Mittwoch, 15. Mai 2024

Archiv


Mythos Mitterrand

Ferien in der Provence. Francois Mitterrand und die kleine Mazarine sitzen an einem großen Tisch und zeichnen. "Papa und ich, mit hochgekrempelten Ärmeln" – er zeichnet Gesichter im Profil "à la Daumier", sie versucht sich an seinem Gesicht, skizziert ihn, immer wieder: "Unförmige Papas, zerbrechliche Papas, monumentale Papas" – eine Szene aus dem neuen Buch von Mitterrands Tochter Mazarine Pingeot – Erinnerungen an den Vater.

Von Kathrin Hondl | 26.02.2005
    Wie das kleine Mädchen in dem Buch kritzeln derzeit viele in Frankreich mehr oder weniger unförmige, aber fast immer monumentale Bilder des Präsidenten, der das Land so lange wie kein anderer regiert hat: Das Bild eines alten, kultivierten, mysteriösen Monarchen im Tête-à-Tête mit dem Tod im Kinofilm – ein Blockbuster mit fast 200.000 Zuschauern allein in der ersten Woche. Das Bild eines liebevollen Papa Mitterrand im Buch seiner Tochter Mazarine Pingeot – ein programmierter Bestseller, der am Montag in einer Startauflage von 200.000 Exemplaren erscheint. Und: das Bild eines machtbewussten, paranoiden Herrschers im Elysée-Palast, der systematisch Telefongespräche von Journalisten, Schriftstellern und anderen potentiellen Staatsfeinden abhören ließ – nach über zehn Jahren Ermittlungen und monatelangen Verhandlungen wird im April das Urteil im Gerichtsprozess über diese haarsträubenden Lauschangriffe erwartet. Doch während dieser Mitterrand lediglich in den Gerichtsreportagen auf den hinteren Seiten der Gazetten wiederauflebt, beherrschen die anderen, der mysteriöse Kino-Monarch und der liebe Buch-Papa die Schlagzeilen des französischen Mediendschungels.

    Eine irritierende Mitterrand-Nostalgie – meint auch Ariane Chemin, Politikredakteurin bei Le Monde:


    Es ist frappierend, dass die Franzosen mit Mitterrand nicht fertig werden, sagt sie. Man müsste doch versuchen, ihn in seiner Komplexität zu sehen. Mitterrand, den Franzosen, den Europäer, den Staatsmann, der auf der internationalen Bühne bemerkenswerte Reden hielt, Mitterrand, der bei seinem Amtsantritt 1981 den Franzosen viele Freiheiten gab und dann der Mitterrand, der diese Freiheiten wieder genommen hat. Aber immer fehlt die Distanz, die nötig wäre, diesen doppelgesichtigen Mitterrand zu erzählen.

    Mit Pathos feiert da etwa Claude Imbert, Leitartikler des Politik-Magazins Le Point den – Zitat – "schönen evozierenden Film" und vorab auch schon einmal das "Buch von Mazarine, die seine heimliche Tochter war". Mitterrand sei der "Roman eines Lebens, der sich mit dem Roman der Nation vereint". Er habe sich nun "im nationalen Gedächtnis aufgerichtet wie eine Eiche im Druidenwald des Zauberers Merlin". Und wie viele politische Kommentatoren in diesen Tagen teilt uns Monsieur Imbert auch noch eine ganz persönliche Erinnerung an den romanesken Präsidenten mit – wie Mitterrand ihn einmal hinter seinen Schreibtisch bat, um mit ihm ein Gedicht von Tristan Derème zu lesen…

    "Angesichts der Mittelmäßigkeit des politischen Lebens, fehlt er uns entsetzlich", seufzte letzte Woche ein sozialistischer Parlamentarier. Und selbst die politischen Feinde von einst schwelgen in nostalgischer Bewunderung und Erinnerung an Mitterrands Eloquenz und, so der rechtskonservative Philippe de Villiers: seine Wort-Ästhetik und kulturelle Substanz.

    Nur eine Generation Franzosen scheint dem Mythos Mitterrand heute nicht mehr erlegen – die Generation der 40-jährigen, die Generation, die man in den 80er Jahren die "Generation Mitterrand" nannte. Ariane Chemin:

    Die heute 40-Jährigen haben mehr als alle anderen an Mitterrand geglaubt. Als er gewählt wurde, waren sie 20. Zu 80 Prozent hatten sie für ihn gestimmt. Ich gehöre auch zu dieser Generation, die damals auf der Place de la Bastille gefeiert hat. Dann haben wir aber auch hautnah die ganzen Affairen erlebt. Eine lange, schwere Desillusion – uns kann man heute mit Mitterrand nicht mehr kommen. Als historische Person ist er sicher faszinierend, aber bewundernswert bestimmt nicht.

    Doch in Frankreich werden sowohl die Medien als auch die Politik von einer älteren Generation beherrscht. Unsere Führungselite ist älter als in anderen europäischen Ländern. Die aktuelle Mitterrand-Nostalgie ist die Nostalgie dieser Elite.

    Eine ergraute Führungselite, die in ihrem nostalgischen Eifer seltsam kindlich wirkt – wie das kleine Mädchen in der Provence, das in Mazarine Pingeots Buch seinen Papa malt. "Unförmige Papas, zerbrechliche Papas, monumentale Papas". Papa Mitterrand.