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Musikerin und Produzentin Annette Humpe
Alles unter Kontrolle

"Ich bin eine sehr gute Handwerkerin", sagt Annette Humpe. Die in Hagen geborene Musikerin und Produzentin arbeitete mit unterschiedlichen Künstlern, darunter ihre Schwester Inga, Rio Reiser, Udo Lindenberg und zuletzt Adel Tawil, mit dem sie das Duo Ich & Ich bildete.

Von Christiane Rebmann | 17.01.2016
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    Die Musikproduzentin Annette Humpe während einer Veranstaltung in Goslar. (picture alliance /dpa /Julian Stratenschulte)
    Musik "Berlin" - Ideal
    "Es war ja von Anfang an allen klar, dass ich nicht so ein Singezahn bin, der da vorne blond vorm Mikrofon steht, sondern ich konnte Klavier spielen, ich hab Musik studiert. Ich habe die Stück geschrieben, auch für Ideal schon. Ich war eher bossy unterwegs, und ich glaube, dass auf jeden Fall die Männer mehr unter mir gelitten haben als ich unter den Männern."
    Kein Wunder, dass sich die in Hagen geborene Musikerin Annette Humpe gern als weiblichen Chauvi bezeichnet. Sie hatte bereits Klavier und Kompositionslehre studiert, als sie Mitte der 70er Jahre in das damals noch geteilte Berlin umzog. Sie verliebte sich in die Stadt und beschloss, sie zur Basis für ihre Karriere zu machen. In den folgenden Jahren war sie nicht nur als Musikerin erfolgreich - zuerst mit den Neonbabies, später mit Ideal und – gemeinsam mit ihrer Schwester Inga Humpe - unter dem Namen Humpe & Humpe. Sie profilierte sich auch als eine der Richtungsgeberinnen der Neuen Deutschen Welle.
    Nachdem ihr einziges Solo-Album 1990 gefloppt war, zog sie sich jedoch als Sängerin zurück - auch, weil sie sich als Frontfrau auf der Bühne nicht wohl fühlte. Sie konzentrierte sich lieber darauf, als Produzentin und Songwriterin Künstler zu unterstützen - sehr erfolgreich. So hat sie in den letzten drei Dekaden Kollegen wie Rio Reiser, Udo Lindenberg, Die Prinzen, Nena oder Lucilectric produziert.
    Ab 2004 machte sie zusammen mit ihrem musikalischen Partner Adel Tawil unter dem Namen Ich + Ich Furore. Ab 2011 verhalf sie dem klassisch ausgebildeten Sänger Max Raabe zu größerem Erfolg. Im selben Jahr wurde sie auch mit einem Echo für ihr Lebenswerk und ihre Verdienste um die deutschsprachige Musik ausgezeichnet. In ihrer Karriere spielten weibliche Vorbilder kaum eine Rolle.
    "Es gibt nicht so viele Frauen, die ein Instrument gespielt und auch getextet und komponiert haben. Natürlich war ich auch früher Blondie Fan, aber die war Singezahn, Sängerin, der Zeisig. Es gab wenig Vorbilder. Deswegen habe ich mich nicht so an Frauen orientiert, sondern an Männern. Meine besten Lehrmeister sind die Beatles, weil ich alles nachgespielt hab auf dem Klavier, mit meiner Schwester zweistimmig gesungen. Und da habe ich das Meiste gelernt, was ein guter Song ist."
    Annette Humpe wuchs in Herdecke und Bad Pyrmont auf. Ihre Eltern waren Konditoren und betrieben ein Café. Von ihnen lernte sie das harte Arbeiten, sagte sie später.
    Musik "Krönung" - Neonbabies
    Musik "Blaue Augen" - Ideal
    Annette Humpe verabschiedete sich 1980 wieder von den Neonbabies, um die Band Ideal zu gründen. Das Quartett schaffte mit dem schon in der Neonbabies Phase entstandenen Song "Blaue Augen" den Durchbruch. Humpes lakonischer, manchmal schnoddriger Gesang war das Markenzeichen von Ideal. Kurz nachdem Annette Humpe von den Neonbabies zu Ideal übergewechselt war, verließ auch ihre Schwester Inga die Neonbabies und verfolgte ihre eigenen Projekte. Seit dem Jahr 2000 ist sie mit ihrer Formation 2Raumwohnung erfolgreich. Doch die beiden Musikerinnen arbeiteten auch immer wieder zusammen. Unter anderem ab 1985 als Duo Humpe & Humpe. Annette Humpe hat die Kooperation mit ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester immer sehr geschätzt.
