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Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen
Über Kants Einfluss auf Beethoven

Welchen Einfluss hatte Immanuel Kant auf Ludwig van Beethoven? Hat der Komponist die Schriften des Philosophen gelesen und hatte das für seine Musik eine Relevanz? Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen hat dazu ein lesenswertes Buch geschrieben.

Von Matthias Sträßner | 02.03.2020
    Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einem Stich von Johann Leonhard Raab nach einem Gemälde von Gottlieb Döbler aus dem Jahr 1781.
    Welche Parallelen gibt es zwischen Immanuel Kant (im Bild) und Ludwig van Beethoven? Der Poet Giuseppe Carpani bezeichnete Beethoven als „Kant der Musik“. (dpa / picture alliance / Bertelsmann Lexikon Verlag)
    "Hat Kant auch auf ihn gewirkt, ohne dass er ihn gelesen haben müsste? Kann man sich Beethoven, der kein Universitätsstudium absolviert hat und der bis zuletzt in seinen eigenen Briefen einen äußerst eigenwilligen Umgang mit der korrekten Orthographie pflegte, als kompetenten Leser schwierigster philosophischer Literatur vorstellen? Haben ihn die weltanschaulichen Diskussionen seiner Zeit interessiert? Und hat das, so darf man weiter fragen, für seine Musik überhaupt irgendeine Relevanz?" Das ist die Frage, die das neue Buch von Hans-Joachim Hinrichsen beherrscht.
    Nun hat es Beethoven an Selbstbewusstsein, sich auch den schwierigsten Abhandlungen zu stellen, keineswegs gefehlt. In einem Brief an den Leipziger Musikverlag Breitkopf & Härtel vom 22. November 1809 formuliert Beethoven einmal, es gebe "keine Abhandlung die sobald zu gelehrt für mich wäre, ohne auch im mindesten Anspruch auf eigentliche Gelehrsamkeit zu machen, habe ich mich doch bestrebt von Kindheit an, den Sinn der bessern und weisen jedes Zeitalters zu fassen, Schande für einen Künstler, der es nicht für Schuldigkeit hält, es hierin wenigstens so weit zu bringen."
    Nahaufnahme einer Büste von Ludwig von Beethoven aus weißem Marmor.
    Ludwig van Beethoven (imago / Richard Brocken)
    Was Beethovens Gelehrsamkeit bezüglich Immanuel Kant anlangt, so ist diese bei der Schrift "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" aus dem Jahr 1755 gesichert. Zu dieser sogenannten vorkritischen Schrift sind Beethovens Exzerpte erhalten und das Buch befand sich auch im Nachlass des Komponisten. Dass sich Beethoven darüber hinaus noch mit Kant befasst haben könnte, dafür spricht weiter seine Mitarbeit an der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode.
    Beethoven war ein umworbener Beitragsautor der Zeitung, für die er auch die eine oder andere Komposition schrieb. Er bekam die Zeitung gratis, und war mit Sicherheit interessierter Leser einer Artikelserie, die der damals neue Leiter der Wiener Sternwarte, Joseph Johann Littrow ab 1820 verfasste. Littrow muss an seinem neuen Arbeitsplatz gehörig viel Sternenstaub aufgewirbelt haben, und nach einem ersten Schreibfehler des Namens wussten die Wiener, wie ihr neuer Sternwartendirektor heißt: Littrow, mit "i" nicht mit "ü". Mit einem der Artikel von Littrow ist auch das berühmte dreifache Ausrufezeichen verbunden, das Beethoven im Konversationsheft Nr. 7 hinter den Namen Kant setzt. Für die Forschung stellt sich damit die Frage, ob sich die Ausrufezeichen nicht nur auf den astronomischen Kant der vorkritischen Zeit beziehen, sondern auf den berühmten Schluss von Kants "Kritik der praktischen Vernunft", in der es heißt:
    "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir."
    Las Beethoven Kant im Original?
    Ob Beethoven tatsächlich Kant im Original las, ob er den modischen Kant-Paraphrasierungen seiner Zeit folgte, oder drittens: ob er ganz einfach nur das deutlich abgewandelte Kant-Zitat im Artikel des neuen Wiener Sternwartenleiters gelesen hat – das ist seit dem höchst informativen Aufsatz von Franz Michael Maier "Beethoven liest Littrow" durchaus in der Diskussion.
    Dass Beethoven ein "Kant der Musik" sei, das wurde wohl zum ersten Mal von Giuseppe Carpani in seinem Buch über Joseph Haydn geäußert. Als Kompliment war das keineswegs gemeint. Das ist von Riemann über Schiedermair bis Hinrichsen ganz anders. Da gilt Beethovens (vorgebliche) Vertrautheit mit dem Königsberger Philosophen als ein zusätzlich philosophischer Ritterschlag des außerordentlichen Komponisten. Aber wirklich zu recht?
    Die Frage, wer die Lehre von Immanuel Kant für Beethoven noch des Weiteren mundgerecht gemacht haben könnte, beantwortet das Buch von Hans-Joachim Hinrichsen jedenfalls ausführlich und differenziert. Er verweist auf Beethovens Sozialisation in der Bonner Gesellschaft: die ortsansässige Lesegesellschaft, und er erwähnt auch andere Stipendiaten des kurfürstlichen Hofes, bei denen die reine Lehre Kants deutliche Spuren hinterlassen hat.
