In diesem Herbst nun folgt der dritte Streich. "Mutters Buch" heißt die jüngste Erinnerungsarbeit der Erzählerin, die auf der Spurensuche nach dem eigenen Ich nicht aufhört sich zu wundern. "Ist es möglich, daß wir so sind?" stimmt sie ihr großes, nicht enden wollendes Requiem auf die Mutter an, den vergeblichen Annäherungsversuch an eine Frau, die ihre Geheimnisse für sich behielt, ein Rätsel blieb, sich in Schweigen hüllte und die Tochter doch durch die Verwandtschaft der Gefühle und eine gemeinsame, unausgesprochene Sehnsucht an sich band.
Auch mit diesem Roman befindet sich Christina Viragh wieder unterwegs auf ihrer Reise in die Innerlichkeit. Die Geschichten der Vergangenheit will sie in Worte fassen, um ihrerseits nicht die Fassung zu verlieren. Sie durchstöbert die Archive des Gedächtnisses, will vorstoßen zu den verschütteten Schichten des Unterbewußtseins und schafft es doch nicht, den Faden zu finden, mit dessen Hilfe sie dem Labyrinth ihrer Seele entkommt. Ein Wust von Fragen türmt sich auf, verhallt im Raum, stößt nirgends auf Gehör.
"Wer war unvergeßlich?" erkundigt sich Jolan, die stets zaudernde und zweifelnde Tochter. Ruhelos fügt sie hinzu: "Was werden wir im Winter tun?", "Habe ich mir etwas zugezogen?", "Habe ich lange mit ihm telefoniert?", "Welche Frage klingt so?", "Wollte ich das?" Ein wahres Trommelfeuer von Ungereimtheiten wird hier entfacht und bringt doch den energischen Spazierschritt der Mutter am Ende ihres Lebens im Herbst 1994 nicht zum Stocken. "Langsames Gehen", sagt die alte Dame, "ist unsachlich, weil es die Eindrücke ins Subjektive verdreht". Der feste Boden unter den Füßen und ein gerüttelt Maß an Wortkargheit wappnen sie gegen die Springflut der Gefühle.
Und so bleibt Jolan nichts anderes übrig, als die Einsamkeit mit den Bildern der eigenen Erinnerung zu bekämpfen. Episoden, die wie Fotos eines Familienalbums scheinbar zusammenhanglos aneinandergestückelt erscheinen, beschwört sie wiederholt herauf. In dieser privaten Galerie der vorwiegend düsteren Stilleben gerinnt die verflossenene Zeit: Da sitzt Jolan als kleines Mädchen am Schlüsselloch und beobachtet, wie die Mutter unter der Lampe selbstvergessen Knöpfe annäht. "Das Licht fiel auf ein Stück über ihren Knien, der Rest von Mutter war eine graue Masse." - An einem anderen Tag erscheint Frau Franz, die mürrische Kinderfrau, und erhebt hinter Jolans Kinderstuhl ihre unvergessene Stimme: "Seit Jolan auf der Welt ist, haben wir keinen schönen Sommer mehr gehabt." Und - ungefähr 40 Jahre später, im Sommer 1996, sieht der Leser Jolan ziellos durch die Katakomben streifen, wo sie sich angesichts von Kuppeln und Säulen und Treppen noch einmal auf die Obsessionen der verstorbenen Mutter besinnt - auf deren Liebe zur Ewigen Stadt, zur sakralen Architektur und zu jenem namenlosen Priester, der durch die obskuren Erzählungen der Tanten geisterte.
Gedankensplitter und Assoziationsgestöber spiegeln das Chaos einer versunkenen Welt wider, in der Mütter, Töchter und Schwestern meist unter sich geblieben sind. "Es ist so, daß die Lebenden einander immer auch behindern", merkt Jolans Mutter lakonisch an. Vielleicht weisen die Frauen die Männer deshalb zurück - aus Angst vor freiheitsraubender Nähe. Vielleicht stellt Jolan auch deshalb nicht die wesentliche Frage: die Frage nach Identität und Verbleib ihres Vaters.