    "Das ist alles total auf Augenhöhe. Ich kenne keine andere Frau, mit der ich so einfach kommunizieren kann, was Musik angeht. Und ja, Zweiraumwohnung ist natürlich tanzlastiger, das liegt ihr auch mehr. Sie ist auch viel mehr in Clubs gegangen als ich. Und außerdem ist es ja auch gut, dass jeder so seine Wiese beackert. 2Raumwohnung eben Dance und Clubs, und Ich & Ich wird eben überhaupt nicht in Clubs gespielt, sondern mehr privat oder im Radio."
    Früher hätten sie sich hier und da exzessiv gestritten, gibt sie zu.
    "Haben wir gemacht, also so auch, bis das Blut fließt, verbal. Das würden wir nicht mehr machen, weil wir niemanden verletzen wollen."
    Die Spannungen, die durch die extreme Nähe entstanden, förderten aber auch die Kreativität, sagt die zierliche blonde Musikerin. Das hört man auf dem Humpe & Humpe Album.
    "Da ist bestimmt beides drin, die Spannung und die Nähe, die wir haben."
    Musik "Geschrien im Schlaf" - Humpe & Humpe
    Inga und Annette Humpe waren auch Mitglieder bei DÖF - Kurzform für Deutsch österreichisches Feingefühl - und sangen im Neue Deutsche Welle Hit "Codo" mit. Die Musik und in geringem Maße auch den Text hatte Annette geschrieben und produziert.
    "Codo, Tauchen Prokopetz waren ja zwei österreichische Comedians, und das ist eigentlich das einzige Projekt, in dem Humor eine große Rolle gespielt hat. Sonst war das ja mehr serious, meine Texte, waren die Stücke mehr ernst."
    Auch wenn ihre Texte oft einen gewissen Wortwitz enthielten – ironisch oder witzig gemeint seien sie nie gewesen, sagt sie. DÖF dagegen sprachen zumindest mit ihrer Single "Codo" auch die Zielgruppe innerhalb der Neue Deutsche Welle Fans an, die sich darüber definierte, dass sie vor allem Spaß haben wollte.
    "'Codo', der Text ist nicht von mir. "Ich düse im Sauseschritt", das ist von den Tauchen Prokopetz und von mir ist der Part "hässlich, ich bin so hässlich", weil ich dachte, man muss einen Gegensatz schaffen.
    Musik "Codo" - DÖF
    Annette Humpe hatte der Neuen Deutschen Welle wichtige Impulse gegeben. Sie galt als eine ihrer Vordenkerinnen. Dass ein Teil dieser Bewegung in die Spaßmusikrichtung abdriftete, gefiel ihr nicht. In den 80er Jahren sei die Stimmung in der Gesellschaft doch insgesamt nicht optimistisch gewesen, sondern eher panisch, und das zu Recht, sagt sie.
    "Ich finde, das war mehr No Future, und dass man Angst hatte vor einem Atomkrieg. Ich fand das eher das Gegenteil von der Neuen Deutschen Welle. Als die so schlagermäßig und spaßmäßig wurde, das ist ja mehr was, was von den Plattenfirmen gefeatured wurde und auch gepflanzt und gedüngt und geerntet. Ich gehöre nicht zu dieser Spaßgesellschaft. Ich finde auch, Ideal hatte keine Spaßstücke, die locker lustig waren."
    Dass sie damals für sie ungünstige Plattenverträge abschloss, sieht sie heute nüchtern. Es sei ihr nicht ums Geld gegangen, sondern vorrangig darum, dass sie die Möglichkeit bekam, ihre Musik aufzunehmen.
