Sonntag, 19. Mai 2024

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"Mythen der Nationen 1945 - Arena der Erinnerungen"

Novy: Was ist Geschichte? Immer auch eine Konstruktion der Nachlebenden. Sie sortieren die Fakten, deuten sie und machen sich ein Bild. Das Deutsche Historische Museum eröffnet jetzt eine Ausstellung, in der nach 60 Jahren nun die Bilanz der Nachkriegszeit gezogen werden soll, eine Geschichte der Vorstellungen, die man sich in Europa, aber auch den USA und Israel vom Zweiten Weltkrieg und vom Völkermord nachträglich gemacht hat. Carsten Probst in Berlin, Sie haben diese Ausstellung gesehen. Eine Ausstellung über Vorstellungen und Bilder. Aber was für Bilder?

Moderation: Beatrix Novy | 01.10.2004
    Probst: Die Ausstellung könnte man wahrscheinlich als so etwas wie die Summe des bisherigen Lebenswerkes des Kunsthistoriker Horst Bredekamp bezeichnen, der als wissenschaftlicher Berater zusammen mit dem Historiker Etienne Francois auch mitgewirkt hat und Bredekamps Grundthese, die er seit Jahren, wenn nicht ist Jahrzehnten vertritt, ist sozusagen die des Bildes als Medium sozialer Konflikte, kann man sagen; anders gesagt Bilder sind konstitutiv für Geschichte und die Erinnerung an Geschichte und wir bedürfen Bildern als Bildmonumente einer besonderen historischen Analyse und sozusagen eine Vermischung von kunsthistorischen soziologischen auch politischen Aspekten. Deswegen spielen Bilder hier für die Geschichtserzählung selber die zentrale Rolle. Geschichte wird sozusagen gegen den Bildstrich gebürstet und in dem Sinn geht es in dieser Ausstellung, die eigentlich chronologisch nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt, trotzdem nicht um eine chronologische Nacherzählung irgendwelcher Mythenbildungen in den Nationen, sondern man ist sofort umgeben von Bildzeugnissen aller Art, die die Wände pflastern, sobald man den Museumsraum betritt, gewissermaßen quer durch alle Nationalitäten, es sind insgesamt 30, die hier vorgeführt werden, hindurch europäische, aber auch die USA sind dabei, Bildzeugnisse, die sich nach Themen ordnen, wie nationale Mythen nach dem Zweiten Weltkrieg schockartig entstanden sind und auch in einer sehr rasanten Entwicklung, die hier dann gewissermaßen beobachtet wird, wie das Entstehen von so genannten Meistererzählungen, das heißt, hauptsächlichen Strömen oder Leitmotiven von neuer nationaler Identität nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.

    Novy: Dann nehme Sie doch am besten mal ein Beispiel heraus von einer dieser Nationen, welche Meistererzählung, welcher Mythos wurde beispielsweise in Deutschland gepflegt?

    Probst: Der Punkt in dieser Ausstellung liegt aber auch vor allem auf dem Ausland. Die Themengruppierung beginnt eigentlich bei den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und ihrer Verarbeitung der Siegermentalität, die dann aber nach und nach und das wird besonders am Beispiel der Sowjetunion, immer mehr bekämpft wird und das ist eine weitere große These dieser Ausstellung, diese Mythenbildung, also der Sieger der Geschichte, die Befreier, die großen Heilsbringer, die das Übel besiegt haben, diese Thesen, Mythologien werden später von konkurrierenden nationalen Mythen bekämpft und müssen schließlich auch in diesem Kampf untergehen oder aufgeben. Was die deutsche Mythenbildung betrifft ist es auch gespalten in Ost und West, hier spielen in dieser Ausstellung vor allem Filme eine wichtige Rolle, die als Zeitdokumente überall in kleinen Schnipseln immer wieder aufflackern, ohne Ton übrigens und die sozusagen Erzählungen bilden von nationalen Identitätsfindungen in Westdeutschland beispielsweise über "Das Boot" von Wolfgang Petersen oder viel früher in den 50er Jahren noch "Die Brücke" von Bernhard Wicki, wo ein bisschen so der gute, brave Deutsche, der das alles ja nicht gewollt hat, rehabilitiert wird. Das Entsetzen dann auch in der Holocaust-Serie in der 70er Jahren oder "Schindlers Liste". All das, um das nationale Gewissen, gerade im Westen, wieder ein bisschen ins rechte Licht zu rücken. In der DDR haben wir ganz prominent Frank Beyers "Nackt Unter den Wölfen", das wird hier auch in Filmschnipseln immer wieder gezeigt. Diese Ausstellung ist gar nicht so sehr daran interessiert, alles ellenlang auszuwalzen, sondern sie bringt immer wieder nur Bilder als punktförmige Strahlungen gewissermaßen in den Blick und man wird von diesem Bilderkarussell in einer dauernden Bewegung umgeben.

    Novy: Kommt dabei eine Bewertung heraus, wird etwas über die Produktivität eines Mythos gesagt?

    Probst: Ja, unbedingt. Diese Mythen, diese Bilder sind staaten- und nationenbildend und es wird behauptet, ohne diese Mythenbildung hätte es die friedliche Nachkriegsordnung in Europa auch nicht gegeben.