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Mystische Bild- und Erzählmeditationen

Neben literarischen Werken verfasste John Berger eine Reihe von kunsthistorischen Texten und Kritiken. 2010 erschien sein bislang letzter Roman. Obwohl er in den 50er-Jahren aufhörte zu malen, sei ihm das Zeichnen nach wie vor ein Bedürfnis, so Berger. Überzeugender Beweis: sein neues Buch.

Von Michaela Schmitz | 16.07.2013
    Begonnen hatte es mit dem Versuch, ein abgeblättertes Ölgemälde aus einem Moskauer Trödelladen zu restaurieren. Das mit Kleber 1922 signierte Bild zeigt einen Strauß Chrysanthemen, abgelegt vor einer Keramikvase. Während der namenlose Erzähler einen weißen Fleck nach dem anderen übermalt, verliert er nicht nur sein Zeitgefühl, sondern auch seinen Sinn für Identität.

    "Stück für Stück, Ton für Ton näherte ich mich methodisch dem Blick, der zu einem Augenpaar gehörte, das bis dahin nicht meins gewesen war. (…) Ich entdeckte, wie das Licht, das in der Ecke eines kleinen Zimmers mit zwei abblätternden Wänden auf ein halbes Dutzend Blumen fällt, eine Art Versprechen für eine ferne, unvorstellbare Zukunft sein kann. (…) Ein Augenblick wurde für einen Moment gerettet. Ein Augenblick, der vor meiner Geburt lag. Ist es möglich, ein Versprechen in die Vergangenheit zu schicken?"

    Die Wiederherstellung des Gemäldes bringt den Erzähler auf eine kühne Idee: Wie wäre es, Bilder zu rekonstruieren, die gar nicht mehr existieren? Er hat dabei das Skizzenbuch des 1632 in Amsterdam geborenen Baruch de Spinoza vor Augen. Der Philosoph, auf Portugiesisch Bento de Espinosa genannt, soll regelmäßig gezeichnet haben. Doch sein Skizzenbuch wurde nie gefunden. Als dem Erzähler ein leeres Zeichenbuch in die Hände fällt, ist für ihn klar: Das wird "Bentos Skizzenbuch". Doch wie kann er etwas zeichnen, das er nie gesehen hat?

    "Wir zeichnen nicht nur, um etwas Beobachtetes für andere sichtbar zu machen, sondern auch, um etwas Unsichtbares an seinen ungewissen Bestimmungsort zu begleiten."

    Spinoza ist für den Erzähler der ideale Lehrmeister für genaueres Sehen. Und das gleich in doppelter Hinsicht. Seinen Lebensunterhalt verdiente der unabhängige Philosoph zeitlebens als Linsenschleifer. Mit der Herstellung von Ferngläsern und Mikroskopen erweiterte er das Blickfeld des für das bloße Auge Sichtbaren in die Nähe und Ferne. Auch seine philosophische Arbeit zielte auf die größtmögliche Erweiterung gedanklicher Tiefenschärfe.

    Die erste Beschreibung einer Zeichnung in "Bentos Skizzenbuch" ist nicht zufällig eine Iris. Mit ihren Attributen und ihrem Symbolgehalt ist die Iris eine ideale Verkörperung der spinozistischen Weltsicht. Die königliche Blume wurde nach der Göttin des Regenbogens benannt und ist Namensgeberin der für das Sehen unentbehrlichen Regenbogenhaut.

    "Sie ist scharlachrot und braun, dazu gelb, weiß, Kupfer; die Farben der Instrumente eines selbstvergessen vor sich hinspielenden Blasorchesters. Die Stengel, Kelche und Blätter selbst sind von einem blassen Chromoxidgrün. (...) Immer wenn im Frühling die Iris erblüht, ertappe ich mich dabei, wie ich sie zeichne – als ob ich einem Befehl folgen würde. (…) Jede Iris ist eine Prophezeiung: gleichzeitig erstaunlich und ruhig."