    "Damals kostete ein Studiotag 3.000 Euro, also ein gutes 24Spur-Studio. Und dann war man froh, dass die Plattenfirma das gezahlt hat. Das hätte ich mir nicht erlauben können. Heute ist die Technik so günstig. Da haben die Leute das ganze Equipment in der Küche stehen und können ihre Platten machen. Aber damals ging das nicht. Da musste man eine Plattenfirma haben, die 100.000 Euro vorstreckte, dass man das Album machen konnte.
    Wenn man der Plattenfirma nicht gefiel bei einem Liveauftritt und die gesagt haben: "Mit dir machen wir keine Platte", ja, dann gab's keine."
    Unwohl auf der Bühne
    Sie selbst begann schon früh, sich auf der Bühne unwohl zu fühlen. Deshalb verzichtete sie auf Live Konzerte, mit Ausnahme einiger Auftritte mit Ich & Ich in den 2000er Jahren.
    "Ich bin nicht mehr aufgetreten, weil ich finde nicht, dass ich das gut kann. Ich kann gut Songs schreiben und arrangieren und Konzepte machen. Aber ich war nie glücklich mit meiner Stimme. Und ich finde, dass ich mich nicht gut bewege. Ich bin wirklich keine Rampensau, sondern möchte am liebsten mit dem Rücken zum Publikum stehen."
    Sie arbeitet lieber im Hintergrund, setzt ihr Talent, ihr Wissen und ihre Erfahrung ein, um anderen Künstlern zu helfen. So unterstützte sie 1984 den Ex Ton Steine Scherben-Sänger Rio Reiser beim Start seiner Solokarriere. Ihr verdankte es der 1996 verstorbene Künstler in hohem Maße, dass das Debüt "Rio I" ein Verkaufshit wurde und dass er so die in der Ton Steine Scherben Zeit angehäuften sechsstelligen Schuldenbeträge abzahlen konnte. Humpe und Reiser waren auch im politischen Sinne Geschwister im Geiste.
    "Rio Reiser ist mein Lieblingstexter. Zum Beispiel der Anfang von "Bye Bye Junimond": "2000 Stunden habe ich gewartet. Ich habe sie alle gezählt und verflucht." Der ist unheimlich poetisch gewesen. Und der konnte in einem Satz das Wort Blume und auch Kacke singen, und das passte, und man hat sich nicht gewundert."
    Musik "Junimond" -Rio Reiser
    1990, ein Jahr nach dem Fall der Mauer, produzierte Annette eine ostdeutsche Gruppe namens Herzbuben, die sich ein Jahr später in Die Prinzen umbenannte und mit Hits wie "Küssen verboten" zu einer der erfolgreichsten gesamtdeutschen Bands avancierte. Bei der Arbeit seien zwei Kulturen aufeinandergeprallt, erzählten die Prinzen kürzlich in einer TV Dokumentation. Annette Humpe habe ihre Ideen immer wieder mit dem Einwand abgelehnt: "Mit dem, was ihr euch da ausgedacht habt, können die Wessies gar nichts anfangen."
    "Ja, das war ja auch so. Das war direkt nach der Wende, da wollten die ein Lied machen, das hieß mein Käfer, weil der Sebastian davon träumte, eben so einen VW Käfer zu haben. Und dann habe ich gesagt: "Dann sing doch über ein Fahrrad. Hier würde man das lustig finden, über ein Fahrrad zu singen." Ja und dann haben die mir vertraut und das so gemacht, wie ich's wollte."
    Musik "Mein Fahrrad" - Prinzen
    In der Doku erzählten die Prinzen auch, sie hätten Annette Humpe gern provoziert, indem sie nach den Aufnahmen abends im Studio noch ein paar Texte schrieben, die ihrer Meinung nach anstößig waren. Die legten sie ihr dann am nächsten Morgen vor.
    "Ja gut, Da bin ich ja mit allen Wassern gewaschen, also, da kann man mich nicht schocken."
    Humpe hatte schon in den 80er Jahren kein Problem, sich in der Männerdomäne Musikbusiness zurechtzufinden.
