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Mythos Marseille

Immer mehr Menschen entdecken die zweitgrößte Stadt Frankreichs, die lange Zeit unter ihrem schlechten Image gelitten hat. Die Stadt soll die Touristen- und Hightech-Metropole des Südens werden, doch die versteckten Plätze, die die Stadt wegen der wirtschaftlichen Stagnation der letzten Jahrzehnte so liebenswert gemacht haben, verschwinden nach und nach.

Von Harald Brandt |
    Seit dem Ausbau der Schnellzugtrasse zwischen Paris und Marseille im Jahr 2001 braucht man nur noch drei Stunden, um von der französischen Hauptstadt in die Metropole des Südens zu kommen. Mit über 300 Stundenkilometern rast der Hochgeschwindigkeitszug TGV durch das Rhonetal - und scheint dabei psychologische Barrieren zu durchbrechen ...

    Immer mehr Menschen entdecken die zweitgrößte Stadt Frankreichs, die lange Zeit unter ihrem schlechten Image gelitten hat. Aber die erste Welle der Marseillebegeisterung ist schon wieder am Abebben. Die bleierne Zeit der 1970er- und 1980er-Jahre ist zwar überwunden, große Bereiche der Innenstadt und des Hafens haben ein ganz neues Gesicht bekommen, aber immer noch gelten die Worte des Schweizer Autoren Blaise Cendrars, der Marseille in den 1920er-Jahren entdeckte und sofort von der Stadt fasziniert war:

    "Die Menschen in Marseille sind trotz ihrer Geschwätzigkeit verschwiegen und eigensinnig. Gott, ist diese Stadt schwierig zu durchschauen!"

    Wochenmarkt auf dem Cours Julien, ein langgezogener, baumbestandener Platz auf einem der Hügel von Marseille. Richtig kann man diese Stadt nur zu Fuß entdecken, und das bedeutet, keine Angst vor steilen Straßen zu haben.
    Die Caféterrassen sind voll, zwischen den Marktständen mit Früchten und Gemüse und den Kunsthandwerkern geben die Straßenmusiker von "Les mèches folles” ein Ständchen, die Sonne scheint und auch der Mistral, der kalte Wind aus dem Rhonetal, der die Stadt besonders im Frühjahr ordentlich durchrüttelt, scheint eine Pause zu machen.
    Ein guter Ort, um meinen akustischen Streifzug durch die 2600 Jahre alte Mittelmeermetropole zu beginnen ...

    Eine der steilen Straßen, die vom Cours Julien zum Alten Hafen hinunterführt, ist die Rue d'Aubagne. Fabio Montale, der Anti-Held in Jean-Claude Izzos Krimi "Total Kheops”, der viel zur aktuellen Marseillebegeisterung beigetragen hat, fühlt sich hier zu Hause :

    "Rue d´Aubagne. Diese Straße runterzugehen ist eine Reise.
    Geschäfte und Restaurants wie fremde Häfen. Italien, Griechenland, Türkei, Libanon, Madagaskar, La Réunion, Thailand, Vietnam, Afrika, Marokko, Tunesien, Algerien. Und als Bonbon, Arax, wo sie die besten Loukoum verkaufen."

    Wie Fabio Montale biege ich am unteren Ende der Rue d'Aubagne in die Rue Longue des Capucins ein. Die Gerüche von frischer Minze, Koriander, Kumin und grünem Pfeffer vermischen sich mit den Rufen der Händler, dem Knattern der Motorräder und den Schritten der Passanten, die in der engen Marktstraße von Stand zu Stand flanieren.
    Eilig sollte man es nicht haben, die Straße ist immer voller Menschen, und man kann hier am besten das bunte Völkergemisch studieren, das so typisch für diese Stadt ist.

    Pierre-Alain Hubert hat nicht nur die Wände der U-Bahnstation "Vieux Port - Alter Hafen” dekoriert, er ist auch einer der wenigen westlichen Feuerwerker, der von den Chinesen - die diese Kunst erfunden haben - anerkannt und hoch geschätzt wird. Jedes Jahr am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, richtet Hubert das Feuerwerk für seine Heimatstadt Marseille aus.

    Auf den Rasenflächen um den Stadtpalast Le Pharo, oberhalb der Hafenausfahrt, findet sich eine große Menschenmenge ein, die das 20-minütige Spektakel genießt.
    Es sind nicht nur die bengalischen Feuer auf Schiffen, die in der Mitte des Alten Hafens verankert sind und die Feuergirlanden im Nachthimmel, die die ganze Innenstadt in ein geisterhaftes Licht tauchen, die Huberts Inszenierung jedes Jahr zu einem besonderen Ereignis machen. Der weltbekannte Marseiller Feuerwerker benutzt die natürliche Bucht des Alten Hafens wie einen riesigen Resonanzkörper, der das Donnergrollen der Explosionen verstärkt und variiert.