Als Gedankenleserin, Sprachbildnerin und Traumtänzerin glänzt Christina Viragh in ihrem neuen Buch. Was auf den ersten Blick wie ein Sammelsurium aus Stimmen, verworrenen Impressionen, Schattenrissen und wilden Zeitsprüngen wirkt, fügt sich am Ende zu einem kalkulierten Ganzen. In zwei Hälften unterteilt die Autorin ihr Passagenwerk, in dem sie durch die Ströme des Unbewußten treibt und identische Vorgänge aus den unterschiedlichen Perspektiven der beiden Hauptfiguren schildert. Spiegelbildlich kontrastiert sie die Darstellung der Tochter mit den Ausführungen der Mutter. Dem Bedürfnis nach Deckungsgleichheit entsprechend, überschreibt Viragh ihre Kapitel mit "sagt Jolan" und "Mutter sagte". Auf einem Herbstspaziergang durch Landschaft mit Brücke läßt Jolan anfangs der Mutter den Vortritt. Am Ende gibt sie, selbst Schritt und Tempo an, findet ihren Weg über die kleine Holzbrücke vorbei an blühenden Forsythienhecken. Obwohl die Zukunft ihr einen Moment verheißungsvoll aufleuchtet, verkraftet Jolan "das Fehlen" der Mutter nicht. "Nein", lautet deshalb das letzte Wort des Romans - trotzig und hilflos zugleich.
So wird Jolan ihren Streifzug durch die Stätten der Vergangenheit und Reservate der Erinnerung wohl fortsetzen und weist darin allerhand Geistesverwandtschaft mit der Autorin auf. Christina Viragh, 1953 in Budapest geboren, emigrierte 1960 mit ihren Eltern in die Schweiz, verbrachte mehrjährige Auslandsaufenthalte in Amerika und lebt inzwischen als Übersetzerin und Schriftstellerin in Rom. Mit ihren autobiographisch geprägten Texten kehrt sie oft zu den eigenen geographischen Bezugspunkten zurück wie ein Täter an den Tatort oder ein Archäologe an seine bevorzugten Grabungsfelder. Auch "Mutters Buch" rekonstruiert längst verblaßte seelische Konturen mithilfe authentischer 0rtsbesichtigungen. Indem Viragh Filmtechniken literarisch umsetzt, indem sie Nahaufnahmen, Zeitlupen und schnelle Schnitte von den Stationen ihres Lebens als Tochter anfertigt, aktiviert sie vergessen geglaubte Empfindungen und sichert die Spuren. "Ich versuche, dem auf die Spur zu kommen, wie sich Augenblicke wirklich präsentieren" sagt sie. Weil es ihr um Dichte und Färbung der sinnlichen Wahrnehmung geht, verzichtet sie auf das Erzählen einer chronolgisch dahinfließenden, an äußeren Handlungen orientierten Geschichte. Lieber leuchtet sie die Innenräume aus, tastet sich vorsichtig an den Steinbruch des Unbewußten heran, tupft und puzzelt, schwankt zwischen Tag und Traum und läßt keinen Zweifel daran, daß sie zu den Meisterinnen der Synästhesie und einem Nachwuchstalent des Nouveau Roman gehört. Ihre Leser allerdings stellt Christina Viragh von der ersten bis zur letzten Seite auf die Probe. Und wer nur einmal liest, der faßt es nicht: so viel unentschlüsselbare Privatheit, so viel hermetisch abgeriegeltes Gelände und jede Menge sperrige Satzgebäude! Viraghs an- und abschwellende Prosa-Koloraturen erfordern ein Übermaß an Geduld. Leises Bedauern darüber schleicht sich ein, daß literarisches Können nicht in jedem Fall ungebremste Leselust zur Folge hat. Eben noch kam im diesjährigen Bücherherbst Freude über die "neue deutsche Lesbarkeit" auf, da verdunkelt schon ein Satz aus "Mutters Buch" den himbeerroten Horizont: "... und was ich dir berichten oder beichten will, ist das Gefühl, daß der Hügel weiter unten das Gebüsch und der Wald den Atem anhielten."