    "Nee, ich fand das nicht schwierig. Ich fand das immer einen Vorteil, eine Frau zu sein. Das finde ich immer noch, auch in der Branche. Ich war ja gut ausgebildet, und ich dachte: Ein Typ kann mir so schnell nix erzählen. Das stimmt auch."
    Ihre Bestimmtheit sei zwar sehr zielführend in ihrer Arbeit, doch im Privatleben steht sie ihr oft im Weg, gibt sie zu.
    "Ich kann, wird mir nachgesagt, sehr rechthaberisch sein. Und das möchte ich auch ablegen, weil das macht ja auch nicht glücklich. Und in einer Beziehung ist es nicht gut. Meine Beziehungen sind ja auch gescheitert. Wenn ich aus dem Studio komme, und ich hab den ganzen Tag "Geradeaus, links rechts, so wird's gemacht," gesagt, und ich komm dann nachhause und sag wieder "links jetzt aber," oder "jetzt aber das," das findet der andere nicht gut. Dafür ist ja Yoga und sein Ego ein bisschen den Ball flach halten glaub ich ganz gut."
    Für den Sohn auf Aufträge verzichtet
    Ihren Sohn Anton, der 1992 auf die Welt kam, hat sie allein groß gezogen. Sie habe dafür hier und da auf interessante Aufträge verzichtet, erzählt sie.
    "Ich kriegte eine Anfrage vor 20 Jahren aus Japan. Da gab es einen Sänger, der alles von mir hatte und sich wünschte, dass ich ihn produziere. Das hätte aber in Japan sein müssen. Und da war mein Kind zwei Jahre alt, und das hätte ja auch dann zwei oder drei Monate gedauert. Und dann dachte ich: Ach ne, das möchte ich jetzt nicht, den armen Anton in einen japanischen Kindergarten, wo er nix versteht. Und dann habe ich das nicht gemacht, dann habe ich das abgesagt. Aber das wäre bestimmt ne interessante Erfahrung gewesen."
    Anton wurde als Neunjähriger von einem Autofahrer umgefahren, erlitt schwerste Kopfverletzungen und lag wochenlang im Koma. Annette kämpfte jahrelang für und um ihn. Mit Erfolg. Heute studiert er in Bamberg und macht Musik, wie sie. Sie kann inzwischen verstehen, warum ihre Eltern beunruhigt waren, dass sie in den 70er Jahren ihr Studium abbrach, um eine – ihrer Meinung nach - dubiose Karriere als Popmusikerin einzuschlagen. Sie fanden sich erst damit ab, als Humpe erste Erfolge verzeichnen konnte.
    "Da waren die natürlich stolz. Eltern waren ja damals auf jeden Fall sofort beruhigt, wenn das Kind erfolgreich war, weil im Fernsehen nach ihrem Geschmack nur erfolgreiche Leute waren. Und dann haben sie gesagt: Tut uns leid, wussten wir ja auch nicht. Und es stimmt ja auch, es gab ja auch keine Ausbildung für das, was ich dann machen wollte. Und es hätte ja auch schief gehen können. Ich habe ja auch damit gerechnet, dass mich das vielleicht nicht so gut ernährt, wie es das heute tut, sondern dass ich kellnern muss und ab und zu in einer Band spiele und mich das eben nicht ernährt. Da habe ich Glück gehabt, mit Ideal zum Beispiel, da hatte ich meinen Fuß in der Tür."
    Gibt es einen anderen Beruf, von dem sie sich vorstellen kann, dass sie in ihm glücklich geworden wäre?
    "Psychologin. Es macht mir auch Spaß zu analysieren. Ich wäre auch gern Analytikerin geworden. Ich bin auch sehr gern selber auf die Couch gegangen und habe selber sehr viel Therapie gemacht. Ich fand das interessant, und das hat mir auch geholfen.
    Alle Erkenntnisse habe ich ja in meine Texte fließen lassen. In "Warum kann ich dich nicht trösten" bei Ich + Ich, aber im Prinzip fließt das überall ein."
