späte Streichquartette beobachtet als zum Beispiel Gangster Rap.

    Reininghaus: Also Beethovens späte Streichquartette sind schon relativ out. Die Öffnung zum Journalismus, die ja sehr sinnvoll wäre, um an die Gegenwart anzuschließen, aufzuschließen zur Gegenwart, die hat bisher noch gar nicht statt gefunden. Ich denke schon, es gibt da nicht nur das Bedürfnis bei den Themen, sondern auch bei den Methoden wirklich zu lernen. Und ich habe von einzelnen Referaten, insbesondere von Historikern und Kunstgeschichtlern wirklich gelernt.

    Noltze: Es gibt zu tun. Musik und kulturelle Identität. Frieder Reininghaus über den 13. internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung in Weimar. Vielen Dank.