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Mythos Mittelalter

Mittelalterromane, Gauklerfeste, Rollenspiele - das Mittelalter hat heutzutage als Kulisse für Freizeitabenteuer Hochkonjunktur. Mit dem Leben in der Zeit von circa 500 bis 1500 nach Christus hat das Ganze jedoch wenig zu tun.

Von Ursula Storost | 19.11.2009
    Spätestens seit dem 80er-Jahre-Hit wissen wir alle, was die alten Rittersleut' so den ganzen Tag gemacht haben: In Rüstungen aus Eimern Wein gesoffen bis zum Umfallen. Der Arzt kam damals noch nicht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es gab auch die ritterlichen Helden, edel und tugendhaft, ebenso wie trutzige Bauern und fleißige Handwerker. Unsere Vorstellung vom Mittelalter - reine Erfindung der Romantik, des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sagt der Historiker Jan Ulrich Büttner von der Universität Bremen.

    "Eine geschlossene Welt, eine Welt mit einer gewissen Sicherheit. Man hat klare Konturen und natürlich hat es immer noch dieses Romantische. Man hat diese gotischen Kirchen, die Ritter, die Burgen, diese als heimelig empfundenen Städte, in denen man sicher nie hätte leben wollen, aber die einfach so als Kulisse immer noch sehr schön sind."

    Mittelalterliche Städtchen, Rottenburg wie Rothenburg, faszinieren und regen bis heute die Fantasie an. Kein Wunder, dass Romane, die im Mittelalter spielen sich bestens verkaufen. Besonders gefragt sind zarte Liebesgeschichten in grausamer mittelalterlicher Kulisse, weiß Jan Ulrich Büttner, der über solche Literatur arbeitet.

    "Das Mittelalter bietet viele Möglichkeiten für so Hintergrundfolien: bunte Jahrmärkte, Gaukler, andererseits auch gewalttätige Sachen, Kriegszüge, Hexenverbrennung. All so was, was nicht wirklich mittelalterlich ist, aber als mittelalterlich gilt."

    Sie sah einen keulenschwingenden Wegelagerer auf sich zurennen, dessen Gesicht durch ein ausgebranntes Auge verstümmelt war. Entsetzt hob sie den Arm, um den Schlag abzuwehren. Doch Christian hatte im letzten Augenblick den Angreifer mit einem wuchtigen Schwerthieb niedergestreckt.

    Das Mittelalter fasziniert eben auch - oder gerade deshalb, weil es gewalttätig ist, weiß der Mediävist Valentin Gröbner von der Universität Luzern.

    "Das heißt, das Mittelalter ist ein Gefühlszustand, keine vergangene Epoche. Und es ist natürlich kein Gefühlszustand, den irgendjemand vor 600 oder 1000 Jahren gehabt hat, sondern ein Gefühlszustand, den wir als Mittelalterbegeisterte, als Publikum heute haben."

    Viele Menschen in unserer arbeitsteiligen globalisierten Gesellschaft sind auf der Suche nach Echtheit, Authentizität, unmittelbaren Gefühlen. Das Konstrukt Mittelalter bietet eine überschaubare, klare und unkomplizierte Welt an. Seuchen, Hunger, Elend und Brutalität werden vom mittelalterbegeisterten Publikum als schmückendes Beiwerk mit in Kauf genommen.

    "Es will ja niemand das Mittelalter im Bereich der Geburtsheilkunde oder der Zahnmedizin wiederhaben, sondern, wenn vom Mittelalter die Rede ist, reden die Leute von Wurzeln, von Identität. Das ist aber etwas, was mit den wirklichen Ereignissen zwischen dem sechsten und dem Ende des 15. Jahrhunderts relativ wenig zu tun hat."

    Dass es die Mediävistik überhaupt gibt, hat mit der Identitätssuche der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert zu tun. Vor etwa 150 Jahren wurde diese Wissenschaft im Dienste der Nationalpädagogik eingeführt.

    "Das heißt, sie sollte eine brauchbare Vorgeschichte für jene unglaublich jungen Gebilde bereitstellen, die als Nationalstaaten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sich selbst eine Vorgeschichte zulegen mussten; italienische, kroatische, russische, schottische wie auch immer. Und das zweite Problem mit dieser Mittelalterforschung ist, dass ihr es nicht gelingt, ihre eigenen Ergebnisse in so griffige populäre, eingängige Stereotypen zu übersetzen, wie das die populären Unterhaltungsmedien in Bezug auf den Ritter, die Hexe geschafft haben."