    Musik "Trösten" - Ich + Ich
    Der Song "Trösten" stammt aus dem zweiten Album von Annette Humpe und Adel Tawil. "Vom selben Stern" gehört mit über einer Million verkauften Einheiten zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Popalben der letzten Dekade. Annette Humpe war dem 28 Jahre jüngeren Musiker Adel Tawil, Sohn eines Ägypters und einer Tunesierin, bei Aufnahmen für ein anderes Projekt im Studio begegnet und vom ersten Moment an von seiner Stimme fasziniert gewesen. Tawil hatte schon Erfahrungen mit der Boygroup The Boyz gesammelt.
    "Ja, aber der hatte noch nicht so auf Deutsch gesungen, und musste erstmal ein Gefühl dafür kriegen oder eine Sicherheit bekommen, dass das schön ist auf Deutsch für ihn und auch dass das emotionale Texte sind. Der war ja mehr - in seiner Band vorher war das Fashion und dass man dazu tanzt und so Teeniezeug. Und jetzt waren das ernsthafte Texte. Er war am Anfang vielleicht ein bisschen unsicher, ob das seins ist. Dann war aber schnell klar, dass das gut geht."
    Dass das gut ging, lag auch daran, dass Humpe eine versierte Songschreiberin ist, die sich auch gut auf ihre Kollegen einstellen kann. Braucht sie eine bestimmte Umgebung, um Ideen zu finden?
    "Die Ideen kommen mir am besten in der Bewegung, also auf dem Fahrrad, in der U-Bahn oder so. Und handwerklich sitz ich in der Küche und schreib das in der Küche."
    "Wie schreibst du?"
    "Mit der Hand. Erstmal schreib ich. Ich hab ein kleines Piano in der Küche, und daran schreib ich die Texte. Ja, ich fang ja immer erst mit dem Text an. Melodien, die flattern durch den ganzen Kosmos, die kann man so einfangen wie die Schmetterlinge. Aber ein guter Text, das ist schon Arbeit. Manchmal spiele ich damit rum, und dann habe ich eine schöne Textzeile, und dann nehme ich erstmal die Satzmelodie, die der Text hätte und mach die ein bisschen größer. Zum Beispiel "Du erinnerst mich an Liebe": "Du erinnerst mich" geht nach oben, "an Liebe" (singt): "Du erinnerst mich an Liebe", Liebe geht runter. So hat, wenn man das spricht, auch die Sprache hat je ne Melodie. Und manchmal vergrößere ich das. Manchmal überleg ich mir: Wie würde David Bowie das machen? Wie würde Robbie Williams das singen, und wie würden die Beach Boys das singen? Und dann spiele ich damit rum, und mit einem Mal weiß ich, wie ich es mache."
    Musik "Du erinnerst mich an Liebe" - Ich & Ich
    "Ich bin eine sehr gute Handwerkerin, ich komme auch aus einem Handwerkerhaushalt."
    Das Handwerk allein reicht allerdings nicht, sagt Annette Humpe. Sie muss auch in einer bestimmten Stimmung sein, um einen guten Song schreiben zu können.
    "Das geht nicht immer und überall. Ich muss eine Idee haben, und es muss mir was geschickt worden sein, zum Beispiel, wie ich den Satz plötzlich hatte: "Küssen kann man nicht alleine." Und ich dachte: Ach, das ist eigentlich schön für Max Raabe. Und dann ist der Rest Handwerk. Aber ohne diese Zeile würde mir auch mein Handwerk nichts nützen."
    Musik " Küssen kann man nicht alleine " - Max Raabe
    Nach drei erfolgreichen Alben legte die Berliner Musikerin Ich + Ich erstmal auf Eis und widmete sie sich dem 1962 geborenen Sänger Max Raabe. Er hatte mit seinem Palast Orchester Songs im Stil der 20er und 30er Jahre gesungen und wollte nun ein Soloalbum aufnehmen. Die Arbeit an "Küssen kann man nicht alleine" war eine ganz besondere Herausforderung für sie, erinnert sie sich.
