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Mythos Indien entzaubert

Der Aufstieg Indiens hat für die Menschen nicht nur Vorteile. Deshalb regt sich Protest - auf vielen Ebenen und mit unterschiedlichen Mitteln. Der Assoziation-A-Verlag hat nun einen Sammelband veröffentlicht, der sich dem Phänomen sozialer Bewegungen in Indien widmet.

Von Gemma Pörzgen | 08.07.2013
    Es gibt Widerstand in Indien. Gegen Staudämme, Atomkraftwerke, Sonderwirtschaftszonen, miserable Wohnverhältnisse und vieles mehr – kurzum: gegen Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten, die das rasante Wachstum des riesigen südasiatischen Landes mit 1,2 Milliarden Menschen nach sich zieht. Der vorliegende Sammelband liefert anhand von Interviews, Artikeln, Fotos und zahlreichen Fallbeispielen einen Einblick in die Vielfalt und Breite dieser Protestbewegungen. Die Ethnologin Elina Fleig und der Journalist Jürgen Weber sowie ihr indischer Mitherausgeber, der Wissenschaftler Madhuresh Kumar, lassen die bedeutendsten indischen Aktivisten zu Wort kommen, so zum Beispiel die renommierte Menschenrechtlerin Aruna Roy, die auf die langjährige Tradition der sozialen Bewegungen in Indien eingeht:

    "Indiens Vermächtnis des Unabhängigkeitskampfes war stark von Mahatma Ghandi beeinflusst, wobei politisches Handeln nicht nur hinsichtlich der in einer Demokratie stattfindenden Wahlen oder bezüglich eines Amtes definiert wurde, sondern als eine Politik des Gewissens, des Widerstands und der kreativen Aktion. Mehr als 60 Jahre parlamentarische Demokratie haben uns gezeigt, wie wichtig Wahlen sind, aber auch ihre zahlreichen Unzulänglichkeiten und Grenzen deutlich gemacht. Es sind die Armen, die mehr noch als alle anderen demokratische Räume brauchen und schützen. Das ist etwas, das nur von wenigen erkannt und beachtet wird."

    Das Buch macht deutlich, dass sich angesichts der hohen Analphabetenrate viele Probleme in Indien ganz anders stellen. Nur eine Minderheit der Bevölkerung gehört einer gebildeten Schicht an, die auf Schriftkultur setzt. Viele Menschen aus ärmeren Schichten und auch die Angehörigen der indigenen Adivasi-Community verständigen sich vor allem mündlich. Damit spielt orale Politikvermittlung eine zentrale Rolle. Wie die Stimme der Machtlosen trotzdem Gehör finden kann, wird in dem Kapitel "Eine gesprochene Revolution" deutlich. Es geht darin um ein Telefon-Online Projekt, an das sich Menschen mit ihren Sorgen wenden können.

    "Hört man sich die Berichte auf www.cgnetswara.net an, ist das eine außergewöhnliche Erfahrung. Sie stammen von Menschen, deren Stimmen ebenso eigen klingen wie ihre Geschichten. Oft wird im Dialekt gesprochen und manchmal in einer Sprache, die nur von einer Adivasi-Community gesprochen wird. In Indien ist dies das erste Mal, dass ganze einfache Menschen entscheiden, worüber berichtet wird und auf welche Weise."

    Für viele ärmere oder benachteiligte Menschen bietet sich auf diese Weise die Chance mitzureden, ihre Geschichte zu erzählen. Und ihre Erzählungen über das Online-Telefon können wichtige Folgen haben, wie ein Beispiel aus dem Buch zeigt:

    "Im November 2011 berichtete Khuturam Sunani, dass ein 12jähriges Schulmädchen vom Direktor ihrer Schule belästigt worden war. Die Eltern hatten deshalb zehn Tage zuvor Beschwerde eingereicht, aber der Direktor war nicht festgenommen worden. Khuturam nannte in seiner Botschaft auch die Dienstnummer der zuständigen Polizeibeamten. Schon kurz nach der Veröffentlichung dieser Meldung riefen zahlreiche entrüstete Hörerinnen bei den Verantwortlichen, namentlich dem Leiter der Polizeibehörde und dem Leiter der Distriktverwaltung, an. Drei Tage später wurde der Direktor festgenommen."

    Das Buch beschreibt eine Fülle solcher Projekte, die neue Formen der Ermächtigung von Menschen zeigen, sei es im radikalen Frauenstraßentheater, im Widerstand gegen Häuserräumungen oder im Kampf von Bauern gegen multinationale Konzerne. Dabei wird zum einen deutlich, wie geschickt die Basisbewegungen die neuen digitalen Möglichkeiten von Online-Plattformen und sozialen Medien nutzen, zum anderen zeigt sich aber auch, dass internationale Solidarität über Grenzen hinweg immer wichtiger wird. Denn einige der politischen Herausforderungen in Indien klingen auch in Deutschland hochaktuell - angesichts verbreiteter Parteienverdrossenheit und des wachsenden Engagements vieler Bürger in lokalen Basisbewegungen. So schreibt die indische Aktivistin Medha Patkar über Gewaltfreiheit und die Unabhängigkeit von Parteien in ihrer Heimat:

    "Einige Menschen haben nicht daran geglaubt, dass durch Aktionen und Basisbewegungen bedeutende Veränderungen herbeigeführt werden können. Sie vertraten die Ansicht, diese Bewegungen seien apolitisch. Wir aber sind nach kritischer Analyse zu dem Ergebnis gekommen, dass wir politisch sind, während es heute eher die Parteien sind, die aufgrund der Bündnisse und Kompromisse, die sie schließen, als apolitisch bezeichnet werden können. Auf gewisse Weise sind wir die neuen Parteien, da wir die Charakteristiken, die sie einst auszeichneten, vereinen: Wir häufen Wissen an und verfügen über eine Ideologie, einen Kader und ein Programm."

    Mit ihrem Buch entzaubern die Herausgeber den Mythos vom aufstrebenden Indien und der größten Demokratie der Welt. Die Lektüre verdeutlicht, wie hoch der Preis für das rasante Wirtschaftswachstum und den Aufstieg des Schwellenlandes ist und wie viele Inder dagegen in unterschiedlichen Initiativen, Bewegungen und Protestformen aufbegehren. Das Buch gibt sowohl Indienkennern als auch unkundigen Lesern einen erstaunlichen Einblick in die indische Gesellschaft. Eine ausführliche Linkliste im Anhang bietet darüber hinaus die Möglichkeit, weitere Quellen zu erschließen oder die geschilderten Entwicklungen weiter zu verfolgen.

    Buchinfo:

    Elina Fleig/Madhuresh Kumar/Jürgen Weber (Hrsg.): "Speak Up!: Sozialer Aufbruch und Widerstand in Indien".
    Assoziation A Verlag, 320 Seiten, 18 Euro
    ISBN: 978-3-862-414239