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Musikelite in den Bergen

Das Musikfestival von Luzern präsentiert seit fast 70 Jahren nahezu alles, was in der Musikwelt Rang und Namen hat. Doch auch experimentelle Akzente werden immer wieder gesetzt. Ein Beispiel dafür ist die von Pierre Boulez geleitete und begleitete Lucerne Festival Academy, die dieses Jahr den größten Eindruck hinterließ. Dabei lernen, proben und konzertieren junge Musiker mit renommierten Künstlern.

Von Jörn Florian Fuchs | 11.09.2006
    Den stärksten Eindruck hinterließ in diesem Jahr die Lucerne Festival Academy, geleitet und begleitet von Pierre Boulez. Was hier in wenigen Jahren aufgebaut wurde, gibt es so wohl kein zweites Mal. Eine Vielzahl junger Musiker lernt, probt und konzertiert mit den renommiertesten Künstlern, in einer umfangreichen Konzertserie stellen sie sich dann dem Publikum vor, völlig gleichberechtigt neben etablierten Stars.

    Als besonders sinn- und wirkungsvoller Aufführungsort erwies sich das Kunsthaus Zug, 20 Bahnminuten von Luzern entfernt. Ein Festivalschwerpunkt war Arnold Schönberg und die Zweite Wiener Schule, passend dazu zeigt das Kunsthaus eine umfassende Ausstellung über Schönberg, Wassily Kandinsky und den Maler Richard Gerstl, der Schönberg zunächst streng ergeben war, sich dann wegen seiner unglücklichen Liebe zu Matilde Schönberg aber zurückzog - und letztlich Selbstmord beging. Nachdem er Schönbergs Musik in München gehört hatte, begann Kandinskys sehr eigene Suche nach einer abstrakten, aber dennoch spirituell-ganzheitlichen Bildsprache. Dass Musik und Malerei verwandte Künste sind, veranschaulichen Schönbergs traumverloren-düstere Gemälde zu seiner Komposition "Erwartung" oder Kandinskys Bildentwürfe, die genuin musikalische Strukturen darzustellen scheinen. Und wenn dann noch die Klänge des Pierrot Lunaire - interpretiert von den jungen Academy-Musikern - durch die Räume hallen, so atmet man wahrlich Duft von anderen Planeten ...

    Ein wichtiger Bestandteil der Luzerner Dramaturgie ist die Integration der allerneuesten Musik, sodass ein großer Uraufführungsreigen die Sinfonie- und Kammerkonzerte durchzog. Um auch dem nicht so betuchten Publikum ein paar neue Höreindrücke zu ermöglichen, wird für etliche Veranstaltungen kein Eintritt verlangt. In dieser Programmschiene erlebte man heuer etwa Werke von Pierre Boulez, Toshio Hosokawa und Matthias Pintscher, der als Composer-in-residence eingeladen war. Kannte man Pintscher bisher eher als Komponisten, der vor Lautstärke und heftigen Effekten nicht zurückschreckt, so hört man in seinen neueren Stücken eine zurückhaltendere Klangwelt, in der große Emotionen und orchestrale Wut eher subkutan, fast im Verborgenen vorkommen.

    Bei den 'großen', teuren Konzerten bewies Luzern einigen Mut, engagierte zum Beispiel den reichlich schrägen österreichischen Komponisten und Dirigenten H. K. Gruber für die Wiener Philharmoniker, die sich jenseits von Mozart oder deutscher Romantik tapfer mit Kurt Weill und George Antheil herumschlugen, um am Ende vollends im Jazz, Marke Leonard Bernstein, zu versinken.

    Einzig beim Musiktheater enttäuschte das Lucerne Festival in diesem Jahr; man gab die "Dreigroschenoper", inszeniert von Vera Nemirova, die neuerdings als Shootingstar durch die deutschsprachigen Feuilletons geistert. Warum nur, fragt man sich nach dieser Produktion.

    Auf der Bühne stehen einige Kleiderständer, darüber befindet sich ein großes Gestell, über das ein schmutziges Rohr angebracht ist - ein ungemütlicher Einheitsraum. Für etwas Abwechslung sorgen Gazevorhänge, die manchmal herunterkommen und auf denen Bibelzitate wie "Geben ist seliger denn nehmen" zu lesen sind. Nemirova setzt mit bemerkenswerter Konsequenz auf den moralinsauren Holzhammer nebst verfremdenden Scherzchen - da nimmt einer doch tatsächlich das fest verkabelt geglaubte Telefon samt langer Schnur in die Hand und geht damit - telefonierend - spazieren! Ansonsten gibt es eine nervöse Gangsterbraut Polly mit Putz- und Schluchztick, ein paar Ganoven mit Herumlauf- und Raufticks, eine ständig outrierende Misses Peachum, einen lächerlich herumhampelnden Polizeichef, einen Mackie Messer, der aus einer ARD oder RTL-Vorabendserie zu entstammen scheint sowie die verlebte Seeräuber-Jenny - letztere mit bemerkenswert mickriger Stimme.

    Vera Nemirovas Einfallsreservoir beschränkt sich auf bieder inszenierte Räkelspielchen der Damen und nervöses Gezappel der Herren. Völlig zusammenhanglos gibt es eingestreute Mini-Ideen, etwa ein ganz kurz angedeutetes Verhältnis zwischen Mackie Messer und dem Polizeichef.
    So wird Brecht hier zum mühsam-verqueren Leerstück - mit doppeltem "e" - woran auch das solide spielende Luzerner Sinfonieorchester unter John Axelrod nicht viel ändern kann.