    "Ich hatte noch nie mit einer ausgebildeten Stimme gearbeitet. Der Max hat ja richtig eine Gesangsausbildung. Der ist ja praktisch eine Art Opernsänger. Der kann ja richtig schmettern, der kann Arien singen. Der bleibt ja unter seiner Leistungsgrenze, wenn wir arbeiten. Und das fand ich schön, das hat mir Spaß gemacht. Die Texte müssen dann ganz anders sein, als wenn man mit einer rauen verrauchten, dreckigen Stimme arbeitet. Max wollte auch gern texten. Und es war immer so, dass ich den Chorus gemacht habe, die Geschichte vorgetragen habe und dass wir dann die Strophen gemeinsam getextet haben."
    Es gefiel ihr, mit ihm beim Texten aus gewohnten Denkmustern auszubrechen und so beispielsweise die Zeile "Für Männer ist das kein Problem" in "Für Frauen ist das kein Problem" umzuwandeln.
    "Naja, für Männer ist das kein Problem, das ist ja nicht lustig und auch nicht wahr, irgendwie - wir Frauen müssen doch die ganze Zeit Multitasking machen und alles auf einmal machen.
    Ich finde schon, dass es doch mehr Frauen gibt in der Doppelbelastung Beruf und Kind als Männer."
    Musik " Für Frauen ist das kein Problem" - Max Raabe
    Annette Humpe hat mit sehr unterschiedlichen Künstlern gearbeitet, und sie hat es immer geschafft, sie zu dirigieren, ohne sie zu verletzen.
    "Wir ziehen ja am gleichen Strang. Wir wollen das Beste rausholen. Und ich werde ja den Sänger nicht verletzen, wenn ich möchte, dass der besonders intensiv singt. Ich kenne die Person dann ja schon, und ich weiß, wie ich das Beste aus ihr rausholen kann."
    Bei der Arbeit konzentriert sie sich auf die Musik. Die technischen Belange delegiert sie an andere.
    "Ja, dann geh ich in ein richtiges Profistudio und hab dann meine Leute, die schnell sind am Computer und das mit mir aufnehmen. Ich finde das gut, dass ich mich nicht um die technischen Dinge kümmern muss. Ich kann mich die ganze Zeit auf mein Gefühl verlassen und das immer wieder hören und prüfen: Stimmt das? Ist das gut so? Ist da ein Spannungsbogen? Und wenn man immer aufnimmt, dann ist die Aufmerksamkeit eben auch bei der Technik. Ich arbeite immer mit einem sehr guten Toningenieur, und alle, die im Studio sind, produzieren in irgendeiner Weise mit. Wenn jemand sagt: "Die Basslinie gefällt mir nicht", dann wird sie nicht genommen. Dann suchen wir so lange, bis wir eine haben, die allen gefällt, dem Künstler, sie muss dem Toningenieur, dem Sänger und mir gefallen, und dem Bassisten. Aber ganz oft habe ich auch die Basslinien eingespielt auf dem Keyboard. Ich hab die Verantwortung, und ich mach das Konzept und den Stil. Aber dann ist es auch eine Zusammenarbeit."
    Wie es mit Ich & Ich und Max Raabe weitergeht, ist noch nicht klar. Annette Humpe setzt auf Abwechslung. Sie braucht den Kick des Neuen.
    "Ich langweile mich ganz schnell, und ich mag auch keine Routine, zumindest nicht in der Musik. Ich hab festgestellt: Nach dem dritten Album spätestens empfinde ich das als Routine, und dann ist der Stil klar und alles, und so wird es gemacht. Und die Plattenfirma hat schon eine Erwartungshaltung. Außerdem hat das was mit Überfluss und Mangel zu tun. Man hat in einem Projekt meinetwegen ganz viele Chöre gesungen und nicht so viel Wert auf den Rhythmus gelegt. Und dann hab ich die Sehnsucht, das bei dem nächsten Projekt umgekehrt zu machen. Oder ich hatte eine sehr schöne Stimme, dann möchte ich danach mit einer rauen Stimme arbeiten, damit ich mich nicht langweile. Und jetzt suche ich nach einer Stimme, die sehr rau ist und gelebtes Leben hat, weil man dann auch wieder ganz andere Geschichten erzählt. Die habe ich aber noch nicht gefunden."
    "Tom Waits?"
    "Sowas. Oder Leonard Cohen. Ich möchte gerne eine Platte machen mit einem richtig alten Sack."
