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Mystischer Blick auf das Alltägliche

Am liebsten betrachtet John Berger das alltägliche Leben der Menschen und die Natur. Daraus destilliert er Überlegungen, die den Leser überraschen. Zu seinem 80. Geburtstag ist das Buch "Hier, wo wir uns begegnen" des englischen Schriftstellers und Malers erschienen.

Von Matthias Kußmann | 02.11.2006
    "Über meine Arbeit zu sprechen, interessiert mich nicht besonders. Wenn mich irgend jemand über Beduinen in der Wüste interviewte, falls ich sie gesehen hätte - ja, darüber würde ich gerne reden. Ich interessiere mich nicht besonders. Aber ich bin an Menschen interessiert, an Handlungen. Und ich bin intelligent genug zu begreifen, dass man möglicherweise sagen könnte, dass das nur eine Ausrede sei. Dann würde ich antworten: Vielleicht stimmt es, vielleicht auch nicht."

    Er spreche nicht gern über sich, sagt der Autor und Bildende Künstler John Berger in diesem Interview von 1991. Jetzt hat er es doch getan - in seinem neuen Buch. Es ist eine Art fragmentarische Autobiografie und heißt "Hier, wo wir uns begegnen". Berger erzählt darin in unzusammenhängenden Kapiteln von Begegnungen mit Orten und Menschen, wobei er immer wieder die Kategorien Raum und Zeit außer Kraft setzt. Der Ich-Erzähler John trifft in Lissabon plötzlich seine verstorbene Mutter (ausgerechnet in Lissabon, wo sie nie war) - oder in Krakau Ken, einen Mann, der ihn in seiner Jugend tief geprägt hat; allerdings ist auch der längst tot. Der Autor vollzieht das Sprunghafte, Alogische der Erinnerung nach: Leute tauchen auf und verschwinden wieder, die Zeiten mischen sich.

    Wie in seinen anderen Büchern, ist Berger auch hier der Natur und den Menschen mit allen Sinnen zugewandt. Nicht umsonst nannte er einen Essayband, der vor einigen Jahren erschien, "Gegen die Abwertung der Welt". Man könnte John Berger - im besten Sinn - als einen Ja-Sager bezeichnen. Den Umschlag seines neuen Buchs ziert denn auch eine Zeichnung von ihm: ein mit einfachen Linien angedeutetes Gesicht, Auge, Nase, Mund - und statt einer Unterlippe steht da das Wort "yes". Wahrnehmen - und Berger ist ein Meister der Wahrnehmung - heißt Bejahen. Über Lissabon schreibt er:

    "Lissabons Bezug zur Welt des Sichtbaren ist unter allen Städten einzigartig. Sie treibt damit ihr Spiel. Als wären ihre Straßen Plafonds, sind Plätze und Gassen mit Mustern aus weißen und schwarzen Steinen gepflastert. Ihre Mauern sind innen und außen, überall, wohin das Auge reicht, mit den berühmten Azulejos ausgelegt. Und diese Kacheln berichten von all den sagenhaften Dingen, die es auf der Welt zu entdecken gibt: Ein Affe spielt Flöte, eine Frau liest Trauben, Heilige beten, Walfische schwimmen im Meer, Kreuzritter fahren auf ihren Schiffen, Basilikum wächst, Elstern fliegen, Verliebte liegen sich in den Armen, ein zahmer Löwe, ein wie ein Leopard gefleckter Moeia-Fisch... Die Azulejos schärfen die Aufmerksamkeit für alles Sichtbare."

    John Berger wurde am 5. November 1926 in London geboren. Er besuchte die Kunstakademie, war Zeichenlehrer und Kunstkritiker und schrieb Drehbücher fürs Kino; seit vielen Jahren lebt er zurück¬ezogen in einem ostfranzösischen Bergdorf – von wo aus er freilich immer wieder auf ausgedehnte Reisen geht. Egal, was Berger schreibt: Romane, Erzählungen oder Essays zur Kunstgeschichte, seine Texte sind so klar wie elegant. Da spricht ein sehr gebildeter und weltgewandter Autor ohne alle Allüren - ein Autor übrigens auch, der sich politisch immer wieder für Schwache und Ausgegrenzte einsetzte. So gab es 1972 einen Skandal, als er für seinen Roman "G" den Booker-Preis erhielt und das Geld mit einer Gruppe der "Black Panther" teilte. In der Trilogie "Von ihrer Hände Arbeit" aus den 80er Jahren erzählt er mit großer Sympathie vom Leben der einfachen Leute seines Dorfs; im Roman "King" von einem alten Paar, das auf einem Schrottplatz lebt.

