Wochenmarkt in der Pariser Banlieue: Zwischen Obst- und Gemüseständen verkauft ein junger Mann Hijabs: muslimische Kopftücher mit bunten orientalischen Mustern, Blumenmotiven oder Pailletten, aber auch größere schwarze und graue Hijabs, die hier im Viertel viele Frauen tragen. Die nur ein kleines Gesichtsoval freilassen, Haare, Hals und Schultern bedecken.
Verkauft er auch Nikabs – Schleier, die das Gesicht verhüllen? Der Händler schüttelt energisch den Kopf. Seine Kundinnen würden auch nicht danach fragen. Musliminnen, die ihr Gesicht verschleiern, gebe es zwar in den Banlieues, sagt er. Aber sie seien selten. Eine Kundin – Anfang 60, eng gebundenes schulterlanges Kopftuch – nickt.
Auch sie sieht hin und wieder vollverschleierte Frauen. Aber nur in der Banlieue, betont sie. Nicht in Paris. Schließlich seien Nikab und Burka in Frankreich verboten. Zu Recht, findet die Muslimin:
"Das gehört nich zum Islam"
"Ich bin mit dem Verbot einverstanden. Man versteckt nicht das Gesicht. Das gehört nicht zum Islam. Ich war auf Pilgerfahrt in Mekka, da war ich auch nicht gezwungen, mein Gesicht zu verschleiern. Nicht mal beim Beten bedeckt man das Gesicht."
Drei Teenager - gestylte Outfits und geschminkt – halten dagegen: "Wenn ich eine Frau mit verschleiertem Gesicht sehe, stört mich das gar nicht. Das ist ihre Entscheidung - auch wenn der Islam solche Schleier nicht vorschreibt. In den Banlieues stört das niemanden!"
Dass die französische Regierung das sogenannte Burkaverbot aufgrund der Kritik des UN-Menschrechtsausschusses ganz oder teilweise zurücknehmen könnte – daran glauben weder der Kopftuchhändler noch seine Kundinnen.
"Nein, überhaupt nicht. Die Franzosen sind Rassisten." - "Gesetz ist Gesetz. Man weiß ja auch nicht, wer sich hinter der Burka versteckt!"- "Wir wohnen hier in Frankreich. Hier entscheidet der französische Staat. Und nicht die UNO."
Ende Oktober hat der UNO-Menschenrechtsausschuss Frankreich eine sechsmonatige Frist gesetzt. Bis dahin soll die französische Regierung Bericht erstatten über Korrekturen am Burkaverbot. Das 2010 verabschiedete Gesetz, so die Kritik des Menschenrechtsausschusses, verstoße gegen den 'internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte', den Frankreich mit 172 anderen Ländern unterzeichnet hat. Ilze Brands-Kehris, Sprecherin und Mitglied des achtzehnköpfigen UN-Juristengremiums:
"Wir haben Verstöße gegen zwei Artikel des Paktes festgestellt: gegen den Artikel der Religionsfreiheit, der auch die Freiheit seine Religion öffentlich zu zeigen einschließt; und einen Verstoß gegen den Artikel, der die Diskriminierung verbietet."
Dass der Gesetzgeber in bestimmten Fällen – insbesondere bei Identitätskontrollen – darauf bestehen kann, dass das Gesicht sichtbar sein muss, räumt der UN-Menschenrechtsausschuss ausdrücklich ein. Hingewiesen wurde von Ausschussmitgliedern auch auf den Vollschleier als frauenfeindliches Unterdrückungsinstrument. Ein grundsätzliches Verbot des Gesichtsschleiers sei jedoch "unverhältnismäßig". Es schränke die individuellen Freiheitsrechte zu sehr ein, diskriminiere die Frauen und zwinge sie in die soziale Isolation.
Rund 2.000 Bußgelder verhängt
Olivier Roy ist Politologe und einer der renommiertesten Islam-Experten Frankreichs. Er hält die Forderungen des UNO-Menschenrechtsauschusses nach einer Revision des Anti-Burka-Gesetzes für unrealistisch. Tatsächlich verfüge das Gremium weder über die juristischen noch politischen Mittel, um seine Position durchzusetzen, sagt Roy, der mehrere Jahre als Berater der Vereinten Nationen gearbeitet hat.
Die französische Regierung werde sich auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte berufen. Der hatte bereits 2014 geurteilt, dass das französische Gesetz mit dem Recht auf Religionsfreiheit vereinbar ist.
Olivier Roy erklärt: "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt in seinem Urteil, dass das muslimische Kopftuch unter das Recht auf Religionsfreiheit fällt. - Aber nicht Schleier, die das Gesicht bedecken, weil der Gesichtsschleier eine rein individuelle Entscheidung ist. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes sind rechtlich bindend – im Gegensatz zu denen des UNO-Menschenrechtsausschusses."
