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Musikalischer Intelligenztest

Der deutsche Psychologe William Stern entwickelte vor 100 Jahre eine Methode zur Ermittlung der Intelligenz eines Menschen. Enno Poppes Oper "IQ" hat genau diesen wissenschaftlichen Stoff zum Thema. Sie wurde zum Auftakt der Schwetzinger Festspiele uraufgeführt.

Von Frieder Reininghaus | 28.04.2012
    Es geschieht ja nicht allzu häufig, dass ein quasi wissenschaftlicher Stoff auf die Opernbühne gelangt – und das in einer Zeit, die sich gegenüber naturwissenschaftlicher Forschung in besonderer Weise als gläubig erweist und akzeptiert, dass die Herrschaftsmechanismen von angewandter Wissenschaft wie Meinungs- und Wählerumfragen bestimmt werden.

    Marcel Bayer, Anna Viebrock und Enno Poppe haben im elementaren Sinn des Wortes ein Stück experimentelles Musiktheater auf die Bühne des Schwetzinger Rokokotheaters gebracht – eine Versuchsanordnung aus den Pionierjahren der Psychologie als Herrschafts- und Kriegswissenschaft, die just in diesen Tagen hundertsten Geburtstag feiert, projiziert in etwa die Zeit der deutschen Vereinigung. An die späten 80er- oder die frühen 90er-Jahre jedenfalls erinnern die Büromöbel, offen herumliegenden Kabelstränge und Monitoren, die Anna Viebrocks Bühneninstallation herbeizitiert.

    Auf der Bühne findet sich ein gutes Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts ein und sehen sich wartend um. Die meisten von ihnen ziehen dann weiter in den kleinen Orchestergraben, wo sie auf die im Wesentlichen gewohnte Weise an der Aufführung mitwirken (nämlich "ihre" Instrumente traktieren). Freilich stammen die meisten Probanden, die die folgenden acht Akte mit ansteigender Ausdauer den Befragungen und dem Getestetwerden unterziehen, auch aus den Reihen des Klangforums Wien. Sie kommen also unten wie oben zum Einsatz – gestützt auf einen ziemlich hinterhältigen Text von Marcel Bayer. Der führt die Rituale des Testens und die Täter/Opfer-Relationen der offensichtlichen Zumutungen wie selbstverständlich vor, auch das weitgehende Einverständnis der dem Experiment Unterworfenen. Bei denen kristallisieren sich Selbstbewusste und Eingeschüchterte heraus, Testroutiniers und Prüfungsangsthasen. Bayers Arbeit entzaubert die "Wissenschaftlichkeit" der vorgeführten Testverfahren ebenso wie die Sprache, mit der Manipulationszusammenhänge verkleistert werden – mit Sprüchen wie: "Schwierige Tests bringen Menschen einander nahe". Mit Katja Holm verfügt die Schwetzinger Produktion über eine Testerin, die das Anmaßende wie das Verklemmte der spezialisierten Psychologin mit delikater Akkuratesse vorführt.

    Enno Poppes genau fixierte kleingliedrige, stark sprachgeprägte Kammermusik eignet sich als ungemütlicher Kontrast des permanent um "Vertrauensbildung" bemühten Bühnengeschehens nicht schlecht. Noch besser freilich könnte das Projekt funktionieren, wenn die Dialoge und Monologe gesprochen würden und die Musik wie beim Melodram (oder bei Kinomusik) nur als Folie und Rahmen hinzuträte – um sich dann doch immer wieder einmal auch auf der Bühne aktiv einzumischen. ZUM BEISPIEL bei der Gehörbildungsprobe, bei der die Delinquenten Töne nachspielen müssen, die ihnen vorgespielt werden. Als bleibende Gewissheit nimmt der Zuschauer jedenfalls mit nach Hause, dass der Erfolg bei dieser Folgsamkeitsübung eines der wissenschaftlich klar bemessbaren Kriterien von Intelligenz ist.