Für Siegfried Lenz, das wird deutlich, ist es immer das Individuum, das sich als Einzelne(r) mit Literatur auseinandersetzt: als Rezipient, aber auch als Autor, dessen Kreativität kontemplativ angelegt ist und den Stoff zwingend zum Text konzentriert; während "die Virtuosen der neuen Technologie... den hypertextuellen Roman", als "den Medien angemessene Literatur", entwickeln: "In dieser Hervorbringung hat nun der einzelne Autor ausgespielt, er herrscht die äußerst freie, um nicht zu sagen: beliebige Kreativität einer Gemeinschaft." An die Stelle der zwingenden, nur einmal und nur so möglichen Erzähl-Struktur tritt ein "gruppendynamisches Puzzle-Spiel ohne Ende,, -"Literatur als unbegrenzter Prozess - Bildschirmliteratur."
Damit ist tatsächlich ein zentrales Problem des Kulturbruchs in unserem medialen Wendezeitalter angesprochen, doch denkt Lenz auf dieser Spur leider nicht weiter. Er springt stattdessen gleichsam von Bildschirm zu Bildschirm, aber vom PC zum TV, und moniert, das Fernsehen gewähre wohlfeiles Konsumentenglück und zerstöre deshalb das Lesen, Lenz sagt: "die Kunst des Lesens,,. Das ist aber nun nichts Neues mehr und hat mit den Möglichkeiten, die PC und Internet usw. eröffnen, nichts zu tun; ob diese Möglichkeiten aber gefährlich oder förderlich sind, wissen wir nicht. Nur eines ist gewiß: Sie sind und werden genutzt.
Im zweiten Essay ist Lenz wieder auf sicherem Gelände, er denkt nach über drei amerikanische Autoren, die ihn als jungen Schriftsteller beeindruckt und zeitweise auch beeinflußt haben: Hemingway öffnete ihm die Wahrheit einer "Welt im Krieg,,, in der "der Kampf zum Ritus erhoben" wurde, eine, wie mir scheint, besondere Variante des Ernst Jünger´schen Feuerprobenmythos, die schließlich auch dazu führte, dass Lenz den eigenen Wirklichkeitswahrnehmungen eher vertraute als den literarisch vermittelten von Hemingway. An Faulkner beschreibt Lenz eben jene unverwechselbare Imagionationskraft, die er durch die moderne Medienwelt verschwinden sieht: Literatur als Schöpfungsgeschichte und Zustandsbeschreibung, die individuelles Schicksal in allgemeine Erfahrungen übersetzt - also die klassische Definition des sprachlichen Kunstwerks und seiner literarischen Übertragbarkeit meint. Lenz erkennt in Faulkners Darstellung des amerikanischen Südens das "universale menschliche Drama,,. Während Faulkners Material die amerikanische Vergangenheit sei, arbeite Dos Passos amerikanische Gegenwart in alle ihren Erscheinungsweisen auf, und sein literarischer Befund führe fast immer zu einer "Anklage gegen Amerika"; doch finden sozialer Protest und ästhetische Form zur Einheit, weshalb ein Buch wie "Manhattan Transfer" neben Prousts und Joyce's Werk stehe: als "Vision einer Auflösung aller menschlichen Beziehungen unter dem Gesetz von Metropolis."
Im dritten Essay dachte Siefried Lenz einst über "Macht und Phantasie" nach - schon von 1979 stammt dieser Text, der den Titel "Das Kunstwerk als Regierungserklärung" trägt und sich mit der einst propagierten Formel "Die Phantasie an die Macht,, auseinandersetzt. Darin geht es nun freilich etwas verwirrend zu, und die Verwirrung entsteht dadurch, dass Lenz nicht genau definiert, wovon er spricht. Die Phantasie, die an die Macht gewünscht werde, so sagt er, sei jene "des Künstlers, des Intellektuellen, des Schriftstellers", der man eine glückliche Korrektur der Welt und eine unterhaltsame Herrschaft der Welt zutraue. Doch sind da nicht Unterschiede zwischen anschaulicher, scharfsinnig-intellektueller und, sagen wir: metaphorischer Phantasie? Trotzkis schneidende intellektuelle Phantasie war sicherlich eine andere als die anschauend bildumfassende Phantasie Picassos oder die literarische und/oder pragmatische Vorstellungskraft eines, nun denn: Günter Grass, auch wenn allen gemeinsam sei, dass sich deren Phantasie, die zur Auflehnung gegen die Realität stimulierte, mitunter, so Lenz, als Konkurrentin des lieben Gottes empfahl - aber auf wie unterschiedliche Weise!
Lenz warnt vor der Macht der Künstler mit Nietzsches Wort "Ich bin Dynamit,,, aber seine Warnung ebenso wie seine ganzen Überlegungen zum Thema sind selbst eher metaphorisch und spielerisch als konsequent. Deshalb gerät sein .Diskurs' gegen Ende auch ins Schleudern, auch wenn sich dessen Schluß (conclusio) gut anhört: dass nämlich "die Phantasie, wenn sie, Erfüllung ihres revolutionären Ziels, zur Herrschaft gekommen ist", sich als auf ihr "Machtmittel ,,immer nur auf "das Kunstwerk" berufen könne.
Damit hat Siegfried Lenz seine Leser erneut an jenes Ziel geführt, bei dem auch die beiden anderen Essays ankamen: bei der notwendigen Souveränität des Künstlers als Einzelner. Es ist die Kurzformel seines schöpferischen Credos: "Der Künstler bemächtigt sich des Ereignisses und gibt es so wieder, daß es über die Epoche hinausweist. Sein leidenschaftliches Interesse gilt dabei weniger der Inhalt als dem vollkommenen Ausdruck: Er wird das Scheitern einer Revolution verwinden, wenn es ihm ein Meisterwerk ermöglicht....Wo Phantasie die Herrschaft übernimmt, da ist jeder sein eigener Souverän und vor allem mit sich selbst konfrontiert: Wir sind in der Nähe des Absoluten.,, Das freilich, denke ich mir, ist ein Ort, an dem sich der sympathische pragmatische Erzähler Siegfried Lenz nicht eben oft aufhält.