    Sie sei ständig auf der Suche nach Ideen, sagt sie und verrät: "Ich sammle meine Ideen in Form von wahren Sätzen, die ich in einem Heft notiere".
    Welches war der letzte wahre Satz, den sie in ihr Heft geschrieben hat?
    "Mein letzter wahrer Satz, das möchte ich jetzt noch nicht sagen, haha, das ist unveröffentlicht und für Udo Lindenberg geschrieben, und das kann ich jetzt noch nicht sagen."
    Mit Udo Lindenberg hat sie früher schon zusammen gearbeitet, unter anderem für den Song "Ein Herz kann man nicht reparieren". Was verbindet die beiden heute?
    "Dass wir beide alt sind. Ich kenne ihn über 30 Jahre, und das ist ja was Kostbares. Wir kannten uns eben schon, als wir jung waren. Und wir haben einen ähnlichen Musikgeschmack. Und er groovt gut. Und ich finde, er hat tolle Texte geschrieben, und halt, das ist unser Udo."
    Udo Lindenberg kündigte kürzlich in einem Interview an: "Annette und ich sind ja noch jung. Von uns kann man noch einiges erwarten."
    Auch mit ihrer Schwester plant Annette Humpe wieder eine gemeinsame Platte. Ansonsten möchte sie ihr Pensum reduzieren.
    "Es ist auch so, dass ich so viel, wie ich früher gearbeitet habe, nicht mehr arbeiten möchte. Ich möchte auch nicht mehr jedes Jahr ein Album raushauen, das ich getextet, geschrieben und produziert habe. Im Moment möchte ich viel reisen, lesen und ab und zu mal für Kollegen ein Lied schreiben. Es sei denn, es begegnet mir jetzt die Megastimme, die mich inspiriert. Dann muss aber auch eine Person sein, die weiß, wofür sie steht und was sie erzählen möchte."
    Sie vermisst Kollegen wie Rio Reiser, der vor allem in der Ton-Steine-Scherben Zeit mit seiner Musik sehr explizit politische Missstände anprangerte.
    "Ich frag mich, warum es keine Politikbands gibt mehr."
    "Vielleicht wär das ein gutes Projekt?"
    "Ich glaube, so eine Politband, die muss echt jung sein und respektlos, sonst ist das Liedermacherzeug. Und das haben wir ja. Alte Männer, die politische Lieder singen, haben wir doch. Jetzt müssen die Jungen wirklich respektlos sein. Und dafür bin ich zu alt. Meine Qualität ist Erfahrung und Knowhow. Aber ich kann jetzt nicht mehr aggressiv sein und respektlos. Das ist doof. Wenn man alt ist, kommt das komisch. Ich weiß nicht, ob die dann nicht auch einen jungen respektlosen Produzenten verdient hätten."
    Die deutsche Popmusik klingt heute angepasster als früher, beschwert sie sich. Sie führt das auf den kommerziellen Druck zurück.
    "Vielleicht zum Teil, dass die Leute denken, dann kommen sie nicht ins Radio, dann wollen die Plattenfirmen sie nicht. Ich glaube, die Plattenfirmen signen alles, was nicht bei Drei auf dem Baum ist, wenn es irgendwie nach Geld riecht. Und ich glaube, dass eine Politband sogar sehr viel verkaufen könnte, weil sich Menschen danach sehnen, dass Bands einen politischen Inhalt haben. Und wenn es erfolgreich ist, dann spielt auch das Radio mit."
    Musik "Macht nichts" - Annette Humpe
    Am 28. Oktober 2015 wurde Annette Humpe 65. Sie hatte schon mit 40 lamentiert, dass sie sich steinalt fühlte.
    "Mit 18 schon manchmal. Ja, also lustig finde ich das nicht, das hört sich schon nicht schön an. Wahrscheinlich denke ich, wenn ich 70 bin: hey das war ja toll, als ich 60 wurde."
    Es gibt auch keine Kollegen, an denen sie sich orientieren könnte oder möchte.