Auch mit diesem Roman befindet sich Christina Viragh wieder unterwegs auf ihrer Reise in die Innerlichkeit. Die Geschichten der Vergangenheit will sie in Worte fassen, um ihrerseits nicht die Fassung zu verlieren. Sie durchstöbert die Archive des Gedächtnisses, will vorstoßen zu den verschütteten Schichten des Unterbewußtseins und schafft es doch nicht, den Faden zu finden, mit dessen Hilfe sie dem Labyrinth ihrer Seele entkommt. Ein Wust von Fragen türmt sich auf, verhallt im Raum, stößt nirgends auf Gehör.
"Wer war unvergeßlich?" erkundigt sich Jolan, die stets zaudernde und zweifelnde Tochter. Ruhelos fügt sie hinzu: "Was werden wir im Winter tun?", "Habe ich mir etwas zugezogen?", "Habe ich lange mit ihm telefoniert?", "Welche Frage klingt so?", "Wollte ich das?" Ein wahres Trommelfeuer von Ungereimtheiten wird hier entfacht und bringt doch den energischen Spazierschritt der Mutter am Ende ihres Lebens im Herbst 1994 nicht zum Stocken. "Langsames Gehen", sagt die alte Dame, "ist unsachlich, weil es die Eindrücke ins Subjektive verdreht". Der feste Boden unter den Füßen und ein gerüttelt Maß an Wortkargheit wappnen sie gegen die Springflut der Gefühle.
Und so bleibt Jolan nichts anderes übrig, als die Einsamkeit mit den Bildern der eigenen Erinnerung zu bekämpfen. Episoden, die wie Fotos eines Familienalbums scheinbar zusammenhanglos aneinandergestückelt erscheinen, beschwört sie wiederholt herauf. In dieser privaten Galerie der vorwiegend düsteren Stilleben gerinnt die verflossenene Zeit: Da sitzt Jolan als kleines Mädchen am Schlüsselloch und beobachtet, wie die Mutter unter der Lampe selbstvergessen Knöpfe annäht. "Das Licht fiel auf ein Stück über ihren Knien, der Rest von Mutter war eine graue Masse." - An einem anderen Tag erscheint Frau Franz, die mürrische Kinderfrau, und erhebt hinter Jolans Kinderstuhl ihre unvergessene Stimme: "Seit Jolan auf der Welt ist, haben wir keinen schönen Sommer mehr gehabt." Und - ungefähr 40 Jahre später, im Sommer 1996, sieht der Leser Jolan ziellos durch die Katakomben streifen, wo sie sich angesichts von Kuppeln und Säulen und Treppen noch einmal auf die Obsessionen der verstorbenen Mutter besinnt - auf deren Liebe zur Ewigen Stadt, zur sakralen Architektur und zu jenem namenlosen Priester, der durch die obskuren Erzählungen der Tanten geisterte.
Gedankensplitter und Assoziationsgestöber spiegeln das Chaos einer versunkenen Welt wider, in der Mütter, Töchter und Schwestern meist unter sich geblieben sind. "Es ist so, daß die Lebenden einander immer auch behindern", merkt Jolans Mutter lakonisch an. Vielleicht weisen die Frauen die Männer deshalb zurück - aus Angst vor freiheitsraubender Nähe. Vielleicht stellt Jolan auch deshalb nicht die wesentliche Frage: die Frage nach Identität und Verbleib ihres Vaters.