    Auch in Wien kann Beethovens Mäzen Carl von Lichnowsky immerhin noch den Berliner "Kant-Enthusiasten" Lazarus Bendavid die Erlaubnis verschaffen, an der Wiener Universität vielbesuchte Vorlesungen zu halten, bevor mit dem Tod des Erzherzogs Joseph II. von Österreich im Jahr 1790 die Zeit der Aufklärung und der Kant-Rezeption langsam zu Ende geht. Auch in einem Standardwerk der Zeit, in Johann Georg Sulzers "Allgemeine Theorie der schönen Künste", kann die letzte Auflage von 1792 bis 1797 den zunehmenden Einfluss Kants sichtbar machen.
    Einfluss auf Beethoven
    Kants Einfluss auf Beethoven zu klären – diese Aufgabe wird noch spannender, und zugegebenermaßen auch schwieriger, wenn Autoren ins Auge gefasst werden, bei denen sich das Kantsche Denken mit überkommener Andacht und religiöser Empfindsamkeit mischt. Bei solchen "zweitrangigen Kant-Popularisierern", wie Hinrichsen sie nennt, meint man beim Lesen seines Buches mitunter zu sehen, wie sich die Augenbraue des Verfassers leicht in die Höhe zieht. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass beispielsweise der Einfluss von Christoph August Tiedge nicht unterschätzt werden darf. Mit ihm war Beethoven persönlich bekannt, und Gedichte aus Tiedges "Urania" hat Beethoven gleich zweimal vertont!
    Und dann ist da immer und immer wieder: Friedrich Schiller. Wer die Bedeutung Schillers für Beethoven ermessen will, der darf nicht nur auf die "Ode an die Freude" schauen (und hören), auch nicht nur auf die "Ästhetischen Briefe", sondern er muss sich auch dessen Tragödientheorie, die Emphase des Formbegriffs, und vor allem den Text "Die Sendung Moses" zu eigen machen.
    So weit, so gut. Aber Hinrichsen verspricht ja mehr: Er will sich der Herausforderung stellen, Kant und Schiller nicht nur in Beethovens Denkart und in seinem gesellschaftlichem Umfeld nachzuweisen, sondern konkret in der "reinen textlosen Instrumentalmusik". Und da bleiben die Analysen Hinrichsens dem Leser auffallend fremd.
    Sicher: Die Änderungen in Beethovens Kompositionsstil werden von einer neuartigen Musikästhetik und Salonkultur flankiert. Die von Kant mitinspirierte Musikästhetik fokussiert sich eher auf "musikalische Beredsamkeit" denn auf "Nachahmung der Natur", und der fortgeschrittene Salon steuert so etwas wie "herrschaftsfreie Unterhaltung" bei. Deren Regeln werden – wie Hinrichsen schön zeigt – bei dem zeitgenössischen Theologen Friedrich Schleiermacher auch nicht anders beschrieben als bei Jürgen Habermas.
    Aber mit diesen Anmerkungen ist noch längst nicht erwiesen, dass Beethovens Kunst "in der musikalischen Versinnlichung praktischer Vernunftideen" besteht, oder dass die "ästhetische Idee" der 6. Sinfonie, die zu Beginn kurz anklang, dem Gedankengang von Kants Kritik der Urteilskraft folgt. Auch die Friedensbitte in Beethovens "Missa solemnis" ist weder ein Anwendungsfall von Kants "ästhetischer Idee", noch hat sie mit Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" mehr gemeinsam als das Wort "Frieden".
    Ein lesenswertes Buch im Jubiläumsjahr
    Hans-Joachim Hinrichsen hat trotzdem ein inspirierendes und lesenswertes Buch geschrieben. Sicher eines, das im Beethoven-Verkaufsrausch besondere Beachtung verdient hat, wenn auch der hohe Preis einer weiten Verbreitung im Wege stehen wird. Aber inhaltlich muss man Hinrichsen deutlich widersprechen. Hinrichsen ersetzt die berühmt gewordene Formel des Grafen Waldstein, Beethoven werde "Mozarts Geist aus Haydns Händen" erhalten, unausgesprochen durch eine neue griffig-akademische Formel. Dieser zufolge schwebt bei Beethoven "der Geist Kants und Schillers über Haydns Sinfonik und Albrechtsbergers Kontrapunkt".
    Was vor dem Anfang schon da ist, und was nach dem Ende noch kommt – kein Komponist hat das je so zu gestalten gewusst wie Ludwig van Beethoven, der im Adagio der Hammerklaviersonate op. 106 einen neuen zusätzlichen Anfang vor dem Anfang hinzufügen konnte, und im "Abendlied unter'm gestirnten Himmel" (Woo 150) auch ein Ende nach dem Ende. Diese ästhetische Idee ist bei Kant undenkbar. Bei Beethoven ist sie theologisch greifbar und musikalisch verwirklicht.
    Hans-Joachim Hinrichsen: "Ludwig van Beethoven. Musik für eine neue Zeit"
    Bärenreiter- Metzler 2019, 386 Seiten, 39,99 Euro.