    "Naja, die jetzt schon alt und immer noch dabei sind, sind doch alles Männer. Ich kann mich doch nicht an Mick Jagger orientieren. Haha, ne, ich bin auch nicht jemand, der sich an anderen orientiert. Ich bin auch gururesistent. Es ist nicht so, dass ich denke, ich muss jemanden finden, der mir sagt, wo es lang geht. Ich muss meinen Weg finden."
    Vor einigen Jahren hatte die Musikerin öffentlich davon geträumt, in eine WG auf dem Land zu ziehen. Doch sie lebt immer noch in Berlin.
    "Ich finde, das ist meine Stadt, Berlin. Ich wohn ja am Lietzensee. Ich geh da in die Cafes, und das ist ein Super Kiez, den ich da hab, und viele Freunde von mir wohnen da ja. Und ich hab eine tolle Wohnung. Mir geht's schon sehr gut. Ich kann mich nicht beklagen."
    "Geld ist für mich gefrorene Energie", hat sie mal gesagt. "Der Mangel ist mir heute lieber als der Überfluss. Auch deshalb legt sie keinen Wert darauf, ein Auto zu haben."
    "Nee, ich brauche keine Statussymbole. Ich fahr auch ganz normal U-Bahn und S-Bahn und Bus."
    Sie bleibt dabei meist unbehelligt. Sie wird inzwischen nur noch selten erkannt.
    "Besonders, wenn man nicht im Fernsehen ist, lässt das total nach. Es ist so, dass mich Leute manchmal lange und intensiv angucken und dann tuscheln, und dann weiß ich schon: Die haben mich erkannt. Aber das war mehr, als ich noch Fernsehen gemacht hab, oder wenn ein Film von mir gelaufen ist. Da ist dann schon mal jemand gekommen: "Was, du musst U-Bahn fahren? Kannst du dir kein Taxi leisten?"
    "Fernsehen ist oll"
    Nicht nur wegen der Anonymität hat sie bisher alle Angebote abgelehnt, als Jurorin in einer Casting Show aufzutreten.
    "Weil ich Fernsehen oll finde. Ich möchte kein Teil der Fernsehunterhaltung sein."
    Sie findet es unerträglich, wenn Kollegen, die sie bisher für authentisch gehalten hatte, ihren guten Ruf auf diese Art verspielen. Dafür sei ihr auch die Zeit zu schade, sagt sie. Lieber hält sie sich regelmäßig Stunden frei, um sich aus einem guten Buch Anregungen oder das Gefühl von Verständnis zu holen.
    "Zuletzt Karl Ove Knausgaard find ich gut, da habe ich mir grad das letzte geholt. "Träumen". Der ist unglaublich aufrichtig, und man wird so reingezogen in seine inneren Zweifel und Verzweiflungen. Und zwischendurch ist es auch banal, und man trinkt 19 Tassen Tee mit ihm. Das wird genau beschrieben. Aber das zieht mich unheimlich an, und ich kenne ganz viele der Gefühle, die er beschreibt."
    An ihrem Beruf schätzt sie heute vor allem die kreativste Seite, das Songschreiben.
    "Ja, Songwriting ist schon auch etwas Meditatives, weil man auch abgelenkt ist von sich selber, weil man dann in einer anderen Welt ist und glücklich und los gelöst, also so wie ein Kind das spielt und seine Umgebung vergisst."
    Musik hat eine visuelle Komponente, sagt Annette Humpe. Und obwohl sie sonst darauf besteht, dass sie gururesistent ist, zitiert sie jetzt einen verstorbenen Produzentenkollegen, der ihr zu Ideal-Zeiten half und an dem sie sich stets orientiert hat.
    "Das ist ein Satz von Conny Plank, von dem ich viel gelernt habe: "Jeder gute Popsong ist wie ein Polaroid." Die Inhalte bleiben ja immer die gleichen, die getextet werden in den Popsongs. Es geht immer entweder um Liebe, Verlassenwerden, Tod, Sex. Aber die Bilder und die Sprache verändern sich. Und es ist genauso wie - es hat Millionen Fotografen gegeben, die eine Frau auf einem Stuhl fotografiert haben. Aber trotzdem muss man dann wieder eine Position finden, die man noch nicht gesehen hat. Das ist eben möglich."