Seit in Krafttreten des Burkaverbots vor acht Jahren wurden dem französischen Innenministerium zufolge rund 2.000 Bußgelder verhängt. Ein Großteil davon geht auf das Konto voll verschleierter Frauen, die regelmäßig zur 150-Euro-Strafe verurteilt wurden – in einigen Fällen über 50 Mal. Die Vollverschleierung sei eindeutig ein Randphänomen, für das es auch in der muslimischen Gemeinde Frankreichs keinen Rückhalt gebe, diagnostiziert denn auch Islamexperte Roy. Hat der UN-Menschenrechtsausschuss also recht, wenn er ein "disproportioniertes Gesetz" kritisiert?
"Ein symbolisches Gesetz"
Roy antwortet: "Ja, das Gesetz ist unverhältnismäßig. Man kann der Meinung sein, dass das Anti-Burka-Gesetz nicht nötig war, was auch meine Ansicht ist. Aber das ist kein Argument. Es geht hier um ein symbolisches Gesetz. Das Burkaverbot ist nichts anderes als eine Botschaft, die besagt: Die Religionsfreiheit hat gewisse Grenzen. Was die Keuschheit der Frauen betrifft, das Verhüllen der Weiblichkeit – ist mit dem Gesichtsschleier ein Limit überschritten."
Der französische Politologe und Islamexperte hat den viel zitierten Begriff des "islamisierten Radikalismus" geprägt. Die These, dass die Radikalisierung der – wie Roy sie nennt – "wiedergeborenen Muslime" nicht auf dem Islam basiert, sondern der Islam das Vehikel ihrer Radikalität ist. So seien IS-Attentäter und Dschihadisten fast immer religiöse Analphabeten, in deren Vorleben der Islam kaum oder gar keine Rolle gespielt habe. Sie radikalisierten sich nicht in den muslimischen Gemeinden, sondern innerhalb kürzester Zeit via Internet oder im Gefängnis. Ihr Antrieb seien nicht religiöse Überzeugungen, sondern Jugendrevolte, Frustration, Nihilismus und ein ausgeprägter Geltungsdrang.
"Die Frauen sind Exhibitionistinnen"
Ähnlich analysiert Olivier Roy das Phänomen der jungen Nikab- oder Burkaträgerinnen im Westen, spricht von einem Paradox:
"Die Frauen sind Exhibitionistinnen. Sie tragen den Vollschleier nicht, um sich zu verstecken. Sie tragen ihn, weil sie gesehen und interviewt werden wollen. Komplett falsch ist auch die Vorstellung, es handle sich bei ihnen um eine Art Avantgarde arabischer, türkischer oder afrikanischer Frauen, denen die französische Gesellschaft die Integration verweigert hat. Studien aus der Banlieue von Lyon und Paris zeigen, dass die Burkaträgerinnen überwiegend Konvertierte sind - und Außenseiterinnen. Die Vollverschleierung ist also keinesfalls Ausdruck einer Glaubensgemeinschaft, die ihre altüberlieferten Prinzipien verteidigt. Es ist eine fabrizierte Religiosität."
Der Islamexperte macht keinen Hehl daraus: Er ist dafür, dass Frankreich am Anti-Burkagesetz festhält, der vom UN-Menschenrechtsausschuss geforderten Revision eine Absage erteilt. Das Anti-Burka-Gesetz stärke eher die Religionsfreiheit. Weil es im Umkehrschluss das klassische muslimische Kopftuch als religiöse Praktik anerkenne und juristisch legitimiere. Ein Effekt des Gesetzes, der laut Roy nicht zu unterschätzen sei: Es habe Frankreichs Laizismus-Hartlinern den Wind aus den Segeln genommen, die das religiöse Kopftuch auf dem Uni-Campus verbieten wollten.
Die Tendenz, alles Religiöse aus der Öffentlichkeit zu verbannen, nehme zu. - Vorangetrieben von rigorosen Laizisten und rechten Populisten, erklärt der Politologe:
"Das ist sehr französisch. Jedes Anzeichen für religiösen Praktiken wird als Prozess religiöser Radikalisierung interpretiert. Und natürlich sind in erster Linie die Muslime von der Fantasterei betroffenen. Allein im Oktober 2018 sind in Frankreich vier oder fünf Bücher über die Islamisierung der Banlieues erschienen."
Aufgeheiztes Meinungsklima
Ein Klima, das Staatschef Emmanuel Macron und seiner Regierung de facto keine Wahl lasse.
Sollte die Regierung auf die Forderungen des UN-Ausschusses nach einer Revision des Anti-Burka-Gesetzes eingehen, ist Olivier Roy überzeugt, würde das in Frankreich zu einem riesigen Skandal führen.
Mitte Dezember hat der französische Senat eine Resolution verabschiedet – die dringende Empfehlung an die Regierung, an dem Burkaverbot festzuhalten.
In Europa wird das französische Burkaverbot trotz der Abmahnung des UNO-Menschenrechtsausschusses weiter Schule machen, prognostiziert denn auch Politologe Olivier Roy.
"Es gibt eine Tendenz in Europa, gegen die Burka vorzugehen. Belgien, Österreich und Dänemark sind dem französischen Beispiel gefolgt, haben die Burka verboten. Ich glaube, dass immer mehr europäische Länder nachziehen werden."