    So schafft Pierre-Alain Hubert akustisch eine Einheit, er bringt das Zentrum Marseilles zum Schwingen, jeden Stein, jede Mauer, jedes Ponton auf den schwarzen Wellen des nächtlichen Hafens.

    Der Stadtpalast "Le Pharo” ist heute ein Konferenzzentrum, das Fort St. Jean auf der anderen Seite der Hafenausfahrt soll in ein Museum der mediterranen Kulturen verwandelt werden.

    Als es 1660 auf Anordnung von Ludwig XIV errichtet wurde, war das Fort weniger zur Verteidigung gegen ausländische Invasoren, als vielmehr zur Einschüchterung der rebellischen Marseiller Bevölkerung gedacht. Die Kanonen waren nicht auf das Meer sondern auf die Stadt gerichtet.

    Die Promenade Louis Brauquier am Fuß der hohen Festungsmauern ist ein beliebter Treffpunkt für Poeten, Angler und ehemalige Fremdenlegionäre. Die Mauern schützen vor dem Mistral, man kann in der Sonne sitzen und lesen, die Fähren und Segeljachten beobachten oder mit seinem Sitznachbarn über die jüngsten Ereignisse der Lokalpolitik debattieren. Und von den "pierres plates”, dem Felssockel, auf dem das Fort errichtet worden ist, haben ganze Generationen Marseiller ihren ersten Sprung ins Mittelmeer gewagt.

    Place de Lenche im Altstadtviertel Le Panier. Irgendwo hier muss der Artemistempel des griechischen Masilia gestanden haben. Als die Stadt 600 vor Christus von griechischen Einwandern aus Kleinasien gegründet wurde, errichtete man der Göttin, die die lange Reise von der heutigen Türkei bis ins westliche Mittelmeer geleitet hatte, einen Tempel zum Dank.
    In römischer Zeit war Diana die Schutzheilige der Stadt und die erste christliche Kirche hieß "Notre Dame des Fauves - Unsere Dame der wilden Tiere”.

    Obwohl der Mistral wieder stärker geworden ist, sind die Cafeterrassen auf dem Place de Lenche voll. Es sind hauptsächlich Einheimische, die Touristen bleiben lieber in den neuen, schicken Restaurants direkt am Alten Hafen. Das Altstadtviertel Le Panier ist in den letzten Jahren zwar grundlegend renoviert worden, aber hier Fuß zu fassen, ist für einen Zugewanderten immer noch schwer.

    Ich trinke meinen Café aus, gebe dem Straßenmusiker, der mir seinen Hut entgegenhält ein paar Münzen und werfe einen Blick auf die vergoldete Marienstatue hoch über der Stadt, auf der anderen Seite des Alten Hafens. Notre Dame de la Garde, die Schutzheilige von Marseille, die trotz ihrer christlichen Gewänder und des Jesuskinds in den Armen immer noch etwas von Artemis hat.

    Die Akustik der Kapelle im Zentrum der Vieille Charité, des ehemaligen Armenhauses von Marseille ist einzigartig. Ich stehe direkt unter der riesigen ovalen Kuppel, die Türen sind offen und die Geräusche des Stadtviertels Le Panier dringen in den Hallraum und verlieren sich im 40-sekündigen Echo.

    Die Kapelle des Marseiller Architekten Pierre Puget steht in einem großen rechteckigen Hof, der auf allen Seiten von dreistöckigen Bögengalerien umschlossen wird.

    Ende des 17. Jahrhunderts wurden hier sämtliche Arme und Obdachlose der Stadt untergebracht, nach der Französischen Revolution wurde die Charité ein Hospitz und später bezog die Armee hier Quartier. Erst auf Drängen des Architekten Le Corbusier wurde die vollkommen heruntergewirtschaftete Vieille Charité in den 1960er- und 1970er-Jahren restauriert.

    Verschiedene Museen und Kultureinrichtungen sind hier untergebracht, nach langem Hin- und Her auch ein Restaurant und eine Buchhandlung am Eingang, aber so richtig lebendig wirkt der Ort nicht.

    Und das ist typisch für Marseille: Die Stadt versteht es nicht, aus ihrer reichen Geschichte Kapital zu schlagen und die wenigen erhaltenen Monumente so zu nutzen, dass sie wieder zu Orten der Begegnung und des Austausches werden.

    Trotz aller Modernisierungsbemühungen wirkt Marseille an vielen Stellen wie eine grandiose Theaterkulisse, die auf einen begabten Regisseur wartet.