    Neben literarischen Arbeiten hat Berger zahlreiche Bücher über Bildende Kunst geschrieben, etwa über Picasso, Dürer und Goya. Seine Fragen an deren Bilder sind einfach, wirken manchmal wie die eines Laien oder staunenden Kindes. "Die Kunst des Sehens" heißt ein Buch von ihm. Und dieses Sehen ist - genau wie seine Texte - zwar sehr differenziert, aber völlig "unakademisch". Es ist ein poetischer Blick:

    "Das ist wohl so, weil ich nie auf der Universität war. Denn mir scheint, daß an den Universitäten die Teilung in verschiedene Studienfächer unvermeidbar ist - genau wie die Mauern zwischen ihnen. Und diese Mauern reichen bis zum Dach der gesamten Institution. Natürlich ermöglichen diese Mauern und das Dach profunde Forschungen eines Ausmaßes, dessen ich nie fähig wäre. Also verurteile ich dieses System nicht, natürlich nicht, es produziert Außergewöhnliches. Aber es ergab sich einfach, dass ich es nicht durchlief. Deswegen bin ich mir dieser Mauern nicht besonders bewusst. "

    Am liebsten betrachtet Berger das alltägliche Leben der Menschen und die Natur. Daraus destilliert er Überlegungen und Einsichten, die den Leser zunächst überraschen, dann aber schnell überzeugen - weil sie auf den zweiten Blick eben nicht weit hergeholt sind, sondern im Gegenteil Räume öffnen, mögliche Zusammenhänge zeigen. Der Ich-Erzähler seines neuen Buchs entdeckt bei einem Spaziergang wilden Sauerampfer:

    ""Seine Blätter werden so groß wie die von jungem Löwenzahn, doch ihr Geschmack ist süßer und herber. Die Pflanzen stehen in Büscheln zusammen. Ich setze mich auf die Erde und sammle die geschnittenen Blätter in mein auf dem Gras ausgebreitetes Taschentuch. Die Konvention, das Geschlecht des Menschen hinter Feigenblättern zu verstecken, ist komisch - die Blätter glänzen zu sehr und wirken heraldisch. Der wilde Sauerampfer würde sich viel besser dazu eignen, denn seine Blätter fühlen sich an wie Haut, wie grüne Haut. Ja, genau so. Ich habe genug Kräuter gesammelt und bleibe im Gras sitzen. Es ist kein einziger Vogel zu sehen und nur sporadisch erklingt ein lautes Trillern aus dem Laub der Bäume und Büsche um mich her. Als würden die Blätter selbst singen! Ich erinnere mich, daß ich einmal in der Gordon Avenue das gleiche Gefühl gehabt hatte. Aber zwischen den beiden Augenblicken liegen keine Jahrzehnte, sondern sie gehören zur gleichen Stunde, zur gleichen Jahreszeit. (...) Eine Art Schwindel erfaßt mich. Die Worte verlieren ihren Sinn. Alles ist ein unaufhörliches Ganzes.""

    Alles ist eins, und eins ist alles. Im letzten großen Kapitel des Buches erzählt John Berger von der polnischen Provinz, von Reisen dorthin und von Menschen, die er kennen lernte. Auch hier finden wir seinen mystischen Blick auf das Alltägliche. Das klingt vielleicht großartig, ist es bei Berger aber nicht. Seine Mystik kommt einfach daher, ohne Tamtam. Etwa, wenn er den Anblick eines schlafenden Paares mit seinem kleinen Kind beschreibt. Es ist eine der schönsten Stellen seines neuen Buchs:

    ""Ich schlenderte zurück zum Haus. Wenn man sich nicht erschreckt, verlangsamt das Dunkel unsere Schritte. Man hat mehr Zeit. Die Fenster waren dunkel, kein Licht. Ich stieg auf die Betonplattform und ertastete meinen Weg durch den knarrenden Eingang des Portikus. Das Licht ließ ich aus. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Das wenige Licht, das durch das Fenster fiel, hing wie ein graues Netz über dem Bett. Alle drei schliefen. Olek lehnte an der Brust seines Vaters, die Händchen am Mund, und Danka hatte sich an Mireks Rücken geschmiegt. Ein Nachtfalter stieß im Dunkeln gegen meine Hand. Nur die Körper der Menschen können nackt sein, und nur Menschen möchten und müssen gemeinsam schlafen, Haut an Haut, die ganze Nacht.""