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Musils Jahrhundertroman

Man habe schon Pferde kotzen sehen, sagt man gemeinhin, wenn man alles für möglich hält. Doch das, wovon da bei Guy Cassiers berichtet wird, ist kaum zu glauben: Ein ominöses Darmvirus hat Wiens Fiaker-Pferde befallen.

Von Marion Ammicht |
    Pferde-Durchfall überall in den Gassen Wiens. Kakaniens Zentrum vollgekackt. Und womöglich, so wird es angedeutet, hätte es - wäre die Welt nicht schon vorher in Stücke geflogen - bis zum Jahr 1918 auch noch die Lipizzaner in der spanischen Hofreitschule erwischt.

    Wie Musils Romanvorlage spielt auch die Bühnenadaption der Amsterdamer Toneelgroup im Wien des Jahres 1913, unmittelbar vor Ausbruch des ersten Weltkriegs. Johann Bossers liefert auf einem in der Ecke vergessenen Flügel mit seinen kakofonischen Improvisationen den Soundtrack dazu.

    Die Protagonisten rund um Ulrich, dem vermeintlichen "Mann ohne Eigenschaften", mathematisch interessierter Ironiker im dritten Karriereanlauf, gründen angesichts des parallel zur Pferdegrippe grassierenden geistig-moralischen Werteverfalls die sogenannte "Parallelaktion". Und tatsächlich gelingt den Niederländern, was man anfangs nicht für möglich gehalten hätte: Mit einfachsten Mitteln, grandios räsonierenden Schauspielern, einem Mann am Klavier und einem raffiniert projizierten Bühnenbild packen sie Musils 1800 Seiten in einen schlüssigen, dreistündigen Theaterabend mit Witz und Esprit.


    Die große Parallelaktion, der sich die selbst ernannten geistigen Eliten des bröckelnden Imperiums da verschrieben haben, sieht vor, dass im Jahr 1918 parallel das 70-jährige Thronjubiläum des österreichischen und das 30jährige des deutschen Kaisers gefeiert werden soll. Das geht bekanntlich schief. Die Monarchien werden 1918 abdanken und die Idee des Vielvölkerstaats Kakanien, naja, kackt ab.

    Ein fiktiver Kutscher im Dienste Ulrichs reitet die Pferdemetapher regelrecht zu Tode: Nicht einmal vor dem Radetzky-Mosaik und der Hofbibliothek hätten die Viecher an sich halten können. Und die Pferdemetapher, setzt sich dabei bis in die Kostüme fort. Ulrich, der alle visions- und gefühlsbedürftigen mit seinen nüchtern-ironischen Denkkonstrukten quält, trägt überm weißen Smokinghemd ein halfterartiges Geschirr, das an fantasievolle Liebesspiele mit der schönen Geliebten Bonadea denken lässt. Die wiederum folgt ihrem Meister in gelbem Ballonmini mit überdimensionalem Pferdeschweif-Haarteil wie eine frühe Vor-Form der bezaubernden Jeannie.

    Innere und äußere Krisen verstärken sich. Parallel dazu zerfällt das projizierte Abendmahl-Fresko im Bühnenhintergrund in immer kleinere Einzelteile bis es als lamellenartige Jalousie beim finalen Volkssturm den Blick auf ein anderes Bild frei gibt: James Ensors "Der Einzug Christi in Brüssel", auf dem die Erlöserfigur kaum mehr zu erkennen ist.

    Man staunt, wie aktuell Musils Text beim Wiederlesen auf Cassiers Übersetzungstafeln ist: Es geht um die europäische Idee, sich auflösende Identitäten, multikulturelle Vision, rassistisches Ressentiment, Politikverdrossenheit, die Macht des Kapitals und die zeitgeistige Neigung zu Mystik und Spiritualität. Im zweiten Teil des Abends erklären sich die einzelnen Protagonisten vor fünf über die Bühne verteilten Kameras dann vornehmlich selbst und eröffnen dabei eine Innenschau postmodern verwirrter Seelen wie sie auch das 21. Jahrhundert mit seinen gesellschaftlichen Verunsicherungen in sich birgt. Endzeitstimmung. Was war, gilt nicht mehr, das Neue ist noch nicht in Sicht. "Wind weht in der Stadt, in der Welt," gibt Ulrich der Mann, der seine Eigenschaften vor sich herträgt als gehörten sie ihm nicht, der Kamera zu Protokoll. Und fragt: "Welche Welt?", bevor die Projektion seiner selbst am Ende eines spannenden, dreistündigen Parforce-Ritt durch ein hochaktuelles unvollendetes Projekt der Moderne, völlig erlischt.