    Industriehafen Marseille, Trockendock 9. Vor vielen Jahren habe ich hier ein Interview mit Jean Soldani gemacht, einem der letzten Helmtaucher, der an seinem Luftschlauch hängend, unter den Bäuchen der Schiffe im halbleergepumpten Trockendock überprüft, ob die Ausrichtung der Kiellinie mit den am Boden des Docks aufgestellten Stützblöcken übereinstimmt.
    Trotz der heißen Sonne zog er Wollstrümpfe und zwei dicke Pullover an, bevor ihm ein Assistent in den unförmigen Tauchanzug half.
    "Unter Wasser ist es eiskalt", sagte er mir, "da müssen Sie sich schon gut einpacken, wenn Sie länger als ein paar Minuten bleiben wollen."

    Nach Beendigung des zweiten Weltkriegs gab es noch über hundert Helmtaucher im Marseiller Hafen - sie wurden für Reparaturarbeiten an den schwer beschädigten Kais und Docks eingesetzt. Aber mit dem Ende der Schiffsreparatur, die sich gegen die Konkurrenz aus Südostasien nicht behaupten konnte, sind auch die Helmtaucher verschwunden.

    Die Zeit der großen Handels - und Passagierschifffahrt ist vorbei. Der Hafen erholt sich nur langsam von den sozialen Konflikten der 1980er- und 1990er-Jahre, als die gewerkschaftlich organisierten Dockarbeiter den Hafen oft für Wochen lahmlegten.

    Betrachtet man alte Stadtpläne aus den 30er- und 40er-Jahren, dann sieht man ein Bündel von roten Linien, die aus allen Himmelsrichtungen auf den Hafen zulaufen: Es sind die regelmäßigen Fährverbindungen zwischen Marseille und Singapur, Hongkong, Alexandria, Casablanca, Buenos Aires, New York und Sydney. Das alles gibt es nicht mehr. Nur noch die Fähren nach Korsika, Algerien und Tunesien.

    Der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer weiter nach Norden ausgedehnte Industriehafen wirkt leer - wo früher Kaffee, Zucker, Weizen, Gewürze, Edelhölzer, Kopra und Wolle ausgeladen wurden, stehen heute nur noch unpersönliche Container.

    Die Haupteinnahmen des Hafens kommen durch Chemieprodukte und Erdöl, das bei den Terminals in Fos am Etang de Berre, nördlich von Marseille direkt in die transeuropäischen Pipelines eingespeist wird.

    Die Fahrt mit der Fähre zum Château d'If, der ehemaligen Gefängnisinsel, die Alexandre Dumas in seinem Roman "Der Graf von Monte Christo” verewigt hat, ist immer spektakulär, besonders wenn ein starker Mistral die weite Bucht von Marseille mit weißen Schaumkronen überzieht.

    Hinter dem Château d'If liegen die durch eine Hafenmole miteinander verbundenen Inseln Pommègues und Ratonneau. Auf Pommègues befinden sich eine Wetterstation, das erste Seuchenhospital von Marseille, wo im 16. und 17. Jahrhundert Schiffsbesatzungen unter Pestverdacht in Qarantäne gelegt wurden, sowie verfallene deutsche Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg.

    In den 1970er-Jahren sollte hier ein neues Stadtviertel entstehen, das durch regelmäßige Fähren mit verschiedenen Anlegestellen in Marseille verbunden ist.

    Auch das ist ein Projekt, das nicht so richtig "gegriffen” hat. Das "Einsiedlerleben” auf der Insel lockte nur wenige Menschen... Schnell abends ins Kino oder ins Theater zu fahren, ist nur möglich, wenn man ein eigenes Boot besitzt, und selbst dann macht das Wetter oft einen Strich durch die Rechnung. Wie heute. Der Mistral ist so stark geworden, dass sich kein Segler aus dem Hafen traut, und ich nur hoffen kann, dass die letzte Fähre aus Marseille auch wirklich kommt, um die wenigen Passagier abzuholen.

    Die einzigen, denen der ewige Wind nichts ausmacht, sind die "Gabians”, die großen Silbermöwen. Gerade haben sie Junge bekommen und sind besonders angriffslustig, wenn Wanderer ihre Brutkolonien durchqueren.
    Ich ducke mich ein paar Mal weg - die Möwen fliegen ihre Scheinangriffe immer von hinten, man spürt erst im letzten Moment den Luftzug, wenn die Vögel knapp über dem Kopf wieder hochziehen - und setzte mich dann auf einen Felsen, direkt am Wasser. Die Möwen beruhigen sich wieder, das Geschnatter der Altvögel wird leiser und ich kann deutlich die schrillen Pfiffe der Jungen hören, die um Futter betteln.

