Freitag, 19. April 2024

Archiv

Musikfestival in Montepulciano
Laien und Profis auf Augenhöhe

Die Kleinstadt Montepulciano in der Südtoskana war für den deutschen Komponisten Hans Werner Henze ein idealer Ort für ein neues Festival, in dem Laien und Profis von einander lernen sollten. Vor allem wollte er Kinder und Jugendliche stärker an der Musik beteiligen. Denn er glaubte, dass Laien und Profis sich gegenseitig befruchten können.

Von Bernhard Doppler | 26.07.2016
    Der deutsche Komponist Hans Werner Henze sitzt an einem Klavier
    Gründer des Cantiere-Festivals: Der verstorbene deutsche Komponist Hans Werner Henze (picture alliance / dpa)
    "Icarus/ Icarus": eine Kammeroper über Terrorismus und Medien, uraufgeführt im alten Theater der südtoskanischen Kleinstadt Montepulciano. 16 Musiker und 11 Stimmen. Das Libretto und die Inszenierung von Keith Warner. Der britische Komponist David Blake, vor über 50 Jahren Schüler von Hanns Eisler in Ostberlin, versteht sich als politischer Künstler. Im Mittelpunkt von "Icarus/ Ikarus" eine Journalistin, gesungen von der Sopranistin Verena Gunz. Darf sie sich als Kriegsreporterin auf ein Angebot der Terroristen, ein Interview mit ihnen zu führen? Welche Stimmen sind wahr?
    "Die arme Frau wird von den Widersprüchen um sie herum zerrieben. Sie ist angezogen von diesem sehr attraktiven Mann. Ist er Freiheitskämpfer oder ist er Terrorist? Sie muss wählen, welche Bezeichung richtig ist. Halb ist sie überzeugt von ihm und beginnt sich daher zu fragen, was ist die Wahrheit. Aber dieses Problem haben wir ja alle! Wir lesen die Zeitung, sehen das Fernsehen. Der Chor zeigt: Alles ist Lüge."
    Aktuelle Schwerpunkte
    Opfer oder doch Täter - man wird auch aus den Stimmen der Figuren im Chor, dem Chor der Zeugen, der "witnesses", nicht schlau. Medien - Musik aus dem Radio, aber auch ein Aufnahmegerät - spielen eine wichtige Rolle. Interviews nämlich werden während der Handlung produziert, und in der Folge wieder eingespielt und dabei von den Akteuren neu kommentiert. Roland Boer, seit einem Jahr alleiniger künstlerischer Leiter, hat nicht nur "Icarus" in Auftrag gegeben, er ist in Montepulciano fast Tag für Tag mit als Dirigent tätig und hat dem Cantiere dabei auch einen thematischen Schwerpunkt gegeben:
    "Wir haben im letzten Jahre begonnen mit Krieg und Frieden, dieses Jahr ist die Thematik Natur und Technik und wir werden im nächsten Jahr diese Dreiheit beschließen mit contemplazione und estasi, also Nachdenken und Exstase. Was unsere Programmierung anbetrifft, gibt es eine große Hommage an die Natur, wie sie beispielsweise beim Betrachten von Natur in der "Pastorale" von Beethoven zum Ausdruck kommen, aber eben auch im Abschlusskonzert, was ich eben ganz bewusst unter dieses Motto gestellt habe, dann der Einzug der Technik durch die Dampfmaschine, wir haben also von Honegger "Pacific 231" im Programm, wir werden von Pizzini ein wunderbares Trittico aufführen."
    Festival und Werkstatt
    Nicht Festival, sondern Baustelle, Cantiere heißen die 16 musikalischen Tage in Montepulciano, 1976 von Hans Werner Henze gegründet. Ein "Anti-Spoleto" nannte er es immer wieder. Denn während in Spoleto viel Geld gemacht wird und ein betuchtes Festspielpublikum kommt, verzichten in Montepulciano die Künstler auf ihre Gage. Henzes Utopie ist auch 2016 noch zu spüren. Der Komponist Detlev Glanert ist seit 1989 in verschiedenen Rollen - lange Jahre auch als künstlerischer Leiter - immer dabei gewesen:
    "Es ist in gewisser Weise eine ganz geniale Verbindung, weil Henze daran glaubte, dass die Laienmusiker und die Professionellen sich gegenseitig befruchten können, und daran glaube ich auch ganz fest. Denn er sagte immer, die Laien lernen von den Professionellen Routine, wie man etwas auf höheres Niveau bringt, und die Professionellen lernen von den Laien die Demut und die Hingabe an eine Sache, die schnell im Berufsleben verloren geht. Letztendes ist das Cantiere immer ein Projekt gewesen, und zwar für die Leute hier, man muss das Cantiere immer mit der Musikschule sehen. Henze hatte ja den utopischen Traum von einer Stadt, die sich den Künsten ganz hingibt."
    Musterbeispiel für diese Arbeit ist nicht nur die von Henze für Montepulciano geschriebene Oper "Pollicino", in der nicht nur Kinder verschiedener Altersklassen singen, musizieren, malen, sondern im Chor auch deren erwachsene Angehörige mitwirken. "Pollicino" wird dieses Jahr wieder neu inszeniert, ebenso wie Henry Purcells "Dido und Aneas", ebenfalls ursprünglich für ein Mädcheninternat komponiert, und in der Renaissance-Basilica San Biago vom studentischen Modus Ensemble Roma vorgeführt, inszeniert von Michael Kerstan, dem Leiter der Hans-Werner-Henze-Stiftung. Aber auch die in Monepulciano ansässige Kölner Musikhoschule ist vertreten. Detlev Glanert:
    "Henze hatte an eine Weiterführung der Musikschule gedacht, wo ganz superprofessionelle Kurse stattfinden auf allerhöchstem Niveau. Er hatte auch die Idee, dass es auch für Bühnenbild gilt und Libretto und so weiter. Und der erste Schritt war, dass die Kölner noch zusammen mit Henze diesen Schritt unternommen haben, diesen Palazzo Ricci gepachtet haben."
    Erinnerung an Festivalgründer
    Des 90. Geburtstags von Hans Werner Henze wird 2016 in Montepulciano augiebig gedacht, mit dem Vorspiel ganz junger Klavierspieler vor Ort genauso, wie mit hochprofessionellen Musikern. Für Blasmusik und ambitionierte Computermusik des Kölner Instituts gleichermaßen versammeln nach Mitternacht sich die Zuhörer auf dem Piazza grande oder in den Gärten der Festung. Manches in dem äußerst vielschichtigen umfangreichen Programm ist mit ein wenig Geduld und Nachsicht zu hören, manches erstaunt und fasziniert plötzlich, etwa wenn Henzes Sonatine für Trompete oder Maurico Kagels Phantasiestück für Flöte und Klavier erklingen. Michael Kerstan, der auch aus der Hinterlassenschaft Henzes Henzes Bildersammlungen und nächstes Jahr auch dessen eigene Aquarelle zeigen wird:
    "Henze war ja ein sozialistischer Künstler in dem Sinne, dass er sich nicht selber als Fels in der Brandung sah, sondern sich immer die Partner, mit denen er arbeitete, als gleichwertige Kollegen auf Augenhöhe gesehen hat, egal, ob die jung oder alt waren berühmt oder unbekannt waren, das war ihm völlig egal, es ging ihm immer um den Augenblick."