    Die Iris gilt als Mittlerin zwischen Göttern und Menschen, Diesseits und Jenseits und ist Symbol für die Verheißung von Frieden und Versöhnung. Sie steht kultur- und religionsübergreifend für das Verbindende.

    Auch in Spinozas Weltsicht sind Ideen und Materie, ist alles und jeder mit allem und jedem verbunden. Für ihn sind Körper und Geist lediglich unterschiedliche Attribute einer einzigen, alles verbindenden göttlichen Substanz. Denn die gesamte Welt der Natur ist nach Spinoza ihrem Ursprung nach göttlich. Mit diesem Denken steht er nicht nur im Widerspruch zu den Dogmen der monotheistischen Religionen, sondern auch zum dualistischen Menschenbild der Aufklärung in der Nachfolge Descartes. Mit seiner nicht-dualistischen Philosophie scheint der singuläre Denker aus heutiger Sicht seiner Zeit weit voraus gewesen zu sein und zentrale Gedanken des Poststrukturalismus vorweggenommen zu haben. Spinozas Bild von der Welt entspricht eher dem Wurzelgeflecht eines Rhizoms, aus der Pflanzen wie zum Beispiel die Iris wachsen. Das Rhizom ist ein zentraler Begriff der poststrukturalistischen Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Es ist Beispiel für ein "vielwurzelig" verflochtenes System, das nicht in Dichotomien aufgeht, und bedeutet die Befreiung von definierten Machtstrukturen, die auch Spinoza von Anfang an rücksichtslos kritisierte.

    Die nicht hierarchisch vernetzte Struktur des Rhizoms ist wohl auch Modell für "Bentos Skizzenbuch" selbst gewesen. Zwischen ausgewählten Zitaten Spinozas wachsen scheinbar zufällig skizzenhafte Porträts von Menschen, Zeichnungen von Pflanzen oder Landschaften und kleine Geschichten aus dem Alltag des Erzählers. Nichts baut zwingend aufeinander auf und doch sind alle Bestandteile irgendwie auf geheime Weise miteinander verbunden.

    "Bentos Skizzenbuch" ist so überreich an Bildern und Ideen von atemberaubender Fülle und Reife, dass man fast nicht umhin kann, das so bescheiden daherkommende Bändchen als Lebensernte des 86-jährigen Autors John Berger selbst zu betrachten.

    "In diesem Herbst sind die Zwetschgenbäume von Früchten überladen. (…) Wenn sie reif sind, erhalten die purpurnen Früchte einen Schimmer von Abenddämmerung. Und falls gegen Mittag die Sonne scheint – und es hat endlos viele Sommertage gegeben –, siehst du unter dem Laub ganze Trauben aus dämmerungsfarbenen Obst."

    Es ist ein Herbst, der vielleicht sein Letzter sein könnte. Aber mitten im Zwetschgen-Meer entdeckt der Zeichner eine winzige Schnecke, an der er sich noch tagelang orientiert. In der christlichen Symbolik steht die Schnecke für Auferstehung. Die Vielzahl der Bedeutungsebenen, religiöser Symbole, kulturgeschichtlicher Bezüge und politischer Verweise in "Bentos Skizzenbuch" ist überwältigend. Die mystischen Bild- und Erzählmeditationen sind von unvergleichlicher Intensität und beispielloser sinnlicher Präsenz, wie sie nur von der geübten Hand eines alten Meisters wie John Berger stammen können. Spirituellen Höhlenzeichnungen oder Kalligrafien großer Sho-Meister vergleichbar, scheinen die Linien mit dem ganzen Körper gezeichnet worden zu sein. Ihre Kraft ziehen sie aus der zärtlichen Verbundenheit mit dem Gezeichneten. Faszinierend schlichte Bilder, die Spinozas Versprechen glaubhaft im Heute einzulösen vermögen.


    John Berger: "Bentos Skizzenbuch", aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes, Carl Hanser Verlag 2013, 176 Seiten, 19,90 EUR.