Donnerstag, 28. März 2024

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Mythos Monte Verità
Veganismus und Nacktheit als Befreiungsprogramm

Die Künstler, die zwischen 1900 und 1920 auf dem Monte Verità alternative Lebensmodelle erprobten, waren keine weltfremden Aussteiger. Sie versuchten allerdings, der beschleunigten Moderne etwas entgegenzusetzen. Ein lebensreformerisches Projekt, das auch heute noch interessant ist.

Von Thomas Migge | 30.11.2017
    Historisches Foto vom einstigen zentralen Gebäude der Aussteiger-Kolonie auf dem Monte Verità am Lago Maggiore (undatiert).
    Locarno - Aussteiger-Kolonie auf dem Monte Verita (picture alliance / dpa / Foto: Ticino Turismo)
    Eine Gruppe von Frauen tanzt. Sie springen in die Höhe und werfen dabei ihre Arme in die Luft. Ein orgiastisch anmutender Tanz, der die Seele und den Körper von den Zwangskorsetten der modernen Gesellschaft befreien soll.
    Die Szene wurde auf dem Monte Verità bei Ascona im Tessin aufgenommen. Im Jahr 1918, als der ungarische Tänzer und Choreograph Rudolf von Laban dort seine berühmten Sommerkurse veranstaltete. Tanz und Bewegung sollten nach Laban einen neuen Menschen schaffen, den "Orgiastos". Der Ausdruckstanz Labans wie auch der von der Choreographin Mary Wigman war nur eine Seite eines faszinierenden Experiments, das zwischen 1900 und 1920 seinen Höhepunkt erlebte, auf dem 320 Meter hohen Berg Monte Verità. Dieses Experiment war das Thema der zweitätigen Tagung in Rom. Dabei wurde deutlich, dass die Bedeutung des Monte Verità etwa in Sachen Ausdruckstanz nicht genug gewürdigt werden kann. Die Theaterwissenschaftlerin Silvia Carandini:
    "Als Tänzer wie Laban und Wigman auf den Monte Verità kamen, begannen sie den Tanz von der Musik zu lösen, reinen Ausdruckstanz zu schaffen. Was dort in Sachen Tanz entwickelt wurde, wurde fundamental für die Evolution des Tanzes, den beide später in Deutschland propagierten."
    Aussteigergemeinschaft wissenschaftlich wenig erforscht
    Die Veranstaltung in Rom, an der deutsche, schweizer und italienische Wissenschaftler teilnahmen, verdeutlichte die ganze Fülle an Richtungen und Ideen, die in jenen Jahren auf dem Gebiet des Sanatoriums des Monte Verità ausprobiert wurden. Von Künstlern, Schriftstellern, Tänzern, Philosophen und allen nur denkbaren Anhängern alternativer Lebensbewegungen.
    Denn das Thema Monte Verità ist wissenschaftlich längst noch nicht ausgereizt. Weder in Deutschland, wo die Erforschung lebensreformerischer Bewegungen erst seit rund 15 Jahren für Historiker und Soziologen interessant ist, noch in der Schweiz, wo man, so der Historiker Stefan Rindlisbacher von der Universitè Freiburg, erst seit kurzem mit der Erforschung der schweizerischen Lebensreformbewegung begonnen habe. Sein Vortrag stellte den Monte Verità in Bezug zu anderen ähnlichen Projekten in der Schweiz:
    "Der Monte Verità war ein naturheilkundliches Sanatorium von vielen seiner Zeit. Als Siedlung und Kommune war das nichts Einzigartiges, aber es sind dann halt mit der Zeit viele Mythen dort aufgebaut worden."
    Heute aktueller denn je
    Mythen, die Wissenschaftler immer noch faszinieren. Vor allem heute, meint Gabriele Guerra, Professor für deutsche Literatur in Rom und Mitorganisator der Tagung: "Das ist glaube ich deswegen wichtig, weil Monte Verità für uns Menschen des 21. Jahrhunderts viele interessante Anhaltspunkte zum neuen Leben anbietet. Deswegen finde ich hat Monte Verità immer Hochkonjunktur".
    Vor allem wegen des Versuchs anders, bewusster zu leben – ein Thema, das ja auch in der Gegenwart eine große Bedeutung hat. Die vielen Lebensratgeber sind ein Beispiel für diese Sehnsucht nach tieferem Lebensbewusstsein. Für die deutsche Historikerin Carolin Kosuch, die am Deutschen Historischen Institut in Rom forscht, ist das Beispiel Monte Verità schon deshalb interessant, weil man die Lebenreformer im Tessin nicht einfach als durchgeknallte Aussteiger abtun könne: "Die Gründer und Siedler und dort Kurenden erwiesen sich nur in ihrer Minderheit als Aussteiger. Diese Aussteiger waren Aussteiger auf Zeit."
    Keine weltabgewandten Reformer
    Die Neues probieren wollten, die den negativ empfundenen Seiten einer nervös machenden beschleunigten Moderne etwas Positives entgegensetzen wollten. Kosuch sprach in diesem Zusammenhang von "konkurrierenden Befreiungsprogrammen", wie etwa Anarchismus und Vegetarismus. Die Historikerin wies in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die Reformer alles andere als weltfremd waren:
    "Die Santoriumsbetreiber, ihre Gäste und Besucher des Hügels waren moderne Menschen, überwiegend Bürger, deren selektives Aussteigertum nur denkbar war, eben weil die Verfasstheit, die Infrastruktur, die Ökonomie, die Medien, die Versorgungswege der Moderne existierten."
    Deshalb nutze man auch die technischen Errungenschaften der viel kritisierten Moderne. Genau in diesem Sinn, darin waren sich alle Teilnehmer der internationalen Veranstaltung zum Monte Verità einig, ist dieses lebensreformerische Projekt auch heute interessant - nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch als historischer Spiegel für heutige Lebensreformer, die sich und ihre Gesellschaft nicht von außen, sondern von innen her verändern wollen.