    Auch die Nationalsozialisten setzten auf mittelalterliche Stereotype. Heidnisch-germanische Mythen als Belege für die uralten Wurzeln des arischen Volkes.

    "Die Nationalsozialisten waren davon überzeugt, dass der Bezug in die Vergangenheit nicht nur einer über Texte, sondern auch einer über Körper ist, über Fleisch. Sie haben in gewisser Weise an Abstammungsgeschichten und Genetik in einem sehr unmittelbaren Sinn geglaubt - an fleischgewordene Geschichte."

    Sie war zart, blond, blauäugig, mit einem Teint so duftig wie ein Himmelswölkchen. Kein Wunder, dass die Minnesänger landauf, landab ihre Schönheit rühmten.

    "Aber das Mittelalter war für die propagandistischen Bemühungen der NS als kirchlich und religiös geprägte Zeit mindestens ebenso sehr Hindernis wie Spielmaterial."

    Ohnehin ist es vermessen von dem Mittelalter zu sprechen, behauptet Valentin Gröbner, eigentlich müsste es die Mittelalter heißen.

    "Mittelalter ist seit dem 19. Jahrhundert eine der Chiffren, um die Geschichte Europas als ausschließlich lateinisch-christliche Geschichte schreiben zu können. Das ist natürlich Unfug, denn die Geschichte Europas ist mindestens ebenso sehr von griechisch-orthodoxen, von islamischen, von jüdischen Elementen geprägt. Und ich glaube, dass die Mittelalterforschung in der Zukunft, und sie tut das jetzt bereits in großem Umfang, diese Vielstimmigkeit und Heterogenität des Mittelalters zum Vorschein bringt."

    In diesem Sinne war das Mittelalter weder einsprachig noch ein-gläubig, weiß der Religionswissenschaftler Christoph Auffahrt von der Universität Bremen.

    "Das kann man sicher so erkennen, dass es nicht die eine Kirche gegeben hat. Das ist eine Utopie und eine Konstruktion. Man kann sehr schön erkennen, wie überall Unglauben im Mittelalter zu finden ist. Es gibt keine absolute Gläubigkeit, dass man alles glauben würde - und erst die Aufklärung hat dann hinter die Dinge geschaut und nach rationalen Gründen gesucht. Das ist keineswegs der Fall."

    Auch die Vorstellung, dass mittelalterliche Menschen ihren festgelegten Platz in einer kosmischen Ordnung hatten, entspricht nicht unbedingt den Tatsachen, sagt der Theologe. Es gab auch damals massenhaft Flüchtlinge und Migranten, die in ihre neue Umgebung integriert wurden. Die Mär von der göttlichen mittelalterlichen Ordnung wurde im 18. Jahrhundert vor allem von Gegnern der Französischen Revolution verbreitet.

    "Die Revolution hat die gute alte Ordnung zerstört und die identifizieren wir mit dem Mittelalter. In diesem Sinne ist dann die Idee aufgekommen, das Mittelalter sei die Ordnung schlechthin. Die gottgewollte Ordnung, in die jeder Mensch eingestellt ist. Dabei kann man deutlich sehen, das ist Propaganda, die dahintersteht, die die Französische Revolution infrage stellt, weil die eben die Einheit von Staat und Kirche in absolutistischen Monarchien infrage gestellt hat und zerstört hat."

    Das Wort vom finsteren Mittelalter geht angeblich auf den italienischen Geschichtsschreiber Francesco Petrarca zurück. Der lebte im 14. Jahrhundert - also noch im Mittelalter. Und er gilt dennoch als einer der Begründer des Humanismus.

    "Die Idee vom finsteren Mittelalter hängt mit Unbildung zusammen, ist also das Ungebildete, das nicht Latein kann bis auf wenige Küchenlateiner."

    Aber - soviel steht fest - das Mittelalter war auch in vielen anderen Bereichen dunkel. Krankheit, Angst und Unfreiheit sind keine Zustände, die wir uns heute zurückwünschen. Aber neugierig sind wir doch, sagt Christoph Auffahrt.

    "Ich wollte nicht unbedingt im Mittelalter noch leben. Aber ich glaube, einen Ausflug, einen Urlaub im Mittelalter zu machen, würde mir auch gefallen."