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Mut zur Wahrheit wird zu Pädagogik

Nun ist es mal wieder an der Zeit zu fordern, dass große Literatur zwischen Buchdeckeln bleiben und nicht auf eine Theaterbühne gestellt werden soll. Denn die Literatur wird klein, und die Figuren werden klein, weil der Geist des Dichters ihnen nicht, wie im Buch, Flügel verleiht, sondern sie diesen Geist ausbuchstabieren müssen.

Von Karin Fischer |
    Stefan Zweigs Novelle ist ein Psychodrama mit nur wenigen Dialogen. Was hier spricht, ist die entfesselte Stimme der Angst, was hier ausgebreitet wird, sind – bis zu feinsten Beobachtungen des Körpers, bis zum Rauschen des Blutes, bis zur lebendigsten Traumerzählung - die nervösen Erregungen einer Frau, die die "Gitterstäbe des Grauens, die jetzt um ihr Leben gebaut waren" am Ende nur durch den Selbstmord zu zerbrechen können glaubt. Man sitzt dieser Frau förmlich unter der Schädeldecke. Die Novelle ist ein Strudel aus Empfindung.

    In Koen Tachelets Textfassung gibt es das alles nicht, es gibt ganz wenig Emotion, es gibt kein inneres Drama, nur die Erzählung, die ordentlich und mit einiger Logik auf die verschiedenen Personen verteilt ist. Die Figuren sprechen Zweig, was zunächst bedeutet: Der allwissende Erzähler mutiert in der Figur Irene Wagner zur allwissenden Analytikerin ihrer selbst. Neben sich zu stehen und von sich selbst zu erzählen ist gute Sitte im deutschsprachigen Theater und hat gerade in München bei "Kleiner Mann was nun?", und das ist ein ganzer Roman, gut funktioniert. Wir leben im 21. Jahrhundert, lange nach Freud, wir sind küchenpsychologisch hochgebildet, und es entspricht sogar einer gewissen Aufklärungslogik, Psychogramme auf dem Theater nicht vorzuspielen, sondern analytisch vorzuführen. Mit Stefan Zweig aber gibt es ein Problem. Der Text erkaltet, und sein heimliches Hauptthema, der Mut zur Wahrheit, wird degradiert zu bloßer Pädagogik.

    Und es gibt schauspielerisch ein Problem. Muss man erwähnen, dass die Dialektfärbung von Elsie de Brauw, die zur Truppe um den künftigen Intendanten der Münchner Kammerspiele, Johan Simons, gehört, zwar überaus charmant ist, aber eine zusätzliche Distanzierungsebene einfügt? In Salzburg spürt man erst, wenn sie mal nicht erzählen muss, sondern spielen darf, die Intensität und emotionale Bandbreite dieser tollen Schauspielerin.
    Dass die Inszenierung in mehrfacher Hinsicht der Novelle nicht gerecht wird, wäre noch kein Argument. Was macht Jossi Wieler aus dem Stück? Von Anja Rabes hat er sich ein kleines Podest aus langen weißen Holzplanken, an zwei Seiten von dünnen Wänden umstellt, bauen lassen. Darum herum Eisenstangen, die unterschiedlich hohe Hürden abgeben, ein kleines Labyrinth. Die Planken fangen zwischendurch hochsymbolisch an zu wackeln, wenn die bürgerliche Fassade ins Wanken gerät. Stefan Hunstein, der Geliebte, darf sogar selbstidentisch gefühlig schmachten und die Erpresserin, Katja Bürkle ist die vom Ehemann angeheuerte Schauspielerin, interpretiert ihre Rolle gut und sogar ganz neu: Als Frau leidet sie mit der Älteren mit; als arbeitslose Göre will sie ihren Teil vom Kuchen abhaben. Von ihr kommt auch die erste der vielen Aufforderungen, die Karten auf den Tisch zu legen: "Hören Sie doch einfach auf zu lügen!"

    Zum Haushalt der waidwunden Ehefrau gehören zwei allerliebste Kinder, an denen der Ehemann als Höhepunkt der Wahrheitsfindung ein moralisches Exempel statuiert; der Junge beeindruckt vor allem durch perfekte Steuerung eines Ko-Axial-Helis. Und André Jung ist Gatte Fritz, Rechtsanwalt, tapfer, besorgt, gütig. Er hat eine Mission – er will das Geständnis, unbedingt – und leider einen sprachlichen Tick, den er sich in letzter Zeit zugelegt hat, ein Äh als Nachhall bei ganz vielen Worten.

    Jossi Wieler macht aus der emotionsgesättigten Novelle also einen selbsttherapeutischen Kursus eines Ehepaares, das erst noch lernen muss, die schwierigsten Dinge auszusprechen. Scham vor dem eigenen Partner soll ja ein Grund sein, weshalb selbst im Zeitalter des Exhibitionismus reihenweise Paare auf der Couch landen. Stefan Zweig erweist sich hier als extrem modern. Er verhandelte ja gerade nicht schuldiges Verhalten oder gar den Ehebruch. Wieler präpariert heraus, worum es in dem Stück auch geht, um das Verstehenlernen. Und verweigert das Happy End durch eine ganz kleine Frage am Schluss. "Wir sind dein ganzes Glück, dein Leben", sagt Fritz. Und Irene: "Wirklich?"

    Eine zeitgemäße Pointe für einen psychologischen Klassiker. Dennoch: die verspätete Heimholung von Stefan Zweig nach Salzburg ist im Landestheater gestern noch nicht gelungen.