    Von den Inseln hat man den besten Blick auf Marseille: Ganz im Norden das Fischerdörfchen Estaque, wo Cezanne einige Zeit gelebt und gemalt hat, die sieben Kilometer lange Außenmole des Industriehafens, im Zentrum die versteckte Einfahrt in die natürliche Bucht des Alten Hafens, Notre Dame de la Garde mit ihrer von hier aus winzig wirkenden goldenen Marienstatue, die südlichen Stadteile auf den Felsen der Roucas Blancs, die künstlichen aufgeschütteten Strände des Prado und am südlichen Horizont, die Felsinsel Maïre. Zwischen Maïre und der Nachbarstadt Cassis erstreckt sich das Naturreservat der Calanques, tief eingeschnittene fjordähnliche Buchten, die ein Paradies für Wanderer, Kletterer und Taucher sind.

    "Marseille ist eine Stadt, die man nur vom Meer aus entdecken kann"

    …, schreibt Jean-Claude Izzo in seinem Kultkrimi "Total Kheops”.

    Es ist Abend geworden, der Mistral hat etwas nachgelassen, aber noch immer ist die Brandung so stark, dass sie rhythmisch die Luft aus einem Felsloch presst, wenn sich der Hohlraum darunter mit Wasser füllt. Es hört sich wie ein Blasebalg an. Der Atem des Meeres ...

    Hinter mir, der kleine Fischerhafen des Vallon des Auffes, der von einem Viadukt überquert wird, auf dem der Abendverkehr in Richtung Süden rollt. Das Café am Ende des Viadukts gibt es nicht mehr. "Les Flots bleus" - die blauen Wellen - ist der Modernisierung zum Opfer gefallen. Die abenteuerliche Konstruktion klebte wie ein Schwalbennest an der Küstenstraße. Wenn man direkt am Fenster saß, hatte man das Gefühl, zwischen Meer und Himmel zu schweben. Angeblich soll ein neues Café hier entstehen, aber den alten Charme der "Flots bleus” wird es nicht erreichen.

    Das ist das Drama: Marseille soll eine Touristen-und High Tech Metropole des Südens werden, aber die versteckten Plätze, die die Stadt, trotz oder gerade wegen der wirtschaftlichen Stagnation der letzten Jahrzehnte so liebenswert gemacht haben, verschwinden nach und nach.

    Zwei Jungs lassen einen Lenkdrachen am Strand des Prado in den Nachthimmel steigen. Vielleicht trainieren sie für das Windfest, das immer im Spätsommer an dieser Stelle veranstaltet wird.

    Wenn sich der große Deltaflügel in einer kunstvollen Schleife
    dem Boden nähert, hetzt ihr Hund los und versucht, den Drachen zwischen die Zähne zu kriegen. Einmal gelingt es ihm fast.
    Die Kiesstrände des Prado, die unter dem charismatischen früheren Bürgermeister Gaston Deferre aufgeschüttet wurden, sind ein beliebter Ausflugsort für Surfer, Jogger und Drachenspezialisten. Oder einfach nur für Menschen, die den weiten Horizont genießen.

    Im Norden sind die Lichter der Blauen Küste zu sehen, wo der Schweizer Weltreisende, Filmemacher und Autor Blaise Cendrars 1927 die Inspiration zu neuen Projekten schöpfte. Er mietete ein isoliertes Haus oberhalb des Fischerörtchens La Redonne und rückte als erstes den Schreibtisch vors Fenster. In "Signatur des Feuers” beschreibt er den Blick über die Bucht von Marseille:

    " ... in etwa zwanzig Kilometer Luftlinie entfernt, Marseille mit der Silhouette von Notre-Dame-de-la-Garde auf ihrem Felsen und noch weiter dahinter ein großer kubischer Block, der die Einfahrt in den kleinen Hafen von Cassis verdeckte. Hinter mir eine Steinarena zwischen senkrechten Wänden, die sich tagsüber weißglühend aufheizten, aus der nachts der Balsamgeruch der Kiefern und der Duft des Lavendels, des Rosmarins, der Myrte und des Ginsters wie aus einer Räucherpfanne aufstiegen. Zu meinen Füssen zeichnete sich über den funkelnden Wellen die festonierte Küste scharf im Gegenlicht ab - Halbinseln, Inselchen, bizarr geformte Strände, kleine Buchten, Geröll, glitschige Felsen, gezackte Klippen -, mit weißer Gischt besetzt, mit verkrüppelten Kiefern, mit einem Gewirr von Steineichen, Lentisken, Tamarisken, vielarmigen Kerzenkakteen gesäumt. Und vor mir die doppelte Sphäre des Himmels und des Meeres, und in der Mitte der Leuchtturm von Planier."