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Mutter Erde hat hier ausgedient

Ob an heißen Sommer- oder kühlen Wintertagen: Tomaten aus deutschen Landen gibt es zu jeder Jahreszeit. Ermöglicht wird das durch große, beheizte und hoch technisierte Gewächshäuser, die an Fabriken erinnern und in denen die roten Früchte auf eine für viele noch recht ungewöhnliche Weise gezogen werden: nicht auf Muttererde als Unterlage, sondern auf Substratmatten in Plastikfolie.

Von Jens Tönnesmann |
    Wer Tomatengärtner Theo Germes in seinem Betrieb im niederrheinischen Straelen besucht, könnte meinen, in einer vollautomatisierten Tomatenfabrik gelandet zu sein. Größer als zwei Fußballfelder ist sein Gewächshaus. Unter dem gläsernen Dach, das sich je nach Sonnenstand automatisch öffnet und schließt, wachsen mehr als 50.000 Tomatensträucher. Über kilometerlange Rohre werden sie automatisch bewässert, beheizt und mit Nährstoffen versorgt. Das Besondere: Die Pflanzen wurzeln nicht in gewöhnlichem Boden, sondern in Matten, die in weiße Plastikfolie gepackt sind. Darin befindet sich isolierter und keimfreier Nährboden – so genanntes "Substrat". So können Germes’ Mitarbeiter zu jeder Jahreszeit Tomaten pflücken und verkaufen – in echtem Erdboden wäre das nicht denkbar. Germes:

    Im Boden kultivieren ist eigentlich nicht mehr wirtschaftlich. Man ist schon gezwungen, wenn man größere Gewächshausflächen erstellt, mit moderner Technik auf Substrat zu kultivieren. Die Ernte beginnt Mitte März und läuft durch bis Mitte November ungefähr. Zum gleichen Zeitpunkt wird dann schon die neue Kultur für das nächste Jahr ausgesät im Jungpflanzenbetrieb. Deshalb spricht man hier von der Jahreskultur. Das heißt: Von Aussaat bis Ende der Kultur vergeht ein Jahr. Das ist immer die gleiche Pflanze. Man kann nicht, wie in unserem Fall, 13 Jahre Tomaten jedes Jahr anbauen im Boden. Das ist nur auf Substrat möglich.

    Denn echter Erdboden laugt aus, wenn er so lange beackert und die Anbaufrucht nicht regelmäßig gewechselt wird. Beim Substratanbau kann über Jahre dasselbe Gemüse an derselben Stelle angebaut werden. Statt der Frucht werden die Matten nach einem oder zwei Jahren ausgetauscht und recycelt. Substratkulturen gibt es heute vor allem in Süd- und Ostdeutschland und am Niederrhein. Dort ist Germes’ Betrieb mit 2,2 Hektar einer der größten. Jenseits der deutsch-holländischen Grenze reihen sich Gewächshäuser sogar über Flächen von bis zu sieben Hektar aneinander. Dort gibt es die Substratkulturen schon deutlich länger. Die deutschen Konsumenten scheuen sich noch vor den Tomaten, die nicht im Erdboden gewachsen sind und fürchten eine schlechtere Qualität. Christoph Andreas, Gartenbau-Versuchsleiter bei der Landwirtschaftskammer Rheinland, hält diese Bedenken für unbegründet:

    Viele Untersuchungen haben festgestellt, dass die Art der Produktionsmethode, ob im Boden, ob auf Substrat, ob Freiland oder unter Glas, einen ganz geringen Einfluss auf den Geschmack der Tomate haben und dass die Tomaten, die aus Substrat gezogen werden, genauso gut oder sogar besser schmecken als Tomaten, die in anderen Anbauarten gezogen werden. Der Geschmack ist abhängig vom Reifezustand. Nur eine rotreife Tomate, wenn sie reif geerntet wird, hat auch nachher Geschmack. Der Verbraucher sieht keine Erde mehr, er sieht keinen Boden mehr. Er sieht aber nicht die Vorteile dieser Kultur: Weil ja viel weniger Energie gebraucht wird für die Beheizung, es werden viel weniger Pflanzenschutzmittel benötigt, viel weniger Nährstoffe benötigt.

    Denn dank der Plastikhülle sind die Tomaten weder Keimen und Krankheiten, noch Schädlingen und Unkraut ausgesetzt. Die Gärtner können also auf den Einsatz von Herbiziden gegen Unkraut und Pestiziden gegen Schädlinge verzichten. Obwohl der Substratanbau von Tomaten, Gurken, Paprika oder anderem Gemüse auch ökologisch betrieben werden kann, geben Verbände wie Demeter oder Bioland ihr Siegel nur für Gemüse her, das in echtem Erdboden gewachsen ist. Experte Andreas kann das nicht verstehen:

    Bezogen auf die Ertragshöhe von Tomaten und Gurken, auf die Kulturdauer und andere Faktoren, ist der Einsatz von Wasser, Nährstoffen, Pflanzenschutzmitteln und Heizung relativ gering und im Unterschied zur Bodenkultur effektiver und dadurch auch umweltfreundlicher und nachhaltiger.

    Tomatengärtner Theo Germes bewirbt seine Tomaten nicht als Öko-Produkte. Denn wie die meisten anderen Gärtner auch setzt er Düngemittel in den Nährstofflösungen ein. Diese Lösungen tröpfeln computergesteuert in die Substratmatten, je nachdem wie viel die Pflanze braucht. Zwischen der hochmodernen Technik, den Schläuchen und den Rohren tummeln sich aber auch unzählige Insekten, die zwischen den Pflanzen herum schwirren. Hummeln bestäuben die Tomaten, Schlupfwespen fressen die schädigenden weißen Fliegen, Raubwanzen vernichten Raupen und Spinnmilben. Germes ist sich sicher: Bei ihm kriegen die Pflanzen alles, was sie für die Entwicklung knallroter Tomaten brauchen – auch ohne echten Erdboden:

    Der Pflanze ist es egal, ob sie ihre Nährstoffe oder ihr Wasser aus dem Boden holt oder aus einer Substratmatte. Es ist so viel besser möglich, eine bessere Qualität, einen besseren Geschmack zu produzieren.