Als Gedankenleserin, Sprachbildnerin und Traumtänzerin glänzt Christina Viragh in ihrem neuen Buch. Was auf den ersten Blick wie ein Sammelsurium aus Stimmen, verworrenen Impressionen, Schattenrissen und wilden Zeitsprüngen wirkt, fügt sich am Ende zu einem kalkulierten Ganzen. In zwei Hälften unterteilt die Autorin ihr Passagenwerk, in dem sie durch die Ströme des Unbewußten treibt und identische Vorgänge aus den unterschiedlichen Perspektiven der beiden Hauptfiguren schildert. Spiegelbildlich kontrastiert sie die Darstellung der Tochter mit den Ausführungen der Mutter. Dem Bedürfnis nach Deckungsgleichheit entsprechend, überschreibt Viragh ihre Kapitel mit "sagt Jolan" und "Mutter sagte". Auf einem Herbstspaziergang durch Landschaft mit Brücke läßt Jolan anfangs der Mutter den Vortritt. Am Ende gibt sie, selbst Schritt und Tempo an, findet ihren Weg über die kleine Holzbrücke vorbei an blühenden Forsythienhecken. Obwohl die Zukunft ihr einen Moment verheißungsvoll aufleuchtet, verkraftet Jolan "das Fehlen" der Mutter nicht. "Nein", lautet deshalb das letzte Wort des Romans - trotzig und hilflos zugleich.
So wird Jolan ihren Streifzug durch die Stätten der Vergangenheit und Reservate der Erinnerung wohl fortsetzen und weist darin allerhand Geistesverwandtschaft mit der Autorin auf. Christina Viragh, 1953 in Budapest geboren, emigrierte 1960 mit ihren Eltern in die Schweiz, verbrachte mehrjährige Auslandsaufenthalte in Amerika und lebt inzwischen als Übersetzerin und Schriftstellerin in Rom. Mit ihren autobiographisch geprägten Texten kehrt sie oft zu den eigenen geographischen Bezugspunkten zurück wie ein Täter an den Tatort oder ein Archäologe an seine bevorzugten Grabungsfelder. Auch "Mutters Buch" rekonstruiert längst verblaßte seelische Konturen mithilfe authentischer 0rtsbesichtigungen. Indem Viragh Filmtechniken literarisch umsetzt, indem sie Nahaufnahmen, Zeitlupen und schnelle Schnitte von den Stationen ihres Lebens als Tochter anfertigt, aktiviert sie vergessen geglaubte Empfindungen und sichert die Spuren. "Ich versuche, dem auf die Spur zu kommen, wie sich Augenblicke wirklich präsentieren" sagt sie. Weil es ihr um Dichte und Färbung der sinnlichen Wahrnehmung geht, verzichtet sie auf das Erzählen einer chronolgisch dahinfließenden, an äußeren Handlungen orientierten Geschichte. Lieber leuchtet sie die Innenräume aus, tastet sich vorsichtig an den Steinbruch des Unbewußten heran, tupft und puzzelt, schwankt zwischen Tag und Traum und läßt keinen Zweifel daran, daß sie zu den Meisterinnen der Synästhesie und einem Nachwuchstalent des Nouveau Roman gehört. Ihre Leser allerdings stellt Christina Viragh von der ersten bis zur letzten Seite auf die Probe. Und wer nur einmal liest, der faßt es nicht: so viel unentschlüsselbare Privatheit, so viel hermetisch abgeriegeltes Gelände und jede Menge sperrige Satzgebäude! Viraghs an- und abschwellende Prosa-Koloraturen erfordern ein Übermaß an Geduld. Leises Bedauern darüber schleicht sich ein, daß literarisches Können nicht in jedem Fall ungebremste Leselust zur Folge hat. Eben noch kam im diesjährigen Bücherherbst Freude über die "neue deutsche Lesbarkeit" auf, da verdunkelt schon ein Satz aus "Mutters Buch" den himbeerroten Horizont: "... und was ich dir berichten oder beichten will, ist das Gefühl, daß der Hügel weiter unten das Gebüsch und der Wald den Atem anhielten."