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Musikgeschichte
Das Phänomen der italienischen Dirigenten

Mit Arturo Toscanini hat Italien das Idealbild des "Maestro" am Dirigentenpult hervorgebracht. Um ihn drehen sich auch viele Beiträge in einem Sammelband über italienische Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Das Buch beansprucht keine Vollständigkeit, sondern beleuchtet das Phänomen in unterschiedlichen Zusammenhängen.

Von Norbert Hornig | 13.08.2018
    Zwei Hände dirigieren ein Orchester.
    Zwei Hände dirigieren ein Orchester. (picture-alliance/ dpa / Hermann Wöstmann)
    Er gehört zu den wenigen Dirigenten, die man an seinen Schallplatten-Aufnahmen relativ leicht erkennen kann, oft ganz spontan, manchmal auch erst nach längerem Zuhören.
    Maestro Arturo Toscanini
    Die musikalische Handschrift, die Arturo Toscanini einer Oper oder einem sinfonischen Werk aufzuprägen verstand, war immer sehr markant und persönlich. Die rhythmische Präzision und Dynamik seines Musizierens, die zuweilen sehr straffen Tempi sowie die geschliffene Perfektion und Klarheit des Klanges waren Markenzeichen seiner Kunst. Toscanini ist immer wieder auch Thema und Bezugspunkt in dem neuen Buch, dem jüngsten Band der Reihe "Analecta Musicologica".
    In dieser traditionsreichen musikwissenschaftlichen Publikation erscheinen regelmäßig Aufsatz-Sammlungen und Berichte der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Mit Arturo Toscanini hat Italien das Idealbild des "Maestro" am Dirigentenpult hervorgebracht, in seiner Person sind überragende künstlerische Qualität und Charisma glücklich vereint.
    Vier der acht Buchbeiträge beleuchten das Phänomen Toscanini aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Mainzer Musikwissenschaftlerin Gesa zur Nieden etwa widmet sich einem Vergleich der Dirigenten Arturo Toscanini und Richard Strauss, ganz konkret bezogen auf die Strauss-Oper "Salome" unter den Gegebenheiten der damaligen Produktions- und Aufführungsbedingungen. Der Beitrag macht u.a. deutlich mit welchen Präferenzen sich die beiden bei ihren Gastspielen zu profilieren versuchten: Strauss als dirigierender Komponist, der sein Werk weltweit bekannt machen wollte, und Toscanini in erster Linie als Maestro und glühender Verfechter seiner Interpretation. Um ein nicht weniger spezielles Thema geht es im Beitrag von Jürg Stenzl, der sich mit Arturo Toscaninis Engagement für die französische Musik befasst, besonders für das Werk von Claude Debussy.
    Toscanini - Vorbild für Generationen
    Beginnend mit der Oper "Pelléas et Mélisande" entwickelte sich Toscanini zu einem der maßgeblichen Debussy-Dirigenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Besonders häufig nahm er "La Mer" in seine Programme auf, allein in den USA dirigierte er das Werk 53 Mal. Aufschlussreich ist am Ende ein sehr detaillierter Interpretationsvergleich, der das Debussy-Verständnis des Dirigenten erhellt. Arturo Toscanini gehörte zu den bahnbrechenden Dirigenten des 20. Jahrhunderts, er war das Vorbild für Generationen.
    Karajan, fanatischer Toscanini-Verehrer
    Wie nachhaltig sein Einfluss auf jüngere Dirigenten war, verdeutlicht exemplarisch der Beitrag von Hartmut Hein. Im Fokus steht hier Herbert von Karajan, der ein geradezu fanatischer Toscanini-Verehrer war. Er versäumte keine von Toscaninis Proben bei den Salzburger Festspielen und kannte fast jede seiner Aufnahmen. Dass Toscaninis Interpretationen Spuren in Karajans Schaffen hinterlassen haben ist kaum zu bestreiten. Auch Victor de Sabata, der im Gegensatz zu Toscanini im nationalsozialistischen Deutschland auftrat, inspirierte den jungen Karajan nachhaltig. Das Buch ist kein biographisches Werk über italienische Dirigenten. Es beansprucht keine Vollständigkeit sondern greift gezielt bestimmte Fragestellungen heraus, die das Phänomen des italienischen Dirigenten in ganz unterschiedlichen musikhistorischen Zusammenhängen beleuchtet.
    Man findet, leider möchte man sagen, nichts über den von Toscanini vehement geförderten Guido Cantelli, der 1956 tragisch bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, kurz bevor er die Leitung der Mailänder Scala übernehmen sollte. Dagegen erfährt man viel über weniger bekannte Künstler wie Piero Coppola, Lorenzo Molajoli und Carlo Sabajno, die als sog "Hausdirigenten" der Plattenfirmen "His Masters Voice" und "Columbia" einen wesentlichen Beitrag zur diskographischen Darstellung des italienischen Opern-Repertoires auf Schallplatte geleistet haben.
    Für diskographisch interessierte Leser dürfte besonders auch der Aufsatz von Martin Elste interessant sein, der das amerikanische Label Cetra-Soria porträtiert, das sich mit seinen Gesamtaufnahmen italienischer Opern in den 1950er-Jahren einen legendären Status eroberte. Auch über das künstlerische Profil des Dirigenten Giuseppe Sinopoli ist in diesem Buch Vieles zu erfahren, wobei Herausgeber Peter Niedermüller ihn besonders als eigenwilligen Mahler-Dirigenten hervorhebt.
    Primär musikwissenschaftlich angelegtes Werk
    Und am Ende begegnen wir Claudio Abbado als Interpreten von zeitgenössischer Musik, allerdings in einem Aufsatz in italienischer Sprache. Mit seiner enormen Detailfülle und Informationsdichte sowie den zahlreichen weiterführenden Quellenangaben ist das 160 Seiten umfassende Buch ein primär musikwissenschaftlich angelegtes Werk, das besonders unter dem Aspekt der Interpretationsforschung interessant und verdienstvoll ist. Es kann aber auch für ambitionierte Musikliebhaber und Schallplattensammler, etwa auf dem Gebiet der italienischen Oper, als wertvolle und vorbildlich recherchierte Informationsquelle dienen.